Titel
Living with Jim Crow. African American Women and Memories of the Segregated South


Autor(en)
Brown, Leslie; Valk, Anne
Reihe
Palgrave Studies in Oral History
Erschienen
New York 2010: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 24,22
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Orban, Historisches Seminar, Universität Erfurt

„The problem of the Twentieth Century is the problem of the color-line.“ W. E. B. Du Bois‘ (1868-1963) gerne und oft zitierte Diagnose ist ungleich mehr als die wissenschaftlich fundierte Feststellung eines afroamerikanischen Historikers: Sie kann als erfahrungsbasierte Handlungsanleitung für ein umkämpftes politisches Leben als Public Intellectual, Bürger- und Menschenrechtsaktivist, schwarzer Nationalist und Panafrikanist gelesen werden. Du Bois setzte sich insbesondere mit afroamerikanischem Leben während der Segregation sowie der konfliktreichen Identitäts- und Subjektbildung von African Americans im „Jim Crow“-Süden kritisch auseinander. „Leaving, then, the white world, I have stepped within the Veil, raising it that you may view faintly its deeper recesses“, wie er im Vorwort zu „The Souls of Black Folk“ (1903) schrieb. Auf diese Weise machte er eine ungleiche Parallelwelt sichtbar, gab Einblicke in sie und zeigte, was Schwarzsein in einem weißen Amerika bedeutete – nicht zuletzt, um ein progressives Ethos des „upbuilding“ herauszustreichen. 1

Wenn auch weniger agitierend und protestorientiert als Du Bois, so ist „Behind the Veil: Documenting African American Life in the Jim Crow South“ nicht nur dem Titel nach als Forschungsprojekt seinem Programm verpflichtet. In mehr als 1.200 Interviews, verteilt auf elf Bundesstaaten, wurden in den 1990er-Jahren African Americans von Graduate Students der renommierten Duke University über ihre öffentlichen und privaten Leben im segregierten US-amerikanischen Süden befragt. 2 Aus dieser umfangreichen und wertvollen Sammlung an Erzählungen, Erinnerungen, Beobachtungen und Reflexionen ist nun erstmals ein beachtenswertes Buch hervorgegangen, „Living with Jim Crow“, das sich ausschließlich den Erfahrungen und Perspektiven afroamerikanischer Frauen widmet. Denn, wie die Herausgeberinnen Anne Valk (Brown University) und Leslie Brown (Williams College), die beide maßgeblich am „Behind the Veil“-Projekt partizipierten, in Reminiszenz an Du Bois herausstellen: „Women were the exemplars of upbuilding and uplift“ (S. 114). Folglich nehmen die beiden Historikerinnen Frauen als Akteurinnen, als denkende, handelnde, sich ihrer selbst bewusste Subjekte ernst – nicht nur im Hinblick auf schwarze Familien und Communities, sondern generell für das ökonomische, soziale, kulturelle und politische Leben von African Americans im segregierten Süden. Gerahmt von einem methodisch-theoretischen wie inhaltlichen Einführungskapitel und einem kurzen Schlusswort beleuchten fünf thematisch strukturierte Hauptkapitel die vielschichtig ausdifferenzierte, niemals statische oder homogene afroamerikanische Seite der „color-line“. Genauer gesagt wird die temporär stabile, zugleich fluide und räumlich-zeitlich variierende Textur des Alltagslebens schwarzer Mädchen und Frauen entlang folgender Sujets punktuell aufgefächert: Aufwachsen und Erziehung im „Jim Crow“-Süden; hegemoniale Geschlechterrollen und Sexualität; Ausprägungen und Bedeutung (un)bezahlter Arbeit; institutionelles Leben und kulturelle Räume; sowie Widerständigkeit und Kämpfen für sozialen und politischen Wandel. Es werden demnach ausgewählte Facetten von „Living with Jim Crow“ aufgezeigt, die, dies sei hier betont, eng und vielfältig miteinander verflochten und nicht ausschließlich als Effekte von „Race“ zu verstehen sind. Man denke etwa an die geschlechtlich imprägnierte, mit sozialer Klasse verlinkte und rassialisierte harte körperliche (Lohn- und Haus)Arbeit afroamerikanischer Frauen, bei der es sich also keineswegs nur um ein Problem der „color-line“ handelt, sondern vielmehr um ein Zusammenwirken verschiedener Kräfte. Daher wird inhaltlich-thematisch ein breites Spektrum bedient: Familie, Nachbarschaft, Gesundheit und Schönheit seien als weitere Themenfelder genannt. Zugleich präsentieren Valk und Brown, methodisch-theoretisch gelesen, ein damit verschränktes Set an verschiedenen, miteinander verwobenen Differenzkategorien, wobei solche Achsen wie Alter, Religion, Region, lokale Räumlichkeit und politische Orientierung dazu beitragen, monolithische Vorstellungen von afroamerikanischem Leben im segregierten Süden aufzubrechen und zu dezentrieren. Durch diese Akzentuierung von Diversität und einer Varietät an Erfahrungen, mitunter entlang verschiedener Rollen und Lebensphasen schwarzer Frauen, können sonach unzureichende Generalisierungen herausgefordert werden. Gleichwohl ist es gleichzeitig wichtig und richtig, so etwas wie eine kollektive Vergangenheit zu konstatieren, die afroamerikanische Frauen als Gruppe, über unterschiedliche Lebenswege hinweg, nachhaltig verbindet. Denn in einer patriarchalischen, hierarchischen, rassialisierten Gesellschaft und durch die damit verknüpften, kombinierten Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen wurden ihnen distinkte Positionen und Funktionen zugewiesen und zugeschrieben. Zumal dieser geteilte Erfahrungshintergrund, trotz etwa klassenspezifischer Differenzen und Dissonanzen, vor allem ein notwendig-gelebtes Bewusstsein der Kooperation, Solidarität und Einheit mit hervorbrachte – als African Americans, aber auch speziell als afroamerikanische Frauen.

Eine große Stärke von „Living with Jim Crow“ liegt nun darin, dass jenes Du Bois’sche Ethos sowie die aufgeworfenen rhizomatischen Machtbeziehungen anhand autobiografischer Äußerungen personalisiert erfahrbar gemacht werden. So handelt es sich bei dem Buch zuvorderst um eine Sammlung sorgsam edierter Interviews mit 47 afroamerikanischen Frauen, die zwischen 1900 und 1947 geboren wurden, im segregierten Süden aufwuchsen und sozialisiert wurden, Wandel und Kontinuitäten erlebt, durchlebt, ja überlebt haben und in den 1990er-Jahren in zehn südlichen Bundesstaaten im Rahmen von „Behind the Veil“ zu ihren persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen befragt wurden. Dies beschreibt ein zentrales Anliegen des in der Reihe „Palgrave Studies in Oral History“ erschienenen Bandes (wie generell von Oral History); schließlich geht es Valk und Brown darum, gelebte Erfahrungen und individuelle Stimmen vergleichsweise unterprivilegierter und unsichtbarer Menschen einzubeziehen, sie als Handelnde ernst zu nehmen, aber auch kritisch-analytisch zu hinterfragen. Obschon diese persönlichen Darstellungen und Informationen, oft aus erster Hand, zumeist nicht verifizierbar sind, bieten sie uns rare Perspektiven auf die „inner workings of black southern life that were often invisible except “behind the veil”“ (S. 2). Diese sind besonders wertvoll, da die Dimensionen des Alltagslebens während der „Jim Crow“-Ära, etwa geschlechtlich konnotierte oder rassialisierte Aspekte und Praktiken, in Tiefe, Detail sowie aus afroamerikanischen Sichtweisen nach wie vor eher unterbeleuchtet erscheinen und recht häufig gar nicht dokumentiert sind bzw. schriftlich fixiert wurden. 3 Zudem tragen die überwiegend in Mehrgenerationensettings lebenden Informantinnen mit ihren Erzählungen, welche die Markierungen der gesetzlichen Segregation zwischen 1896 („Plessy v. Ferguson“) und 1954 („Brown v. Board of Education“) deutlich transzendieren, nicht nur dazu bei, die Geschichte von Praktiken, Personen und Institutionen fassbarer zu machen, sondern sie liefern auch ganz einfach wichtige empirische Befunde, Anhaltspunkte und Hinweise für die bisherige und zukünftige historische Forschung, um unser Verständnis von afroamerikanischem (Frauen)Leben im segregierten US-amerikanischen Süden zu erweitern und verbessern.

Valk und Brown haben allerdings nicht ausschließlich wissenschaftliche Fachkreise und Studierende als Publikum im Blick, sondern richten sich mit „Living with Jim Crow“ auch an eine breitere lesende Öffentlichkeit. Das Buch möchte interessante wie signifikante historische Materialien möglichst weitläufig zugänglich machen und auf diese Weise über ein oft tabuisiertes oder entpolitisiert-verklärtes, unabgeschlossenes Kapitel US-amerikanischer Geschichte informieren. Um dies zu leisten und zu erleichtern, wurden die fünf interviewbasierten Hauptkapitel hinsichtlich der Leser/innen/führung mit thematischen Einführungstexten versehen. Zudem finden sich zu den einzelnen abgedruckten Interviewauszügen jeweils Vignetten, die die afroamerikanischen Frauen kurz vorstellen, verorten und lesefreundlich inhaltlich-textuelle Foki pointieren. Überdies bedient das Einleitungskapitel gezielt methodisch-theoretisch informierte Ansätze und Erwägungen, etwa Fragen kultureller Produktion und Repräsentation, die darauf abzielen, den Worten der Erzählerinnen sowie Unausgesprochenem analytische Perspektiven zu verleihen. Ansprechend ist hierbei, dass Valk und Brown die obligatorische Problematisierung von Oral History zugunsten der historischen Bedeutsamkeit und kulturellen Bedeutungen der Interviews nicht überstrapazieren. „Oral sources tell us not just what people did, but what they wanted to do, what they believed they were doing, and what they now think they did“ (S. 6), wie sie feststellen. Die Interviews sind folglich, auch wenn dies keine wirklich innovative Erkenntnis darstellt, als bedeutungsvolle Äußerungen einzelner Frauen zu lesen, deren Selbstverständnis ihre Erinnerungen als partielle Rekonstruktionen von Vergangenheit nach Maßgabe gegenwärtiger Umstände, Bedürfnisse und Deutungen mit geformt hat. Was in den Interviews wie besprochen und priorisiert wird oder unausgesprochen bleibt (sehr persönliche Themen etwa), korreliert neben den komplexen Interview-, Aufnahme-, Transkriptions- und Edierungsprozessen also sehr stark mit dem Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Nexus. Möchte man dies abschließend produktiv wenden, so kann eine Dialektik aus Zufriedenheit, Fortschritt und Optimismus sowie Bedenken, Zweifeln und kritischem Hinterfragen ausgemacht werden – die in engem Zusammenhang mit erfolgreichem gesellschaftlichem Wandel und zugleich unerfüllten Versprechen von Gleichheit steht. Denn auch im 21. Jahrhundert, der Ära Michelle und Barack Obamas, bleibt Du Bois‘ „color-line“ ein problematischer Tatbestand US- und insbesondere afroamerikanischen Lebens. „[T]he revolution is not complete“ (S. 175). Gleichwohl steht das Projekt der gesellschaftlichen Transformation keineswegs still, wofür afroamerikanische Frauen weiterhin einen gewichtigen Beitrag leisten.

Anmerkungen:
1 W. E. B. Du Bois, The Souls of Black Folk. Essays and Sketches, Chicago 1903, S. viif. Siehe auch Robert Gooding-Williams, In the Shadow of Du Bois. Afro-Modern Political Thought in America, Cambridge 2009; Edward J. Blum / Jason R. Young (Hrsg.), The Souls of W. E. B. Du Bois. New Essays and Reflections, Macon 2009; und David Levering Lewis, W. E. B. Du Bois. Biography of a Race, 1868-1919, New York 1994; ders., W. E. B. Du Bois. The Fight for Equality and the American Century, 1919-1963, New York 2000.
2 Die Gespräche wurden in Alabama, Arkansas, Florida, Georgia, Kentucky, Louisiana, Mississippi, North Carolina, South Carolina, Tennessee und Virginia von weiblichen und männlichen multiethnischen Studierenden geführt und auf Tape aufgenommen. Ein Drittel der im „John Hope Franklin Research Center for African and African American History and Culture“ (an der Duke University, in Durham, NC) verfügbaren Interviews liegt bisher in transkribierter Form vor.
3 Beispielsweise wurde der Zugriff auf Pepsi- oder Coca-Cola vielerorts entlang von „Race“ reglementiert. Anderenorts war es afroamerikanischen Frauen untersagt Auto zu fahren. Dies punktiert „Jim Crow“ als habituelles, rassiales und geschlechtlich imprägniertes Profiling.

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