E. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit

Cover
Titel
Im Kreuz der Wirklichkeit, 3 Bde.


Autor(en)
Rosenstock-Huessy, Eugen
Erschienen
Mössingen 2009: Talheimer Verlag
Anzahl Seiten
1949 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Wolfes, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin

Eugen Rosenstock-Huessys (1888-1973) Monumentalwerk „Im Kreuz der Wirklichkeit“ lesen zu wollen, verlangt eine Menge guten Willen. Wer ihn aufbringt, kann aus der Lektüre einigen Gewinn ziehen. Bei dieser „nach-goethischen Soziologie“ ist die Art des Zugangs entscheidend, wenn man in ihr nicht nur ein anmaßendes und prätentiös inszeniertes Alterswerk sehen will. Auch sollte man nicht allzu empfindlich sein gegen pathetische Gesten nach oben: „Ich habe noch Ohren zu hören und Augen zu sehen. Mir ist mein eigenes System um so verheißungsvoller, je mehr es mich ermächtigt, unerwarteter Einsichten zu harren“ (1, S. 386).

Die Rezeption des Lebenswerkes von Rosenstock-Huessy ist durch eine merkwürdige Asymmetrie gekennzeichnet. Einerseits legte ein eingeschworener Kreis von Freunden und Anhängern seit den 1950er-Jahren Studien zum Leben und Werk Rosenstock-Huessys vor. Außerdem wurden Tausende Seiten von Vorlesungen und Korrespondenzen erschlossen. Der Rosenstock-Huessy-Fund brachte Dutzende seiner Titel in englischer Sprache heraus, und in Deutschland betreibt die 1963 gegründete Rosenstock-Huessy-Gesellschaft eine vielgestaltige Arbeit. Andererseits ist Rosenstock-Huessys Name keinem breiteren Publikum bekannt, seine Schriften werden wenig gelesen. Nach wie vor gilt er vor allem als Weggefährte Franz Rosenzweigs, dessen „Stern der Erlösung“ 1918/19 in der Zeit des engsten Austausches beider entstand. Rosenstock-Huessy war selbst aber auch ein ungemein lebendiger Geist, dessen Spuren in Zeitschriften, Bildungseinrichtungen, Korrespondenzen und persönlichen Begegnungen seit den frühen 1920er-Jahren, und zwar immer in prominentem Zusammenhang, greifbar sind. Ein resolutes Zeugnis seines intellektuellen Charakters ist ein Aufsatz in der katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“ von 1931 über „Das Dritte Reich und die Sturmvögel des Nationalsozialismus“. Hier wird die NS-Bewegung als Teilerscheinung eines geschichtsträchtigen Aufbruchsgeschehens interpretiert, zugleich aber von einer christlich-religionsphilosophischen Gegenposition aus als unhaltbar erwiesen.1

Als Rosenstock-Huessy nach 1945 bei mehrmaligen Gastvorträgen in Deutschland auftrat, hatte er die in der „Soziologie“ ausgearbeitete prozessphilosophische Konzeption bereits entworfen. Es zeigte sich jedoch eine klare Inkongruenz zu den Fragestellungen hierzulande. Dieser Umstand kennzeichnet die Wirkungsgeschichte Rosenstock-Huessys bis heute. Aus der reichen Produktion ist nur „Der unbezahlbare Mensch“ von 1955 bekannt, insbesondere seit der von Walter Dirks eingeleiteten Ausgabe (1964).2 Zu abseitig schien die Verbindung sprachphilosophischer mit historischen und soziologischen Motiven zu einer operationalistischen Großtheorie, als dass Probleme eines von Krieg, Traditionsbruch und Verbrechenslast gedemütigten Volkes in ihr angemessen hätten aufgenommen werden können.

Dabei knüpfte er selbst den Faden ganz vorne an. Der erste Entwurf habe ihn 1915 an der Front „überfallen“, als er die Kaisergeburtstagsrede gehalten und der Kommandeur ihn anschließend zum einzigen Monarchisten der Truppe ernannt habe (1, S. 377). Aus der moralischen Krise, in die dieses Erlebnis führte, habe ihn dann erst der Auftrag Walter de Gruyters befreit, „eine Soziologie in zwei Bänden“ zu schreiben. Zuvor war der Autor mit Beiträgen zum industriewirtschaftlichen Arbeitsrecht hervorgetreten, einer völlig neuen Rechtsmaterie, aber auch mit Überlegungen zum Verhältnis von Arbeitswelt und Sozialpolitik. Von Anfang an zielte Rosenstock-Huessy bei dem Projekt ins Weite. 1925 war der erste Teil unter dem Titel „Die Kräfte der Gemeinschaft“ erschienen.3 Weiteres folgte nicht, und nach langem Weg (mehreren anderen Büchern, der Exilserfahrung, sechs Jahren in Uniform und zahlreichen lebenspraktischen „Überwältigungen“) kam die „Soziologie“ dann 1956 und 1958 mit einem Gesamtumfang von 1100 Seiten bei Kohlhammer in Stuttgart heraus.4

Allerdings entsprach die damalige Fassung nur bedingt den Intentionen des Autors. Der Verleger bestand auf dem nüchtern klingenden Titel, der Assoziationen an ein wissenschaftliches Format wecken sollte. Zudem wurde der Text aus Kostengründen stark verkürzt. Nun aber haben die drei Bearbeiter in mehr als zehnjähriger Arbeit nicht nur den ursprünglichen Wortlaut wiederhergestellt, sondern das Buch – jetzt in der von Rosenstock-Huessy gewünschten dreibändigen Aufteilung – auch mit zahlreichen Erläuterungen sowie weiteren nützlichen Beigaben versehen. Der Aufgabe, unvertrauten Lesern ein im Höchstmaß ambitioniertes Werk nahezubringen, das sich so sehr dem Spiel des heterodoxen Gedankens verschreibt und dabei immer wieder in luftige Höhen vordringt, haben sie sich in anerkennenswerter Weise angenommen. Zunächst galt es, den ursprünglichen Text wiederherzustellen, befreit von zahlreichen Lesefehlern und Irrtümern der Setzer. Zudem bieten die Bearbeiter vielfältige Lese- und Verstehenshilfen. Allein der erste Band enthält einen fast zweihundertseitigen Anhang mit Zeittafel, Auswahlbibliographie, editorischen Hinweisen, dem Vorwort von 1956 (eine Art Programmtext Rosenstock-Huessys), Personen- und Sachregister sowie umfangreichen Anmerkungen. Die Sachregister (zu Band 1 107 Seiten, zu Band 2 108 und zu Band 3 sogar 156 Seiten, zusammen 371 engbedruckte Seiten!; desweiteren noch einmal 32 Seiten Personen- und Namensregister) zeugen von einer überwältigenden Akribie; sie wirken allerdings auch wie der Versuch, der Rosenstock-Huessyschen Ausdrucksweise nachträglich begriffliche Konsistenz zu geben und seinen schweiferischen Ausführungen ein stabilisierendes Gerüst einzuziehen. Die Sachanmerkungen sind für eine informierte Lektüre schlechterdings unverzichtbar. Sie hellen vor allem Bezüge zu den wichtigsten Ideengebern auf. Unter diesen finden sich neben dem allgegenwärtigen Franz Rosenzweig insbesondere Rudolf Ehrenberg, Roman Jakobson und Émile Benveniste. Die zentrale intellektuelle Position nimmt aber, jedenfalls suggeriert Rosenstock-Huessy dies, Goethe ein. Dabei ist das weiträumige Assoziationsfeld, das der Autor an diesen Namen knüpft, signifikanter für sein eigenes Projekt als für den Klassiker, und insofern handelt es sich, wenn er eine „nach-goethische“ Soziologie entfalten möchte, um ein in mehrfacher Hinsicht entschlüsselungsbedürftiges Unterfangen.

„Soziologie“ soll hier gerade kein technizistisches Instrument zur Analyse sozialer Sachverhalte und Zustände sein. Der Begriff bezeichnet vielmehr eine geschichtsphilosophische Deutungsanstrengung, für die das Dasein des Menschen primär von seinem Verwobensein in Sprache und Kultur geprägt wird und deren Ziel die Freisetzung kulturschöpferischer Kräfte ist. Nur über eine solche gemeinschaftsstiftende, allem Fatalismus entgegenwirkende Reaktivierung kann nach Rosenstock-Huessy überhaupt eine Überwindung der Krise der Moderne gedacht werden. Das entscheidende Lösungsmittel sieht er, und hierin liegt die Absetzbewegung von Goethe und dem klassischen, renaissancebetonten Geist, in einer Wiederherstellung religiöser Bindungen, einer Ausrichtung also, die nach Lage der Dinge nur noch über einen bewussten, weltanschauungshaften Entscheidungsprozess gelingen kann. Dies nennt er „das Kreuz der Wirklichkeit“ tragen, in Aufnahme einer Figur Yorck von Wartenburgs (vgl. 1, S. 423).

In der Ausdeutung der Kreuzessymbolik geht Rosenstock-Huessy noch weiter, indem er an sie eine Theorie sprachlicher Artikulation in einem vierteiligen Spannungsfeld anknüpft, das aus den räumlichen Dimensionen „Innen“ und „Außen“ und den zeitlichen Dimensionen „Vergangenheit“ und „Zukunft“ aufgespannt wird. Nur in einem bewussten Umgang mit der Sprache erschließen sich diejenigen Räume, in denen ein von Wahrheit erfülltes Leben möglich ist. Insofern errichtet Rosenstock-Huessys „Soziologie“ ein nicht bloß figuratives Sphärenmodell. Im ersten Band („Die Übermacht der Räume“) werden „Spielräume“ und „Lebensräume“ unterschieden, in denen sich jeweils ein reflexiver und ein aktiver Zugang zu Natur, Geist, Kultur und Seele Ausdruck verschaffen. „Soziologie“ wird dabei als eine „Tiefere Grammatik“ verstanden, die in Anknüpfung an Mythos und Utopie einen Ausweg aus der „Tyrannei der Räume“ (der „Raumnot der Gebildeten“) eröffne. Eine großangelegte geschichtsphilosophische Synthese bieten dann die zusammengehörigen Bände 2 und 3 („Die Vollzahl der Zeiten“ 1 und 2). Lebensformen, Weltbildkonstruktionen, Erzeugnisse des religiösen Strebens, von sakralen Bauwerken über Gottesbilder und Zeitkonzeptionen – Rosenstock-Huessy schreitet den Weg des Geistes gleichsam in eigener Person nach, stets nach Maßgabe seiner heilsgeschichtlichen Prämisse, dass es sich dabei um einen Kreuzweg durch die Wirklichkeit handele. Auf die Bezüge, die zwischen dieser theologisch stark aufgeladenen Konzeption und dem glaubensmetaphysischen Modell von Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ besteht, ist mit Recht bereits hingewiesen worden.5

Inwiefern nun der große Ausgriff auf Ethik, Kunst, Kultur und Religion zu tragfähigen Einsichten führt, mag dahingestellt bleiben. Eine Nähe zu zeitgenössischen panentheistischen Positionen (Albert Schweitzer und kulturkritische Autoren der 1950er-Jahre) ist unverkennbar. Wer sich von Rosenstock-Huessys Denkweise einen Eindruck in nuce verschaffen möchte, dem seien die Ausführungen zur Personalität Gottes in Bd. 3, S. 383-387 empfohlen. Theologische Erörterungen bilden immer wieder den Kristallisationsort für sein religiös verankertes, geschichtsinspiriertes Kulturkonzept. So wird man gerade mit Blick auf zahlreiche Passagen dieser Art in dem Werk wohl in erster Linie ein tief persönliches Meditationswerk zu sehen haben.

Die ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem eigenwilligen, leider sehr sprunghaften, dafür aber ideenreichen Autor steht noch am Anfang.6 Die neue Ausgabe des Hauptwerkes lenkt die Aufmerksamkeit zwar nicht zum ersten Mal auf Rosenstock-Huessy. Jetzt aber kann jede weitere Rezeption von einem grundsolide edierten Text ausgehen, der zudem noch in seiner äußeren Form der „Talheimer Ausgabe“ dem Leser Freude bereitet.

Anmerkungen:
1 Eugen Rosenstock-Huessy, Das Dritte Reich und die Sturmvögel des Nationalsozialismus, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 28 (1931), S. 193–211.
2 Das kleine Buch erschien ursprünglich 1948 unter dem Titel „The Multiformity of Man“.
3 Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie. Teil 1: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin 1925. Im Nachwort zu Band 3 der Neuausgabe (S. 811) wird der Verlag Julius Springer genannt, doch ist dies ein Irrtum; der Band erschien wie geplant bei de Gruyter.
4 Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie in zwei Bänden. Erster Band: Die Übermacht der Räume, Stuttgart 1956 / Zweiter Band: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart 1958. Band 1 ist eine überarbeitete Fassung des Textes von 1925. Eine zweite, durchgesehene Auflage dieses Bandes erschien 1968 (nicht 1960, wie Bd. 3, S. 811 behauptet wird) ebenfalls bei Kohlhammer.
5 Hartwig Wiedebach (Hrsg.), „Kreuz der Wirklichkeit“ und „Stern der Erlösung“. Die Glaubens-Metaphysik von Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig, Freiburg im Breisgau 2010.
6 Vgl. Christoph Richter, Im Kreuz der Wirklichkeit. Die Soziologie der Räume und Zeiten von Eugen Rosenstock-Huessy, Frankfurt am Main 2007.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension