Cover
Titel
Murder without Hatred. Estonians and the Holocaust


Autor(en)
Weiss-Wendt, Anton
Reihe
Religion, Theology and the Holocaust
Erschienen
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
35,99 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Felder, Nordost-Institut Lüneburg

Im Zusammenhang mit dem Holocaust wurde in den letzten Jahren viel über einen „europäischen“ Anteil daran diskutiert. Hierbei richtete sich die Aufmerksamkeit oft nach Osteuropa, wo die Vernichtungsaktionen unter Mithilfe Einheimischer stattgefunden hatten. Die Zahl der Arbeiten, die sich mit den Motiven derjenigen Osteuropäer auseinandersetzen, die den Holocaust unterstützten, ist bisher jedoch gering. So ist das vorliegende Buch äußerst begrüßenswert. Zum einen schildert es erstmals ausführlich den Ablauf des Judenmordes in Estland, zum anderen will Anton Weiss-Wendt die Gründe und Motivationen der Einheimischen klären, die sich am Holocaust beteiligt hatten. Estland stand bisher nicht im Focus der Holocaustforschung. In der Republik Estland mit etwa 1,3 Millionen Einwohnern lebten vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 4.000 Juden, von denen ein Großteil 1941 in die Sowjetunion flüchten konnte. Etwa 900 bis 1.000 estnische Juden wurden ermordet. Hinzu kommen etwa 7.000 Juden aus Deutschland, Tschechien und anderen europäischen Ländern. Weiss-Wendt schätzt die Opfer nationalsozialistischer Gewalt insgesamt auf 31.000 (S. 351).

Weiss-Wendt beginnt seine Arbeit mit einer Übersicht zur estnischen Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg. Darüber hinaus widmet er sich der Frage nach dem dortigen Antisemitismus und Formen von Judenfeindschaft vor 1941. Weiss-Wendt kommt zu dem Schluss, dass es einen starken, exklusiven Nationalismus gab, rassenbiologische Vorstellungen dagegen nicht verbreitet waren. Ken Kalling konnte hingegen zeigen, dass sehr wohl Bestrebungen existierten, „Vermischung“ mit anderen Ethnien gering zu halten, wenn auch „kulturell“ argumentiert wurde. Zudem ging man staatlicherseits in den 1930er-Jahren daran, die Nation mittels eines nationalen, eugenischen Projekts biologisch zu formen.1 Weiss-Wendt kann Formen von Antisemitismus vor allem am rechten politischen Spektrum nachweisen. Gleichwohl wird deutlich, dass Antisemitismus die estnische Gesellschaft weit mehr durchdrang, als es zuletzt etwa Andres Kasekamp dargestellt hat.2 Insgesamt macht Weiss-Wendt eine relative Nähe und wirtschaftliche Abhängigkeit Estlands vom Deutschen Reich aus, die einerseits einer unreflektierten Haltung gegenüber der NS-Ideologie entstamme, aber auch aus einer Position des extremen Antikommunismus heraus zu verstehen sei. Katalysiert durch den sowjetischen Terror und die Deportationen vom Juni 1941, kam es zu einer Hochphase des Antikommunismus, der sich in einer breiten Partisanenbewegung, dem so genannten „Sommerkrieg“ gegen die abziehende Rote Armee und Racheaktionen gegen tatsächliche und vermeintliche Anhänger des Stalinismus entlud.

Im Vergleich zu Litauen und Lettland wurde der nördlichste der drei baltischen Staaten erst relativ spät von der Wehrmacht erobert: die Kämpfe um Tallinn und den Nordosten des Landes zogen sich bis Ende August 1941 hin. Somit konnten die Nationalsozialisten bei ihrer Besatzung bereits auf Erfahrungen in den anderen Ländern zurückgreifen. Weiss-Wendt stellt heraus, dass sich der Ablauf des Holocausts in Estland signifikant von den Ereignissen in den beiden anderen baltischen Staaten unterschied. In Estland fanden weder tatsächliche oder inszenierte Pogrome statt, die die Mordaktionen als spontane Gewalttaten von Einheimischen erscheinen lassen sollten, noch wurden Juden in Ghettos verbracht. Tatsächlich wurden die verbliebenen estnischen Juden von der Sicherheitspolizei im Spätsommer und Herbst 1941 verhaftet und sukzessive mit anderen Verdächtigen als „Kommunisten“ im Rahmen von Massenaktionen erschossen. Bereits im Januar 1942 konnte die Sicherheitspolizei nach Berlin melden, dass Estland „judenrein“ sei. Eine Besonderheit in Estland war, dass jeder Jude einem Untersuchungsverfahren unterzogen wurde, in dem seine „Schuld“, das heißt die Kollaboration mit dem bzw. Unterstützung des sowjetischen Regimes, bewiesen werden sollte. Weiss-Wendt gewährt Einblick in diese zynischen Verfahren, die immer mit dem Todesurteil endeten. Zudem wurden Juden aus Deutschland, Ungarn, der „Rest-Tschechei“ sowie zentral- und ostmitteleuropäischen Staaten seit Ende 1941 nach Estland deportiert und an offenen Gruben erschossen. Die wenigen Überlebenden mussten in der für die deutsche Marine kriegswichtige Ölschieferindustrie Zwangsarbeit leisten. Ausführlich schildert Weiss-Wendt den Alltag in den Arbeitslagern in Nordestland und dokumentiert die Mordaktionen gegen Ende der deutschen Besatzung.

Für den Autor ist aber nicht nur der lokale Verlauf des Holocausts singulär. Er sieht in der „Kollaboration“ der einheimischen, estnischen Bevölkerung ebenfalls ein einmaliges Phänomen. Esten seien „perfekte Kollaborateure“ (S. 343) gewesen. Für die Besatzungszeit kann er keinerlei nennenswerten Widerstand ausmachen. Gründe hierfür sieht er im antikommunistischen Selbstverständnis als Teil der estnischen Identität seit der Entstehung des bürgerlichen estnischen Staates. Der Antikommunismus wurde verstärkt durch den Roten Terror der sowjetischen Besatzer, auch wenn Weiss-Wendt dessen Wirkung für überschätzt hält.

Die Nationalsozialisten sahen die Esten nicht nur als rassisch wertvoll und vertrauenswürdig an, sondern nutzten auch die Sympathien der Bevölkerung. Laut Weiss-Wendt ist der Antikommunismus so stark gewesen, dass Antisemitismus als Motiv zur Mobilisierung in Estland – wie es in Lettland und Litauen massiv geschah – von den Nationalsozialisten nicht eingesetzt zu werden brauchte. Tatsächlich ging die Zusammenarbeit so weit, dass die estnische Sicherheitspolizei völlig autonom arbeiten und Verhaftungen, ja sogar Erschießungen eigenständig durchführen konnte. In keinem anderen osteuropäischen Land ließ die deutsche Sicherheitspolizei Einheimischen ähnliche Freiheiten. Esten verhafteten die jüdische Bevölkerung und „verurteilten“ sie nach einem Strafverfahren zum Tode. Auch die Erschießungen wurden meist von estnischem Personal durchgeführt. Antisemitismus sei hierbei kaum ein Beweggrund gewesen; Weiss-Wendt sieht die Antwort vielmehr in psychologischen Erklärungsmustern und in opportunistischen Motiven: mittels Rache an vermeintlichen sowjetischen Kollaborateuren verarbeitete man das kollektive Trauma der nationalen „Vergewaltigung“ – der sowjetischen Besatzung. Die Ermordung der Juden war ein bürokratischer Akt, der allein aus Opportunismus erfolgt sei. Hauptaufgabe der estnischen Polizei war freilich die Jagd auf tatsächliche und vermeintliche Unterstützer des sowjetischen Regimes. Nach Weiss-Wendt hat sich diese Menschenjagd in Folge einer „multiplen Kollaboration“ (S. 100) noch verschärft. So seien tatsächliche Unterstützer des Sowjetregimes unerkannt in die Sicherheitsorgane eingetreten und hätten einen besonderes Engagement bei der Verfolgung von vermeintlichen Kommunisten entwickelt.

Weiss-Wendts Schilderungen sind gelegentlich deskriptiv, was der Bedeutung des Themas geschuldet ist. Gleichwohl fragt man sich, ob man wirklich so umfangreich die Martyrologie der Verhörprotokolle von jüdischen Opfern wiedergeben muss. Die immer gleichen, wenn auch furchtbaren Schilderungen verschiedener Zwangsarbeitslager und Außenlager des Komplexes der Ölschieferproduktion haben zwar den Anspruch einer umfassenden Dokumentation – für die Analyse hätte freilich das Herausgreifen von einigen Beispielen gereicht. Indem der Schwerpunkt des Buches dem Holocaust gewidmet ist, wird das Buch seinem Titel nicht gerecht. Die estnische Bevölkerung steht nicht im Mittelpunkt der Arbeit. So erscheinen Weiss-Wendts Thesen der „perfekten Kollaboration“ sehr holzschnittartig, einseitig und unzureichend belegt. Die Behauptung, Antisemitismus habe keine Rolle für die estnischen Täter gespielt und sei auch von den deutschen Besatzern nicht propagiert worden, scheint, zumindest für den zweiten Teil, fragwürdig. Weiss-Wendt bleibt die Antwort schuldig, ob er die Tagespresse auf antisemitische Propaganda hin untersucht hat, die beispielsweise in Lettland massiv verbreitet wurde.3 Auch die Behauptung, es habe so gut wie keinen antideutschen Widerstand gegeben, scheint nicht plausibel. So liquidierte die Sicherheitspolizei im Frühjahr 1944 ein estnisch-lettisch-litauisches Netzwerk. Immer wieder meldete der Sicherheitsdienst Fälle von widerständigem Verhalten wie etwa der Flucht vor dem Wehrdienst.4 Bei Ruth Bettina Birn, die bereits 2006 über die Sicherheitspolizei in Estland und über die Autonomie der estnischen Polizei ausführlich berichtet hatte, hätte Weiss-Wendt nachlesen können, dass es auch in der estnischen Polizei mitunter Bedenken angesichts der nationalsozialistischen Politik gegenüber der Juden gab.5 Es ist fraglich, ob die Untersuchung von Weiss-Wendt angesichts der Grundkenntnisse über die Sicherheitspolizei Rückschlüsse auf die gesamte estnische Gesellschaft erlaubt. Das Buch, wohl zukünftig ein Standardwerk zum Holocaust in Estland, hat zur Frage der deutsch-estnischen Interaktion wenig Neues zu bieten. Eine ausgewogene und ausführliche Studie zur estnischen „Kollaboration“ bzw. der estnischen Gesellschaft in den Jahren 1940 bis 1945 unter sowjetischer und nationalsozialistischer Besatzung und deren Wechselwirkungen steht noch aus.

Anmerkungen:
1 Ken Kalling, The Self-Perception of a Small Nation. The Reception of Eugenics in Interwar Estonia, in: Marius Turda / Paul Weindling (Hrsg.), Blood and Homeland. Eugenics and Racial Nationalism in Central Southeast Europe 1900-1940, Budapest 2007, S. 253-262.
2 Andres Kasekamp, The Radical Right in Interwar Estonia, Basingstoke 2000.
3 Björn Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940-1946, Paderborn u.a. 2009.
4 Vgl. etwa: Lettisches historisches Staatsarchiv, P-1026/1/7, Berichte des Befehlshabers der Sicherheitspolizei (BdS) im Ostland zu Widerstand im Baltikum 1943.
5 Ruth Bettina Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941-1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten, Paderborn u.a. 2006.

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