T. Klingebiel: Ein Stand für sich

Titel
Ein Stand für sich?. Lokale Amtsträger in der Frühen Neuzeit: Untersuchungen zur Staatsbildung und Gesellschaftsentwicklung im Hochstift Hildesheim und im älteren Fürstentum Wolfenbüttel


Autor(en)
Klingebiel, Thomas
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 207
Erschienen
Anzahl Seiten
767 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Brakensiek, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Mit dieser außerordentlich materialreichen Studie über die lokalen Amtsträger des Hochstifts Hildesheim schließt Thomas Klingebiel eine Forschungslücke der Frühneuzeit-Historie. Zwar liegen mittlerweile mehrere neuere Arbeiten vor zur Funktionsweise des frühmodernen Territorialstaates „vor Ort“. Insbesondere haben dabei die Personen Beachtung gefunden, die im Auftrag der Fürsten Steuern und Abgaben erhoben, Recht sprachen und die „gute Policey“ handhabten, standen sie doch an strategischer Stelle zwischen landesherrlicher Obrigkeit und Untertanen 1. Die lokalen Amtsträger eines geistlichen Wahlfürstentums wurden allerdings bislang nicht eigens untersucht, wohl deshalb, weil dieser Typus eines Territorialstaates als besonders rückständig gilt. Thomas Klingebiel macht aus der angeblich besonders ausgeprägten Rückständigkeit ein Argument: Wenn die Annahme zutrifft, dann bildet Hildesheim als ein geistliches Wahlfürstentum an der nördlichen Peripherie des Reiches einen Testfall für die Reichweite der territorialen Staatsbildungsprozesse im Ancien Régime. Um dies Vorhaben einzulösen, vergleicht er die eigenen Befunde im Rahmen einer – der Weberschen Herrschaftssoziologie entlehnten – Typologie mit Ergebnissen einiger anderer Territorial-Studien.

Das Werk ist gegliedert in fünf Kapitel und einen ausführlichen Anhang: In der Einleitung (S. 11-34) wird die Fragestellung entfaltet und über die kollektivbiografische Methode sowie die verwendeten Archivalien Rechenschaft abgelegt. Es folgt eine vergleichende Darstellung der Genese lokaler Administrationen in den Territorien des Alten Reichs vom ausgehenden Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert (S. 35-140), in die bereits empirische Befunde aus dem Stift Hildesheim und dem älteren Fürstentum Wolfenbüttel eingeflochten sind. Zwei große Abschnitte bilden den quellengestützten Kern der Untersuchung. Zunächst wird die Erneuerung der Stift-Hildesheimischen Lokalverwaltung nach dem Dreißigjährigen Krieg und die ständische Formierung der dortigen Amtsträgerschaft beschrieben (S. 141-391). Anschließend legt Klingebiel unter der Überschrift „Auf dem Weg zum Staatsbeamtentum“ die weitere Entwicklung im 18. Jahrhundert dar (S. 393-583). Diese chronologische Präsentation der Ergebnisse hat ihren Preis, denn die beachtlichen systematischen Erkenntnisse werden oftmals so beiläufig behandelt, dass sich deren Bedeutung einem Leser, der nicht über intime Kenntnisse des Forschungszusammenhangs verfügt, kaum erschließen wird. Die Schlussbetrachtung (S. 585-603) schafft eine gewisse Abhilfe, indem sie ein knappes, etwas selektives Resümee liefert. Die Prosopographien der hildesheimischen Drosten, Amtleute, Amtschreiber, Vögte und Gogrefen (S. 645-734) sowie Personen- und Ortsregister runden das Werk ab.

Die ganze Breite der interessanten Befunde kann nicht referiert werden; ich greife deshalb Beispiele heraus, um am Einzelfall allgemeine Probleme zu thematisieren. Mit dem Stift Hildesheim wird der spezifische Fall eines Fürstbistums vor Augen geführt, dessen politische Existenz aufgrund seiner isolierten Lage im protestantischen Norddeutschland und durch den Übertritt der Bevölkerungsmehrheit zum lutherischen Bekenntnis an der Wende zum 17. Jahrhundert akut bedroht war. Die Erfolge der katholischen Mächte im Dreißigjährigen Krieg und ein Urteil des Reichskammergerichts verhinderten die drohende Säkularisierung, mit der Folge, dass den Fürstbischöfen eine überwiegend lutherische Bevölkerung gegenüber stand. Die Bestimmungen des Westfälischen Friedens und die Interventionsdrohung der Welfen verhinderten nämlich, dass die im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert aus dem Haus der Wittelsbacher stammenden Bischöfe zu einer durchgreifenden Rekatholisierung schreiten konnten. Allerdings blieb das Recht der Fürstbischöfe unbestritten, ihre Diener nach konfessionellen Rücksichten auszuwählen. Dadurch ergab sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die eigentümliche Situation, dass die lokalen Amtsträger nicht aus dem Lande, sondern vor allem aus Kurköln und den westfälischen Diözesen stammten. Die Studie verdeutlicht, wie sehr das Selbstverständnis und das Handeln der lokalen Amtsträger durch ihre Stellung in der Diaspora geprägt war.

Zusammen mit einigen einheimischen Konvertiten verschmolzen die Nachkommen der zugezogenen Funktionsträger im frühen 18. Jahrhundert zu einer neuen sozialen Gruppe, aus der künftig der Beamtennachwuchs rekrutiert wurde. Was die Sozialgeschichte der lokalen Amtsträger betrifft, wandelte sich dadurch die zunächst ungewöhnliche Situation im Stift Hildesheim zum Üblichen: Die Fürsten im Reich griffen nämlich bei der Auswahl ihrer lokalen Amtsträger zumeist auf die Angehörigen von kleinen Regionaleliten zurück, weil sie im Ruf besonderer Loyalität standen. Die im Stift Hildesheim weit verbreitete Praxis, den Söhnen von Amtsträgern schon frühzeitig Exspektanzen zu gewähren und sie nach Abschluss des Studiums den Vätern als Adjunkten beizugesellen, ließ Ämter gleichsam in Familienbesitz übergehen. Thomas Klingebiel stellt allerdings klar, dass es hier – wie andernorts im Reich – zu keiner institutionalisierten Ausprägung des Besitzes und der Käuflichkeit von Ämtern kam. Zwar setzte sich im 18. Jahrhundert die Praxis durch, im Falle eines Wechsels unter den Inhabern, Ämter und Anwartschaften auf Ämter monetär abzugelten. Auch ließen sich die ins Bestallungsverfahren involvierten hohen Beamten ihre Unterstützung versilbern. All diese Transaktionen standen jedoch unter dem Vorbehalt der fürstlichen Prärogative, und von ihrem autonomen Bestallungsrecht machten die Bischöfe bisweilen auch – gegen alle zuvor getroffenen Absprachen – Gebrauch. Die geschilderten Praktiken finden sich andernorts im Alten Reich in ähnlicher Form und sind deshalb kein Argument für die spezifische Rückständigkeit des hildesheimischen Falles.

Verallgemeinerungen lassen sich auch treffen, was den Wandel der charakteristischen Tätigkeiten lokaler Amtsträger betrifft. Kernfunktionen bildeten die Rechtsprechung, die Handhabung der „guten Policey“, die Steuererhebung, das Eintreiben von Abgaben, die dem Fürsten als Grundherren zustanden, sowie der Betrieb der landesherrlichen Güter, der sogenannten Amtsdomänen. Diese Funktionen konnten in ausdifferenzierter Form von verschiedenen Personen wahrgenommen werden. In vielen Territorien wurden jedoch mehrere, mancherorts sogar sämtliche Aufgaben von einer Person erledigt. Wenn von Bürokratisierung in der Frühen Neuzeit die Rede ist, wird damit in erster Linie der Prozess zunehmender funktionaler Ausdifferenzierung bezeichnet. Dieser Prozess vollzog sich in den Territorien zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Intensität und Konsequenz. Auch gab es immer wieder Phasen des erneuten Zusammenfügens von zuvor bereits ausdifferenzierten Funktionen, so dass man keineswegs von linearen Bürokratisierungsfortschritten ausgehen kann. Was die Angelegenheit noch komplizierter macht, ist der Umstand, dass die Landesherrn und ihre Räte mit zwei konkurrierenden Modellen experimentierten, einerseits dem Regiebetrieb durch fest bestallte Amtsträger, andererseits der Pacht, als einer privatisierten Amtsführung auf Zeit, die in herrschaftlichem Auftrag erfolgte.

Es lassen sich demzufolge eine Vielzahl von institutionellen Kombinationen denken, die sich zu einigen zeit- und regionaltypischen Mustern gruppieren, so beispielsweise dem von Klingebiel als „borussisch“ bezeichneten Modell, das gekennzeichnet ist von dauerhafter Verquickung der domanialen Wirtschaftsführung mit der lokalen Rechtsprechung und Wohlfahrtsverwaltung in den Händen von Amtspächtern. Solch eine Konstellation lässt einen Amtsträgertyp erwarten, der einen ausgeprägt ökonomischen Umgang mit dem Amt pflegt und dem die Rechtsförmigkeit seiner Amtsführung nur durch eine besonders hartnäckige Kontrolle auferlegt und abverlangt werden kann. Für das ausgehende 17. Jahrhundert präpariert Klingebiel für Hildesheim diesen so auch in Hannover, Preußen und Sachsen vorfindlichen Typus heraus. In der Wiederaufbausituation nach dem Dreißigjährigen Krieg hatte die Landesherrschaft Probleme, überhaupt kapitalkräftige Investoren zu finden, die bereit und in der Lage waren, die verwüsteten Domanialgüter zu übernehmen. Die Lösung fand sich in Form der Amtspacht: Die Übernahme eines Gutsbetriebes wurde an die amtliche Funktion eines Drosten bzw. eines Amtmannes gebunden. Den Amtspächtern eröffnete sich dadurch die spezifische Chance der Bereicherung, einerseits durch die legale Nutzung von Untertanendiensten, andererseits durch die illegale Ausübung von richterlichem Zwang im individuellen ökonomischen Interesse. Erst eine solche Koppelung machte die Pachten attraktiv. Die Amtsführung nahm dadurch einen stark ökonomischen Charakter an, während Rechts- und Wohlfahrtsförderung in den Hintergrund traten.

Thomas Klingebiel macht nun deutlich, dass es sich dabei um ein zeittypisches Phänomen handelte, nicht um das Spezifikum eines rückständigen geistlichen Territoriums. Das wird erkennbar angesichts der politischen Rolle des Domkapitels und der übrigen Ständevertreter: Landstände stehen allgemein nicht eben im Ruf, der territorialen Staatsbildung und der Bürokratisierung zugearbeitet zu haben. Aber die spezifische Situation im Hochstift Hildesheim im 17. Jahrhundert ließen das Domkapitel und die übrigen Ständekurien zu Verfechtern der disziplinierenden Kontrolle werden. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse, um die Herrschaft über die eigenen Hintersassen wirksam wahrnehmen zu können und um im Genuss der Untertanendienste und -abgaben nicht geschmälert zu werden, traten die Stände den Eigenmächtigkeiten, Erpressungen und räuberischen Praktiken der lokalen Amtsträger mit Erfolg entgegen. Zwischen 1665 und 1682 nötigten sie den Landesherrn, seine Amtsträger vor Ort wirksamer als zuvor zu kontrollieren, gegen den hinhaltenden Widerstand der Beamten in den Zentralbehörden, die eher zur Solidarität mit ihren Kollegen in den Ämtern neigten. Entgegen aller Erwartungen wuchsen die Stände aufgrund der politischen Konstellation in die Rolle der Wahrer des Gemeinwohls hinein, nicht nur proklamatorisch, sondern ganz handfest. Insbesondere das Domkapitel tat sich dabei als Agent der Stabsdisziplinierung hervor.

Auch die Ausdifferenzierung von Amtsfunktionen auf lokaler Ebene – mithin ein Basisprozess der Bürokratisierung – stellte sich gleichsam als Nebeneffekt einer anders motivierten Maßnahme dar. Nachdem die Schäden des Dreißigjährigen Krieges beseitigt und die Amtsdomänen profitable Unternehmen geworden waren, rückten die Bischöfe seit dem frühen 18. Jahrhundert mehr und mehr von der Amtspacht ab, nicht wegen der damit verbundenen rechtlichen Probleme, sondern um höhere Einnahmen erzielen zu können. Die Domänen wurden seither überwiegend an kapitalkräftige Pächter vergeben, die Steuern ebenfalls von Pächtern eingezogen, während die übrigen hoheitlichen Aufgaben von fest bestallten lokalen Amtsträgern wahrgenommen wurden, die nun von ihren fixen Gehältern und den zunehmend strikter kontrollierten Sporteln lebten. Damit scherte das Stift Hildesheim aus dem „borussischen“ Modell aus und schloss sich einer Entwicklung an, wie sie in den westlich und südlich gelegenen Reichsterritorien ganz ähnlich vonstatten gegangen war. Angesichts der Hildesheimischen Befunde erscheint Staatsbildung auf territorialer Ebene nicht so sehr als das Resultat von planvoll vorgehenden Zentralen, sondern als das überwiegend unintendierte Ergebnis von widerstreitenden ökonomischen Interessen und politischen Konstellationen.

Bei der Darstellung und Beurteilung der weiteren Entwicklung im 18. Jahrhundert nimmt Thomas Klingebiel eine unentschiedene Haltung ein. Einerseits behauptet er, dass die Praxis des „Erwerbs“ und der „Vererbung“ von Ämtern den lokalen Amtsträgern die ständische Lebensführung von Pfründnern nahe legte. Zugleich legt er schlüssig dar, dass diese nepotisch und/oder klientelar rekrutierten Beamten durchaus die zeitüblichen professionellen Ausbildungsstandards erfüllten und ihre Ämter meistenteils recht verlässlich wahrnahmen. Die Grundlage dafür bildete das professionelle Selbstverständnis der lokalen Amtsträger, die sich im 18. Jahrhundert in erster Linie als Juristen verstanden. Damit war die Bahn frei für die selbstregulative Logik eines berufsständischen Ethos, die sowohl zur fachlichen Selektion unter den Berufsanfängern als auch zu gesteigerten Qualitätsansprüchen an die reguläre Amtsführung führte. Dieser Prozess ist auch für Württemberg und Hessen-Kassel beschrieben worden; er reicht dort jedoch bis ins 17. Jahrhundert zurück.2

Die Studie von Thomas Klingebiel ist ausgesprochen gehaltvoll und basiert auf der Auswertung einer bewundernswert großen und vielfältigen Menge von Quellen. Allerdings beschränkt sich die Arbeit weitgehend auf die ins Detail gehende Erzählung der Genese lokaler Amtsführung. Angesichts der breiten Entfaltung von empirischen Befunden mag es erstaunen, dass die Kommunikationsprozesse, welche die postulierten Beziehungen zwischen den Akteuren erst begründeten, manchmal nicht hinreichend deutlich hervortreten. So ist häufig von Klientelbeziehungen der lokalen Amtsträger die Rede. Sie erscheinen geradezu eingewebt in dichte Patronagenetzwerke, die sie sowohl mit der ländlichen Bevölkerung, als auch mit den maßgeblichen „Großen“ in der Bürokratie und in den Ständeversammlungen verbanden. Aufgrund ihrer Herkunft aus dem Rheinland und Westfalen unterhielten sie klientelare Kontakte sogar mit dem höfischen Adel in Bonn und Münster. Die institutionelle Lage lokaler Amtsträger an der Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Sphären ist nun wie gemacht für Makler-Positionen. Insofern ist man gern geneigt, das Vorliegen von Patronage in einem analytischen Sinne für wahrscheinlich zu halten. Der Rezensent wäre jedoch froh, einmal demonstriert zu bekommen, wie diese Patronage funktionierte, wie ein Verhältnis zwischen Patron und Klient zustande kam, in welchen Worten, Gesten und Gaben ihr klientelares Verhältnis zum Ausdruck kam. Wie eine solche „dichte Beschreibung“ aussehen könnte, zeigt Klingebiel bei der lebendigen Darstellung eines wunderbar dokumentierten Konflikts zwischen der Witwe eines Amtschreibers und ihrem Sohn, der dem Leser die Bedingungen familialer Solidarität, vor allem die Grenzen dieser Verbindlichkeit im Spiegel der Diskurse anlässlich eines Scheiterns vor Augen führt (S. 531-551). Vielleicht war es aufgrund der Quellenlage nicht möglich, solch eine detaillierte Analyse auch für andere Beziehungen zu liefern, zu wünschen wäre es jedoch allemal. Gleichwohl: Das Buch lohnt die Lektüre und liefert einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des an Überraschungen reichen territorialen Staatsbildungsprozesses im Alten Reich.

Anmerkungen:
1 Christine van den Heuvel, Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550-1800, Osnabrück 1984; Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a.M. 1994; Rolf Straubel, Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverläufe, Entscheidungsprozesse (1763/86 - 1806), Potsdam 1998; Michaela Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 1737 bis 1780, Göttingen 1998; Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750 - 1830), Göttingen 1999. In Kürze erscheint: André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Regieren und Verwalten zwischen Normen und lokalen Verhältnissen in der Markgrafschaft Baden.
2 Sabine Holtz, Bildung und Herrschaft. Zur Verwissenschaftlichung politischer Führungsschichten im 17. Jahrhundert, Leinfelden-Echterdingen 2002; Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger.