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Titel
Politische Kultur. Forschungsstand und Forschungsperspektiven


Herausgeber
Salzborn, Samuel
Reihe
Politische Kulturforschung 1
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Leonhard, Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg

Um die Politische Kulturforschung war es in den letzten Jahren still geworden. Ihre letzte Hochphase lag in den 1990er-Jahren, als die Frage nach den Bedingungen einer erfolgreichen demokratischen Konsolidierung in Ostdeutschland und in den anderen postsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas auf der politischen Tagesordnung stand und in den Sozialwissenschaften entsprechende Aufmerksamkeit erfuhr. Danach schien das Interesse für Fragen der kulturellen Verankerung politischer Gemeinschaften nachgelassen zu haben. Folgt man dem Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Samuel Salzborn, gilt diese Feststellung zumindest für die politikwissenschaftliche Forschung im englischen Sprachraum jedoch nicht (mehr). Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sei eine Renaissance von politischer Kultur als Konzept für die Erforschung politischer Konflikte und als Erklärungsansatz für die Stabilität bzw. Instabilität politischer Ordnungen zu beobachten. Vor diesem Hintergrund zielt der hier zu besprechende Band, der den Auftakt einer neuen, ebenfalls von Samuel Salzborn herausgegebenen Buchreihe zur Politischen Kulturforschung darstellt, darauf ab, eine „systematische Standortbestimmung“ der Politischen Kulturforschung in der Bundesrepublik vorzunehmen sowie „Perspektiven für die weitere Forschung“ aufzuzeigen (S. 9). Im Zentrum stehen dabei Ansätze aus der Politikwissenschaft, die durch Perspektiven aus benachbarten Disziplinen ergänzt werden sollen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Einen planmäßigen Überblick zum Stand der Politischen Kulturforschung liefert die Lektüre der neun Aufsätze nicht. Trotzdem erhält man als Leser/in Einblicke, welche unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Vorstellungen von politischer Kultur oder besser: von der kulturellen Dimension des Politischen in den Politik- und Sozialwissenschaften kursieren. Dies geschieht allerdings eher indirekt. Denn die Spannungslinien, die zwischen den im Buch vertretenen Positionen bestehen, werden weder in der Einleitung des Herausgebers noch in den anderen Beiträgen offen thematisiert – sieht man einmal von Sylvia Greiffenhagens Aufsatz ab. Greiffenhagen liefert einen allgemeinen Abriss zur Entwicklung der Politischen Kulturforschung in der Bundesrepublik. Hierfür geht sie zunächst auf die Forschungslinie ein, die sich an der „Civic Culture“-Studie von Almond und Verba orientiert1 und die hierzulande lange Zeit den Mainstream der Politischen Kulturforschung bildete, erwähnt jedoch auch die an diesem Ansatz geübte Kritik. Als Beispiel für eine alternative Konzeptualisierung von politischer Kultur wird allerdings lediglich der 20 Jahre alte Vorschlag von Karl Rohe genannt, nicht nur die durch quantitative Umfragen ermittelbaren politischen Einstellungen der Bürger als Gegenstand der Politischen Kulturforschung zu fassen, sondern auch die von diesen mit Blick auf die Welt des Politischen vertretenen Vorstellungen.2 Weitere Ansätze, die in den letzten zehn Jahren aus sozialwissenschaftlicher oder kulturgeschichtlicher Perspektive entwickelt wurden3, finden dagegen keine Berücksichtigung. Immerhin weist Greiffenhagen zu Recht darauf hin, dass die um das Konzept der politischen Kultur bereits vor zwei Jahrzehnten ausgetragene Debatte nicht lediglich auf unterschiedliche methodische Verfahren zurückzuführen ist, sondern grundlegende theoretisch-konzeptionelle Fragen betrifft (S. 24).

Demgegenüber plädiert Salzborn in seinem programmatischen, speziell auf die vergleichende Analyse politischer Kulturen abzielenden Beitrag zwar für einen methodisch wie konzeptionell breiten Ansatz, um die „Heterogenität und Widersprüchlichkeit“ der politischen und gesellschaftlichen „Totalität der Moderne“ angemessen erfassen zu können (S. 53). Für eine Konkretisierung dieser Idee greift er aber letztlich doch wieder auf eine Entwicklungstypologie zurück, die auf einem eng gefassten Verständnis von politischer Kultur in der „Civic Culture“-Tradition beruht.

Die damit angesprochene zentrale Frage, was „politische Kultur“ und somit überhaupt Gegenstand Politischer Kulturforschung ist, zieht sich wie ein (unsichtbarer) roter Faden durch das Buch und wird von den Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlich aufgegriffen und beantwortet. Drei verschiedene Zugänge lassen sich neben den beiden genannten Überblicksdarstellungen ausmachen.

Im ersten Fall wird der Gegenstand empirisch bestimmt; im Mittelpunkt der Betrachtung stehen konkrete empirische Befunde, die als Einflussfaktoren für bzw. als Ausdrucksformen von politischer Kultur diskutiert werden. So analysiert Anton Pelinka den Zusammenhang zwischen grundlegenden politischen Konfliktlinien (cleaveages) und dem Verhalten der politischen Eliten, während Ursula Birsl den Wechselwirkungen zwischen den innerhalb der Europäischen Union vorherrschenden nationalen Staatsbürgerschaftsregimen und der Unterstützung für Prinzipien und Institutionen der Demokratie seitens der in diesen Staaten lebenden Menschen nachgeht.

Der zweite Zugang ist normativer Art. Ausgehend von einer bestimmten Vorstellung, wie eine demokratische politische Kultur idealerweise auszusehen habe, werden die hierfür notwendigen Bedingungen beschrieben und/oder Defizite der bestehenden realen Verhältnisse aufgezeigt. Hans-Joachim Busch diskutiert in diesem Sinne aus der Perspektive der politischen Psychologie (und somit in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Freud, Adorno und Mitscherlich) die Voraussetzungen für die Ausbildung demokratischer Persönlichkeitsstrukturen auf der individuellen Ebene, während Christine Kulke aus Sicht der Geschlechterforschung ein Plädoyer für die „Etablierung einer weiblichen politischen Kultur“ sowie für eine „globale Entwicklung geschlechterdemokratisch ausgehandelte[r] Arrangements“ hält (S. 143).

Drittens sind Beiträge zu nennen, die politische Kultur weniger als ein eigenes Forschungsgebiet der Politik- und Sozialwissenschaften verstehen, sondern in erster Linie als Frage nach den kulturellen Grundlagen von Politik, und die versuchen, Brücken zwischen politik- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen zu schlagen.4 Entsprechend beschreibt Steffen Hagemann, auf welche Weise kulturtheoretische Ansätze Eingang in den politikwissenschaftlichen Forschungsbereich der Internationalen Beziehungen gefunden haben. Benjamin Drechsel geht in seinem Beitrag über die Verflechtung von politischer Kultur und visueller Politik noch einen Schritt weiter, indem er auf der Grundlage eines instruktiven Literaturüberblicks zu politischer Ikonographie bzw. visueller Politik ein eigenes Konzept zur Erfassung der „bildhaften Dimensionen symbolischer Politik“ vorstellt (S. 165). Wolfgang Bergem greift schließlich die bekannten Ansätze der kulturwissenschaftlichen Erinnerungs- und Gedächtnisforschung auf, um Bedingungen der kollektiven Verarbeitung geschichtlicher Erfahrungen als Ausdrucksformen von politischer Kultur zu erörtern.

Während der Begriff „politische Kultur“ in den ersten Beiträgen noch eine zentrale Rolle spielt, taucht er bei den drei zuletzt genannten Autoren außer in der Überschrift kaum noch selbst im Text auf. Die theoretisch-konzeptionellen Differenzen zwischen den im Buch vertretenen Positionen zum Verhältnis von Politik und Kultur lassen sich nicht zuletzt durch diesen Punkt illustrieren. Dass ein Sammelband eine große Bandbreite von Ansätzen zum gleichen Thema umfasst, kann durchaus ein Vorteil sein – sofern die Unterschiede in irgendeiner Weise expliziert und möglichst auch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das ist im vorliegenden Band leider nicht der Fall. Der in der Einleitung formulierten Ankündigung, neue Forschungsperspektiven zu formulieren, kommen einige der Autoren nach. Allerdings fehlt dem Band insgesamt die übergreifende und ordnende Diskussion, die erforderlich wäre, um den Anspruch einer systematischen Standortbestimmung einzulösen. Wohin sich die zukünftige Forschung zur politischen Kultur entwickeln wird oder vielleicht entwickeln sollte, lässt der Sammelband offen. Insbesondere bleibt ungeklärt, ob sich die Lager der Politischen Kulturforschung der „Civic Culture“-Tradition und der neuen, kulturwissenschaftlich inspirierten Politikforschung künftig eher aufeinander zu- oder voneinander wegbewegen werden. Bislang scheinen sie in wechselseitiger Ignoranz nebeneinander herzulaufen. Die Chance, daran etwas zu ändern, wurde auch durch den vorliegenden Band nicht ergriffen.

Historikerinnen und Historiker, die sich aus kulturgeschichtlicher Perspektive mit politischen Phänomenen beschäftigen, werden vor allem in den Arbeiten der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Politikforschung gemeinsame Anknüpfungspunkte entdecken. Eine Auseinandersetzung mit den Ansätzen der ‚alten‘ Politischen Kulturforschung könnte sich jedoch ebenfalls als lohnend erweisen, um aus den für Demokratie und Demokratisierungsprozesse aufgezeigten Handlungs- und Wirkungszusammenhängen (zum Beispiel im Beitrag von Ursula Birsl) Anregungen für eine historische Untersuchung von Transformationsgesellschaften zu gewinnen.

Anmerkungen:
1 Gabriel A. Almond / Sidney Verba, Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Boston 1963.
2 Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der Politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321-346; ders., Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermayer / Klaus von Beyme (Hrsg.), Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1-21.
3 Z.B. Birgit Schwelling, Politische Kulturforschung als kultureller Blick auf das Politische, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 11 (2001), S. 601-629; dies., Der kulturelle Blick auf politische Phänomene. Theorien, Methoden, Problemstellungen, in: dies. (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft, Wiesbaden 2004, S. 11-29; Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1999, Opladen 2002; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005.
4 Dies entspricht in weiten Teilen dem Ansatz des Bandes: Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft, Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004.

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