H. Tyrell: Soziale und gesellschaftliche Differenzierung

Cover
Titel
Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie


Autor(en)
Tyrell, Hartmann
Erschienen
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Ziemann, Department of History, University of Sheffield

Der bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2008 in Bielefeld lehrende Soziologe Hartmann Tyrell ist seit langem als einer der interessantesten Gesprächspartner an der Schnittstelle zwischen soziologischer Theoriebildung und der Geschichte als historischer Sozialwissenschaft bekannt. Jeder Historiker, der ernsthaft über die Sozialgeschichte der Familie und der Erziehung, über die Sozial- und Kulturgeschichte der Religion in der Neuzeit oder über allgemeine gesellschaftsgeschichtliche Themen forscht, hat schon einmal einige der vielen substanziellen Aufsätze von Tyrell gelesen. Dazu trägt nicht zuletzt die Tatsache bei, dass sein theoretisches Interesse stets auch eines an der Geschichte der eigenen Disziplin und der Kontexte ihrer Themenstellung und Methodenwahl gewesen ist und damit die Historizität soziologischen Denkens (bei einem konstanten Interesse an bestimmten zentralen Fragestellungen) in seinen Arbeiten in überaus reicher und komplexer Weise zum Vorschein kam. Es gibt heute gewiss kaum einen Soziologen oder Historiker in der Bundesrepublik, bei dem die Tradition der klassischen europäischen Soziologie seit ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert so umfassend und bis in die Verzweigungen heute als zweitrangig angesehener Autoren und Texte hinein bekannt und präsent ist wie Hartmann Tyrell. Kenntnis der und Verpflichtung auf die Klassiker ist aber, wie die Herausgeber dieser Aufsatzsammlung einleitend zu Recht betonen, nur der eine Pol des Werkes von Hartmann Tyrell. Am anderen stand und steht die zustimmend-kritische Beschäftigung mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, die für Tyrell bereits während des Studiums in Münster begann und sich dann für Jahrzehnte in den engen Fluren des Bielefelder Biotops fortsetzte.

Der Aufsatz ist für Tyrell das bevorzugte Medium der wissenschaftlichen Kommunikation, auch wenn sich einige seiner Texte gerade wegen ihrer historischen Orientierung in den letzten Jahren zu einer Länge ausgewachsen haben, die eher dem Format eines Buches entspricht.1 Umso willkommener ist die Entscheidung, einige der wichtigsten Texte aus dem Zeitraum von 1976 bis 2002, die oftmals an entlegenen und in vielen Bibliotheken kaum greifbaren Orten publiziert wurden, nun gebündelt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Auswahlprinzip der Herausgeber orientiert sich dabei an Differenzierung als Leitthema, und das entspricht selbstredend nicht nur der konzeptionellen Bedeutung dieses Stranges soziologischer Theoriebildung von Simmel bis Luhmann, sondern auch dem Interesse von Tyrell, im Dialog über Differenzierung die Klassiker und die Systemtheorie miteinander ins Gespräch zu bringen. In den drei Beiträgen zur ersten Sektion über „Soziale Differenzierung“ weist Tyrell darauf hin, dass es bei Differenzierung immer um „zweierlei Differenzierung“ geht – so der Titel des wichtigsten Textes in diesem Abschnitt (S. 55-72). Unter diesem Rubrum verdeutlicht Tyrell anhand des Frühwerks von Luhmann, dass die Gesellschaftstheorie mit ihrem Kernstück, der Theorie funktionaler Differenzierung, nur einen Strang ausmacht, neben den die Problematik der „Ebenendifferenzierung“ tritt. Damit reagierte Luhmann auf ein Problem, das oftmals, in relativ unscharfer Terminologie, als Unterscheidung von Mikro- und Makroebene geführt wird und das gerade in den 1970er-Jahren auch zur unspezifischen Rede von ‚der‘ Gesellschaft als einer kompakten Einheit führte. Tyrell vollzieht hier nach, wie Luhmann mit der Unterscheidung von Interaktion unter Anwesenden, Organisation und Gesellschaft eine weitere Form der Differenzierung diskutiert, die nicht in der Differenzierung von funktionalen Teilsystemen aufgeht. Damit werden, historisch gesehen, Fragen nach der Relevanz und Steuerungskapazität von face-to-face Kommunikation für die frühmoderne Politik und nach der Organisationsgebundenheit religiöser Kommunikation in der Moderne aufgeworfen, die in den letzten Jahren verschiedentlich Interesse gefunden haben.2 In einem anderen Aufsatz dieser Sektion wirft Tyrell die Frage auf, ob nicht forschungspragmatisch zwischen Interaktion und Organisation mit ihren formalen Mitgliedschaftskriterien die Gruppe als Systemtyp anzusiedeln sei, der sich durch „relative Dauerhaftigkeit“ und „diffuse Mitgliederbeziehungen“ auszeichnet (S. 44). Das leuchtet historisch sofort ein, wenn man an den Kreis um Stefan George, die Wohngemeinschaften der 1970er-Jahre oder eher lose strukturierte religiöse Gruppenbildungen denkt.

Im zweiten Teil geht es dann um gesellschaftliche Differenzierung und damit die Theorie funktionaler Differenzierung. Hier ist vor allem ein Beitrag hervorzuheben, der die „Diversität der Differenzierungstheorie“ theoriegeschichtlich nachvollzieht. Tyrell unterscheidet hier zwischen einem „Dekompositionsparadigma“ (S. 114) und dem, was man emergente Differenzierung nennen kann. In der ersten Denktradition wird Differenzierung als Zerlegung eines größeren Ganzen gedacht, und gerade bei Spencer steht dafür die Organismus-Analogie Pate, in anderen Versionen die Theorie der Arbeitsteilung. In der zweiten Tradition erscheint Differenzierung als die emergente Freisetzung, Herausbildung und das Auseinandertreten von Zugangsweisen zur Welt. Hier wird Wilhelm Dilthey als einer der oft übersehenen Ahnherren der Differenzierungstheorie ins Gespräch gebracht. Dabei geht es Tyrell vor allem um die bei Dilthey diskutierte „Absage (…) an eine universalgeschichtliche Fortschrittsfigur“ (S. 130) und somit darum, die Differenzierungstheorie aus einem starren evolutionistischen Schema zu lösen und die dort und damit denkbare Heterogenität und Trennung der Lebensordnungen in der Moderne zu erörtern, ein Thema das bekanntlich auch für Max Weber zentral war. Tyrell diskutiert in einem anderen Beitrag die Geschlechterklassifikation als Differenzierung, ein Zugang der erneute Aufmerksamkeit verdient.

Im dritten Teil geht es schließlich um Familie und Religion. Im ersten der beiden längsten Texte des Bandes zeichnet Tyrell die Herausbildung religionssoziologischer Fragestellungen bis 1900 in ihrem Spannungsverhältnis zur zeitgenössischen religiösen Lage nach. Im zweiten, am stärksten historisch angelegten Beitrag zeichnet er die „Medienvielfalt“ (S. 251) religiöser Kommunikation nach, zeitlich vor allem im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation und sachlich im Spannungsfeld von Auge und Ohr, also mündlicher, schriftlicher und visueller Kommunikation. Tyrell bringt hier die Entwicklung von Verbreitungsmedien wie Buchdruck, Holzschnitt etc. zusammen mit der Frage nach der Evolution des Glaubens als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und damit das Problem, wie die Rede von einem übersinnlichen „Jenseits“ kommunikativ zu plausibilisieren ist. In dieser Perspektive erscheint die Reformation vor allem als eine „Hierarchisierung“ (S. 301ff.) religiöser Kommunikation, die dem gesprochenen Wort und damit der Predigt eine Vorrangstellung zuwies.

All dies kann hier nicht im Detail erörtert werden, sondern erfordert die eigene Lektüre der durchweg dicht geschriebenen und oft auch mäandrierenden Texte, die Aufmerksamkeit und Geduld verlangen. Der geduldige Leser aber wird reich belohnt mit theoretischen und historischen Einsichten, die wiederum weitere historische Fragen herausfordern. Ein Monitum sei abschließend kurz erwähnt: die Herausgeber haben mit Bedacht Tyrells zahlreiche Aufsätze zu Max Weber außen vor gelassen (S. 9). Der Historiker hätte sich dennoch wenigstens eine Aufnahme seines wichtigsten Textes zum Problemhorizont der „Protestantischen Ethik“ gewünscht. Denn dieser Aufsatz ersetzt nicht nur Berge anderer Sekundärliteratur, sondern verdeutlicht zugleich eindringlich die differenzierungstheoretische Grundanlage dieser so folgenreichen Studie.3

Anmerkungen:
1 Eigens hervorgehoben sei Hartmann Tyrell, Weltgesellschaft, Weltmission und religiöse Organisationen – Einleitung, in: Artur Bogner / Bernd Holtwick / Hartmann Tyrell (Hrsg.), Weltmission und religiöse Organisationen Protestantische Missionsgesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 2004, S. 13-134, ein für Debatten um die Entwicklung religiöser Globalisierung wegweisender Text.
2 Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155-224; Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2009, S. 76ff.
3 Hartmann Tyrell, Worum geht es in der Protestantischen Ethik? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers, in: Saeculum 41 (1990), S. 130-177.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch