T. Kuljic: Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum

Cover
Titel
Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum


Autor(en)
Kuljic, Todor
Erschienen
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ljiljana Radonic, Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien

Der Essay des Belgrader Soziologie-Professors Todor Kuljić basiert teilweise auf seinen Werken „Kultura sećanja: teorijska objašnjenja upotrebe prošlosti“ (2006) und „Tito – sociološkoistorijska studija“ (1998). Der Autor diskutiert den Umgang mit der Vergangenheit in den postjugoslawischen Staaten, eingebettet in den aktuellen Forschungsstand von kulturellen Gedächtnistheorien. Ausgehend von den Ansätzen von Maurice Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann analysiert Kuljić den Kampf um die dominante Geschichtsversion. Er kommt zum überzeugenden, jedoch unerfreulichen Ergebnis, in den postjugoslawischen Staaten herrsche nach den Bürgerkriegen der 1990er-Jahre ein „Bürgerkrieg der Erinnerungen“: Auf allen Seiten habe es sich „nahezu zur obligatorischen Methode entwickelt, Konflikte als schicksalhaft darzustellen und die Verbrechen der eigenen Nation zu bestreiten oder als selbstverständlichen Akt der Verteidigung zu verharmlosen.“ (S. 153)

Der Zweite Weltkrieg sei, ähnlich wie zu Zeiten Jugoslawiens, noch immer ein zentraler Bezugspunkt, doch in den Nachfolgestaaten habe sich ein „nationaler Antifaschismus“ oder sogar ein „Anti-Antifaschismus“ entwickelt – wenn auch nicht gleichzeitig und im gleichen Ausmaß. Der nationale Antifaschismus versuche, den kommunistischen Widerstand als erzwungenen darzustellen und zu demontieren, woraus die Suche nach einer neuen „Stunde Null“ des Antifaschismus resultiere: In Serbien wird „der Tschetnik-Führer Mihailović (…) zum ersten antifaschistischen Guerilla-Kämpfer Europas erklärt“ (S. 104), während in Kroatien der von 2003-2009 amtierende Premierminister Ivo Sanader unter dem Druck, den Ansprüchen der EU genügen zu müssen, im ehemaligen KZ Jasenovac die Devise vertrat: „Antifaschismus ja, Kommunismus nein“ (S. 98). Im Gegensatz zu einem universellen Antifaschismus, der sich „gegen jede Form von Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus“ (S. 104) wende, kippe der antitotalitär gewendete Antifaschismus in Antikommunismus um und sei an einer Kritik des Chauvinismus nicht interessiert. Der Begriff des Anti-Antifaschismus, den Kuljić für dieses Phänomen vorschlägt, sei in den 1970er-Jahren eine Selbstbezeichnung deutscher Rechtsextremer gewesen (S. 86), werde jedoch heute als in postsozialistischen Staaten quasi-natürliche Erscheinung hingenommen. Wenn „der kommunistische Antifaschismus als stalinistisch und unter dem Druck der Verhältnisse erzwungen dargestellt wird, muss der nationale Anti-Antifaschismus demgegenüber als authentisch erscheinen“ (S. 107). Der Autor arbeitet überzeugend Parallelen zwischen den Entwicklungen in Slowenien, Kroatien und Serbien heraus und nennt beweiskräftige Beispiele, wie den Beschluss des Belgrader Parlaments im Jahr 2004, Tschetniks mit den Partisanen rechtlich gleichzustellen (S. 87f.).

Kuljićs wichtiger Versuch eines Vergleichs der Erinnerungskulturen in den postjugoslawischen Staaten enthält jedoch einige Fehler in jenen Analysen, die über den serbischen und montenegrinischen Fall hinausgehen. Neben für den Inhalt irrelevanten Ungenauigkeiten, wie der Formulierung vom „Anfang des 21. Jahrhunderts in Srebrenica begangenen Verbrechen“ (S. 83), der Tatsache, dass Erzbischof Stepinac 1998 selig- und nicht heiliggesprochen wurde (S. 100) oder der Verwandlung der kroatischen Tageszeitung „Vjesnik“ in „Vijesti“ (S. 98) oder „Vesti“ (S. 105), finden sich in den Passagen über Kroatien auch faktische Fehler, die auf inhaltliche Schwächen verweisen. So wird der kroatische Premier Sanader einmal als „Präsident Sanader“ (S. 106) bezeichnet, und zugleich wird nicht zwischen den beiden wichtigsten Akteuren kroatischer Erinnerungspolitik der letzten Jahre unterschieden: dem Premier und Parteichef der „Kroatischen demokratischen Gemeinschaft“ (HDZ), der ehemaligen Tuđman-Partei, Sanader, und Präsident Stjepan Mesić. Kuljićs Kritik an der Indienstnahme des Antifaschismus für den kroatischen Staat seitens der HDZ, an Sanaders bereits zitiertem Slogan „Antifaschismus ja, Kommunismus nein“, ist unverzichtbar. Der von 2000-2010 amtierende Präsident Mesić hingegen vertrat trotz seiner kurzen Mitgliedschaft in der HDZ Anfang der 1990er-Jahre während seiner Amtszeit einen Antifaschismus, der dem von Kuljić eingeforderten ähnlich ist: So meinte Mesić bei der Gedenkveranstaltung in Jasenovac 2007, der Antifaschismus sei im Gegensatz zum Faschismus von der Idee her rein gewesen, während die bei Bleiburg 1945 von den Partisanen begangenen Verbrechen „einen Schatten auf diese helle Wange des Kampfes für die Freiheit“ geworfen hätten. Auch widersprach er öffentlich der Gleichsetzung der Opfer von Jasenovac und Bleiburg – eine Haltung, die Kuljić an anderer Stelle bei dem jüdischen Liberalen Slavko Goldstein positiv hervorhebt (S. 105f).

Unhaltbar ist auch, dass Kuljić das Ende der Ära des seit 1990 autoritär regierenden kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman 2001 statt 2000 mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ansetzt (S. 98f.). Dieser Fehler setzt sich inhaltlich darin fort, dass Kuljić kaum zwischen der Erinnerungspolitik der repressiven „kroatischen Demokratie“ der Tuđman-Ära und der Phase nach der Behebung der schwerwiegenden Demokratiedefizite nach 2000 trennt bzw. diese durcheinanderbringt: Die Behauptung, Ustaschen und kroatische Partisanen hätten im Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Organisationen für dasselbe Ziel – die kroatische Sache – gekämpft, die Kuljić als charakteristisch für die Post-Tuđman-Phase beschreibt (S. 97), war im Gegenteil das Hauptmerkmal der Tuđmanschen Vorstellung einer „nationalen Versöhnung“, während sich sein Nachfolger Mesić davon distanzierte. Auch ignorierte Tuđman Jasenovac keineswegs (S. 36), sondern wollte aus der KZ-Gedenkstätte in revisionistischer Manier eine „nationale Versöhnungsstätte“ machen, indem er die Knochen der Bleiburg-Opfer und jener aus dem „Heimatländischen Krieg“ der 1990er-Jahre dorthin umbetten wollte. Ferner ließ die HDZ bereits 1990 den Antifaschismus in der kroatischen Verfassung verankern und nicht erst 2002 (S. 105), was jedoch nichts daran ändert, dass der Antifaschismus in der Tuđman-Ära ein Lippenbekenntnis blieb, während realpolitisch der Ustascha-Staat als Meilenstein auf dem Weg zur kroatischen Unabhängigkeit betrachtet und damit verharmlost wurde.

Sinnvoll wäre ferner eine Reflexion der Frage gewesen, welche der analysierten Phänomene (post)jugoslawische Besonderheiten darstellen und bei welchen es sich um allgemeine Mechanismen der Indienstnahme der Vergangenheit für identitätsstiftende Zwecke der Gegenwart handelt. Zu überdenken wäre die Behauptung, die ethnischen Säuberungen der 1990er Jahre seien eine indirekte Folge „der tief im kulturellen Gedächtnis der verschiedenen Balkanländer verankerten Grenzwächter-Mentalität“ (S. 46). Das Selbstverständnis als Vorposten des Christentums ist sicherlich keine postjugoslawische Besonderheit. Für diese Frage relevanter erscheint der Hinweis, dass „während den Bürgerkriegen der neunziger Jahre lange zurückliegende, vergessene oder bis dato kaum beachtete Vergangenheitsbilder zurückgeholt, aktiviert und radikalisiert wurden“ (S. 33). Warum dies möglich war, lässt sich jedoch nicht beantworten, wenn man, wie Kuljić, Tito bloß als einen „geschickten Staatsmann, der Fehler machte“ (S. 72) und das sozialistische Jugoslawien als „konfliktarme Zeit“, die nun pauschal dämonisiert werde (S. 77), charakterisiert.

Auch das traditionsmarxistische Verständnis des als Faschismus bezeichneten Nationalsozialismus als „barbarischen Extremfall des Nationalismus“ (S. 111), dessen sozioökonomische Ursprünge im Kapitalismus ruhen (S. 112) ist unproduktiv – insbesondere da Kuljić selbst an anderer Stelle auf die Debatte „über die Beispiellosigkeit der Nazi-Verbrechen“ (S. 101) hinweist. Ferner kritisiert er einerseits die unter Gerhard Schröder vorgenommene „Etikettierung Miloševićs als ‚Faschisten‘“ (S. 101) als Ideologisierung des NATO-Angriffs, um selbst an anderer Stelle ohne weitere Erklärung von „heutigen Faschismen“ (S. 115) zu schreiben – was jedoch der Dämonisierung des Feindes Tür und Tor öffnet.

Ungeachtet dieser zu kritisierenden Punkte ist Kuljićs Kritik der Indienstnahme der Geschichtswissenschaft und der Intellektuellen für die nationalen Opfermythen jedoch ebenso zuzustimmen wie seinem Plädoyer für eine kritische Historiographie, die die Verbrechen der eignen Nation nicht relativiert – etwa durch die ex post Annahme, der Zusammenbruch Jugoslawiens und seine Folgen hätten schon im Vorhinein festgestanden. Der Autor fordert eine „Symmetrie der Erinnerung“, die die verschiedenen Ereignisse keineswegs miteinander gleichsetzen muss (S. 170), sondern vielmehr den unterdrückten und verfälschten Erinnerungen einen Platz im sozialen Gedächtnis zuweist. Wie wichtig der Befund ist, jemand müsse bei der „ausgewogenen Erinnerung“ den Anfang machen (S. 172), bezeugen die Anfeindungen von Kuljićs Veröffentlichungen in Serbien, wobei der Bürgerkrieg der Erinnerungen in anderen postjugoslawischen Staaten in ähnlicher Weise tobt.

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