M. Clauss: Kriegsniederlagen im Mittelalter

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Titel
Kriegsniederlagen im Mittellalter. Darstellung – Deutung – Bewältigung


Autor(en)
Clauss, Martin
Reihe
Krieg in der Geschichte 54
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Prietzel, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Präzise drückt der Titel dieser Studie aus, was in ihr behandelt wird, und der Untertitel umreißt treffend das methodische Vorgehen. Und doch könnten Titel und Untertitel womöglich Missverständnisse hervorrufen, weil sich der souveräne Ansatz und die reichen Erträge dieses Werks einer knappen Erfassung in Schlagworten entziehen. Es geht hier nicht nur, wie man vielleicht denken könnte, um ein spezielles Thema der Kriegs- oder Militärgeschichte und das Werk sollte auch nicht nur Mediävisten interessieren. Denn zwar erbringt diese Studie viel Neues über militärische Niederlagen im Mittelalter – genauer: über den Umgang der Historiographie mit ihnen –, doch noch wichtiger ist, dass anhand dieses Themas beispielhaft neue Ansätze und Verfahren der Interpretation von Quellen angewendet werden.

In der Einleitung umreißt Clauss präzise die Fragestellung. Sein Interesse an der Erforschung von militärischen Niederlagen ist nicht zuletzt von Überlegungen Reinhart Kosellecks veranlasst. Diesem zufolge seien die Verlierer gezwungen, ihre Maßstäbe und Handlungen in Frage zu stellen, Erklärungen zu finden, Reaktionen zu erwägen. Insofern sei die Niederlage für sie ertragreich, während sich für die Sieger kein Anlass zu intellektuellen Anstrengungen oder zu faktischen Veränderungen biete. Ob diese These für das Mittelalter zutrifft, möchte Clauss überprüfen, und zwar eingegrenzt auf die militärische Niederlage und deren Behandlung in der mittelalterlichen Historiographie. Vor allem aber ist die Historiographie selbst Gegenstand seines Interesses, denn es geht darum, am Beispiel der Niederlagen genauer zu untersuchen, wie aus Informationen über ein Geschehen durch Selektion, Verzerrungen, Darstellungskonventionen und so fort ein historiographischer Text entsteht. Dies wiederum soll es erlauben, die Aussagekraft dieser Texte genauer einzuschätzen.

Die eigentliche Untersuchung gliedert sich in drei große Kapitel. Ihre Titel bestehen jeweils in einem der Begriffe, die im Untertitel des Werks genannt sind. Das erste und längste Kapitel untersucht dementsprechend die „Darstellung“ von Niederlagen in der Historiographie. Sorgfältig und klar erörtert Clauss die methodischen Grundlagen für sein Vorgehen. Überlegungen des Slawisten und Literaturtheoretikers Wolf Schmid entwickelt er zu einem fünfstufigen Modell weiter, das die Analyse historiographischer Schilderungen in narratologischer Hinsicht ermöglichen soll und dazu die Genese eines Werks nachzuzeichnen sucht, beginnend mit den äußerlich wahrnehmbaren Abläufen (der „Wirklichkeit“) bis zur „Präsentation der Erzählung“. Ferner identifiziert Clauss „morphologische Elemente“, die sich in Beschreibungen von Niederlagen immer wieder finden, zum Beispiel Aussagen über Anlass, Ablauf, Zeit und Ort des Kampfes sowie über Gründe für die Niederlage. Schließlich wendet er sich „rhetorischen Motiven“ zu. Damit meint er „kleine Szenen“, die „dem Leser eine bestimmte Aussage vermitteln (sollen), ohne diese in direkten – sozusagen plumpen – Worten auszudrücken“ (S. 97). Oft wirkten solche Szenen übertrieben und unrealistisch, doch fassten sie die Zeitgenossen wohl im Allgemeinen nicht wörtlich auf, sondern als rhetorisches Mittel der Darstellung. Gemeint sind zum Beispiel Behauptungen, dass ein einzelner Kämpfer sich mehrfach durch das ganze Heere gekämpft habe oder dass unter einem Heerführer ein oder gar mehrere Pferde getötet worden seien. Aufbauend auf diesen grundsätzlichen Überlegungen analysiert Clauss jeweils umsichtig Schilderungen von Niederlagen und zieht daraus weitere Schlüsse. Es zeigt sich, dass die Autoren für ihre Schilderungen auf eine breite Palette von Kunstgriffen und Darstellungsmustern zurückgriffen. Gerade das aber heißt, dass ihren Schilderungen nicht ohne Weiteres zu trauen ist, dass sie vielmehr eher den Erwartungen der Adressaten als dem Bestreben nach Wahrheit verpflichtet sind.

Im zweiten Kapitel, „Deutung“ überschrieben, geht es um die Erklärungen, welche die Autoren der Quellen für den Misserfolg ihrer Partei angaben. Im Mittelalter (wie auch in anderen Zeiten) konnten für eine Niederlage viele mehr oder weniger plausibler Gründe angegeben werden (Verrat eigener Leute, Hinterlist des Feindes, schlechtes Wetter und so sofort). Clauss beschränkt sich jedoch nicht darauf, solche (Pseudo-)Gründe zusammenzustellen, sondern führt diese Passagen stets konsequent auf Darstellungsmuster zurück und bettet sie in die Erzählabsichten des Autors ein. So erweist sich, dass auch Erklärungsversuche, die auf den ersten Blick ein Geschehen unvoreingenommen zu untersuchen scheinen, letztlich auf verbreiteten Darstellungsmustern fußen und damit keineswegs eine nüchterne Analyse, sondern lediglich eine weniger offensichtliche Art von Exkulpation der Verlierer beabsichtigen.

Der „Bewältigung“ von Niederlagen gilt das dritte Kapitel. Dabei definiert Clauss „Bewältigung“ literaturtheoretisch als Beendigung einer „Störung der Ordnung und der Erwartungen“. Der Bewältigung in diesem Sinn dienen unter anderem „Erzählelemente, die der unterlegenen Gruppe in der Niederlage einen Sinn aufzeigen wollen“ (S. 259), insbesondere so genannte „master plots“, das heißt allgemein bekannte Erzählmuster, die eine einzige, schlichte Fabel („plot“) umfassen. Oft wird zum Beispiel behauptet, dass die eigenen Kämpfer zwar militärisch unterlegen seien, sich aber als Helden oder sogar als Märtyrer und damit als moralisch überlegen erwiesen hätten. Bewältigt werden kann eine Niederlage ferner dadurch, dass man sie kontextualisiert, also in Zusammenhänge einbettet, welche sie weniger relevant erscheinen lassen, oder indem man sie verschweigt oder sogar zum Sieg umdeutet. Es zeigt sich, dass die Bewertung der eigentlichen Vorgänge derartig komplex ist, dass die Autoren in der Gestaltung ihrer Darstellungen über beachtlichen Freiraum verfügen.

„Abschließende Überlegungen“ fassen den Gang der Argumentation und deren Ergebnisse prägnant zusammen. Kosellecks These, dass Niederlagen die Verlierer zum Lernen zwängen, lässt sich anhand der mittelalterlichen Historiographie nicht erhärten, denn deren Autoren bevorzugen gegenüber der unvoreingenommenen Analyse der Niederlage bei Weitem das Schönreden, das Entschuldigen oder die Suche nach Sündenböcken. Gerade die Bandbreite der Ausflüchte aber zeigt eindrucksvoll, wie bedrückend eine Niederlage für die Unterlegenen sein konnte und wie viel argumentativer Aufwand nötig war, um die Schmach, die Verluste und die materiellen Folgen zu verwinden.

Des Weiteren unterstreicht Clauss, dass historiographische Quellen das tatsächliche Geschehen nur in sehr geringen Grenzen zu rekonstruieren erlauben – und zwar nicht nur aufgrund grundsätzlicher Zweifel am direkten Zugriff auf das Vergangene, sondern aufgrund der konkreten Eigenarten der Quellen. Denn wie Clauss seinen Lesern immer wieder vorführt, ist auch scheinbar präzisen Details der Erzählungen, denen die traditionelle Quellenkritik im Allgemeinen große Glaubwürdigkeit zugebilligt hätte, durchaus zu misstrauen, weil sie häufig Darstellungsmuster und Erzählkonventionen reproduzieren. Daher ist nicht mehr zu entscheiden, inwieweit sie dem Ablauf des Geschehens folgen. Wurde der jeweilige Vorgang so beschrieben, weil er tatsächlich so oder doch ähnlich abgelaufen war, oder nur, weil diese Schilderung den Absichten und Mechanismen der Darstellung entsprach?

Daraus zieht Clauss generelle Folgerungen für den Umgang mit mittelalterlicher Historiographie. Sie gehen über traditionelle Quellenkritik klar hinaus, wenn sie auch nicht vollkommen neu sind. Zum einen sind einzelne Quellenstellen stets auch in Hinblick auf die Darstellungsabsicht des ganzen Texts zu analysieren. Zum anderen muss man im Auge behalten, dass eine einzelne Passage womöglich auf verbreitete Darstellungsmuster zurückgreift. In diesem Fall sagt sie nur wenig über die konkreten berichteten Gegebenheiten aus, aber viel über die Ziele des Autors und über die Erwartungen des Publikums. Beide Gesichtspunkte disqualifizieren das in der konventionellen Militärgeschichte des Mittelalters so beliebte Steinbruchverfahren. Wer aus unterschiedlichen Quellen die Aussagen heraussucht, die nach den Vorstellungen heutiger Forscher von sinnvollem militärischen Verhalten plausibel erscheinen, und daraus den Ablauf eines Feldzugs oder einer Schlacht zu ergründen versucht, verkennt fundamental den Charakter der Quellen.

Besonderes Gewicht kommt dieser gehaltvollen Studie dadurch zu, dass diese Einsichten nicht nur abstrakt formuliert werden, sondern durch viele treffende Analysen hinsichtlich ihrer Praktikabilität und ihres Ertrags illustriert werden. Damit erhält dieses Werk Modellcharakter für weitere Untersuchungen zur mittelalterlichen Historiographie.