O. Löding: "Deutschland Katastrophenstaat"

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Titel
"Deutschland Katastrophenstaat". Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik


Autor(en)
Löding, Ole
Reihe
Studien zur Popularmusik
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 36,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa Geisthövel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Den Titel seiner literaturwissenschaftlichen Dissertation hat Ole Löding einem Song der Punkband Abwärts entnommen. „Computerstaat“ (1980) verweist jedoch nur in einer Zeile auf die Zeit des Nationalsozialismus: „Stalingrad, Stalingrad/Deutschland Katastrophenstaat“. Schlüssige politische Statements waren kein Ziel von Punk. Im Mittelpunkt der Studie stehen deshalb andere musikalische Genres und jene Songschreiber-Interpreten, die sich als dezidiert politisch in einem linken, engagierten, progressiven Sinn verstanden. Ein Titel wie „Ach Deutschland, Deine Mörder“ (aus Wolf Biermanns „Drei Kugeln auf Rudi Dutschke“, 1968) oder „Et rüsch noh Kristallnaach“ (aus BAPs „Kristallnaach“, 1982) hätte dem Material der Studie mehr entsprochen.

Im ersten Teil, der konzeptionellen Fragen gewidmet ist, erörtert Löding ausführlich die Textgattung Politischer Song. Da er politische Songs „als Indikatoren gesellschaftlichen Bewusstseins von der Vergangenheit und als Teil der Produktion des kulturellen Gedächtnisses“ versteht (S. 18), skizziert er zudem die Geschichte der bundesdeutschen „Vergangenheitsdiskurse“, auf die er im Verlauf der Arbeit immer wieder Bezug nimmt. Der zweite Teil verfolgt die Wandlungen des NS-Themas im politischen Song und ist seinerseits in vier Phasen unterteilt.

In der ersten Phase zwischen 1964 und 1968 reagierten Löding zufolge Liedermacher oder Musikpoeten wie Wolf Biermann (der sich selbst nicht als Liedermacher sieht) auf das Beschweigen des Nationalsozialismus in der zu jener Zeit verbreitetsten Form des Songs, dem Schlager. Den Auftakt markierte das Festival „Chanson Folklore International“ auf der Burg Waldeck im Jahr 1964, das als Renaissance des deutschsprachigen politischen Songs nach dem Zweiten Weltkrieg gilt. Im Umfeld von Studentenbewegung und außerparlamentarischer Opposition entwickelten Franz Josef Degenhardt, Walter Mossmann, Dieter Süverkrüp und Wolf Biermann (der zunächst noch in der DDR lebte, aber in der Bundesrepublik auftrat und veröffentlichte) die Deutungsmuster, die das Bild des Nationalsozialismus im politischen Song bis Ende der 1970er-Jahre prägten. Im Zentrum stand die marxistische Interpretation des „Faschismus“, die sich zugleich als Gegenwartsanalyse ausgeben konnte. Über das kapitalistische „System“ ließen sich Kontinuitäten bzw. Parallelen zwischen nationalsozialistischer Vergangenheit und bundesrepublikanischer Gegenwart herstellen. Nicht konkrete historische Akteure personifizierten vergangene und aktuelle Gewaltherrschaft, sondern anonyme Sozialtypen (der Großindustrielle, der Politiker, der Professor), die als Täter und opportunistische Mitläufer agierten. Als Opfer des Nationalsozialismus traten ausschließlich Kommunisten und Sozialisten sowie Deserteure, Partisanen und Widerstandskämpfer in Erscheinung. Anspielungen auf den Holocaust dienten lediglich dazu, die linksoppositionellen Kräfte der Gegenwart an die Stelle der unterdrückten, von Auslöschung bedrohten Minderheit zu setzen.

Dabei ragte „1968“ in keiner Weise heraus, sondert bildete den Abschluss einer Phase, die von der darauf folgenden vor allem durch musikalische Veränderungen zu unterscheiden sei. „Nach der Revolte 1968–1979“, so Lödings Überschrift, trat die deutschsprachige Rockmusik auf den Plan. Mit dem Politrock, der starke Überschneidungen zum Straßen- und Aktionstheater aufwies, entstand eine Strömung, die Rockästhetik gezielt zur Vermittlung politischer Botschaften einsetzte. Politrocker wie Floh de Cologne und die in Westdeutschland stark rezipierte Wiener Formation Schmetterling rücken in Lödings Analyse neben die Liedermacherfraktion, zu der mit Konstantin Wecker auch der neue Mundart-Trend hinzukam. Inhaltlich betont Löding die Kontinuitäten zu den 1960er-Jahren, registriert aber auch einige Verschiebungen: Die Faschismuskritik trat noch stärker als Abrechnung mit dem Kapitalismus hervor. Das Songpersonal bestand nun auf der Täter- wie auf der Opferseite aus exemplarischen, namhaft gemachten Einzelpersonen. Außerdem wurde die schulische Vermittlung nationalsozialistischer Vergangenheit in den 1970er-Jahren ein musikalisches Thema.

Ein nennenswerter Umbruch passierte Löding zufolge erst in der „Zeit des Übergangs 1979–1989“, als sich sowohl die westdeutsche Erinnerungskultur als auch die musikalischen Strukturen veränderten. Auf der einen Seite sieht Löding mit Norbert Frei einen Wechsel von der enthüllenden „Vergangenheitsbewältigung“ zur „Vergangenheitsbewahrung“, die eine gesellschaftliche Debatte über das „richtige“ Gedenken auslöste. Auf der anderen Seite begann deutschsprachige Pop- und Rockmusik ein heterogenes Massenpublikum zu erreichen. Dazu zählten die Neue Deutsche Welle und der Deutschrock mit Vertretern wie Heinz Rudolf Kunze, Herbert Grönemeyer oder der Kölner Mundartband BAP, die mit „Kristallnaach“ einen kommerziell durchschlagenden Song über den Nationalsozialismus herausbrachte. Während Franz Josef Degenhardt und andere Protagonisten der 1960er-Jahre weiterhin aktiv waren, in den Massenmedien aber marginalisiert wurden, konnten etwa Konstantin Wecker und Reinhard Mey das Liedermacherformat erfolgreich transformieren.

Generell folgte auch diese Generation des politischen Songs dem Interpretament der Gegenwärtigkeit des Faschismus. BAP führte in „Kristallnaach“ das Kapitalismus-Motiv weiter, verband es aber mit dem für diese Phase typischen psychologischen Deutungsmuster: Die Gefahr einer erneuten Faschisierung der Gesellschaft erwachse aus einer unterwürfig-aggressiven Persönlichkeitsstruktur der Deutschen bzw. aus Gewaltlust als Conditio Humana. Die Perspektive weitete sich häufig zu einem Panoramablick auf die Geschichte, die etwa bei Konstantin Wecker eine Linie von der Hexenverfolgung über den Holocaust bis zum „Radikalenerlass“ bildete (S. 336). Angesichts von Schlussstrichdebatten und erstarkendem Neonazismus zogen die meisten Songschreiber ein düsteres Fazit der „Vergangenheitsbewältigung“. Mit dem ersten Rock-gegen-Rechts-Konzert im Jahr 1979 institutionalisierte sich die rockmusikalische Intervention gegen neofaschistische Tendenzen. Unterhaltungskünstler wie Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen und die bereits genannten anderen Deutschrocker sprachen gezielt ein jugendliches Publikum an, das sie in der Gefahr sahen, von rechtsextremen Demagogen verführt zu werden. Während die Songs diese „Rattenfänger“ schlicht dämonisierten, erschienen die alternden Täter von einst dagegen zunehmend als lächerliche Figuren des Scheiterns. Eine andere thematische Spur folgt dem Problem, angemessene Orte und Praktiken des Gedenkens zu finden. In der verstärkten Hinwendung zu Figuren des Widerstands, insbesondere den Edelweißpiraten und der Weißen Rose, sieht Löding die „Suche nach Anknüpfungspunkten für eine positive deutsche Normalidentität“ (S. 411) unter Beibehaltung einer grundsätzlich kritischen Haltung.

Das gilt auch für einen weiteren Aspekt, der in den 1980er-Jahren im politischen Song auftauchte und nach 1989/90 zu einem zentralen Topos des Vergangenheitsdiskurses wurde: Flucht und Vertreibung, die Opferperspektive der Nicht-Opfer. Das letzte, ausblicksförmige Kapitel zur „Gegenwart der Vergangenheit nach der Wiedervereinigung“ zeigt, dass auch die neuen Musikrichtungen der Jahre zwischen 1990 und 2010 das Thema Nationalsozialismus aufgegriffen haben, während sich der Trend zur Historisierung fortsetzt. Der Warnungen des politischen Songs beziehen sich nun weniger auf einen konkreten Faschismusverdacht als auf die allzu selbstbewusste wiedervereinigte Nation und die Gefahr der Geschichtsvergessenheit. Jüngere Songwriter ironisieren zudem die massenmediale Verwertung der aufklärerischen Geste, etwa die Fokussierung auf Hitler.

Als durchgängige Leerstelle der politischen Songs in allen vier Phasen benennt Löding die nichtpolitischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle oder „Erbkranke“ kommen gar nicht vor, die Juden nur als Verweis auf die Unterdrückung der eigenen Klientel. Eine Ausnahme bildet hier Wolf Biermann, der in den 1980er-Jahren die Ermordung seines Vaters in Auschwitz wiederholt thematisierte.

Löding formuliert die Leitfrage, „inwiefern deutschsprachige politische Songs als Spiegel der Werte, Überzeugungen und Einstellungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft hinsichtlich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu lesen sind“ (S. 18). Er legt eine minutiöse werkimmanente Ausdeutung einer Vielzahl von Songs vor, die er nicht auf Texte reduziert, sondern in der Regel auch als Zusammenspiel von Text, Musik und Performance betrachtet. Leider liegen Produktionsbedingungen und Rezeption damit außerhalb seiner Fragestellung. Nur am Rande erfährt man etwas über die sozial- und kulturgeschichtliche Bedeutung der Musik(polit)kultur, in der die politischen Songs situiert waren, etwa die Festivals oder Rock gegen Rechts. Ganz ausgespart bleibt der Ort des politischen Songs auf dem Musikmarkt. Auch zur Rezeption bei Auditorien, in der Musikkritik oder in der allgemeinen medialen Gesellschaftsbeobachtung hätte man gern mehr gewusst. Diese kann man sich in groben Zügen zusammenreimen, wo Liedermacher in den 1960er-Jahren eng verbunden mit dem Protestmilieu agierten. Aber mit welchen Aneignungsweisen muss man rechnen, wenn ein heterogenes Publikum angesprochen wird oder sich der Schlagersänger Udo Jürgens zur nationalsozialistischen Vergangenheit äußert („Lieb Vaterland“, 1971, S. 174; „Auf der Straße der Vergessenheit“, 1971, S. 310-313)?

Ob Songs die „meistkonsumierte Literatur der Bundesrepublik“ waren (S. 20), sei dahingestellt. Zweifellos handelt es sich aber um eine außerordentlich breit rezipierte Quellengattung, die HistorikerInnen bisher zu wenig interessiert hat. Lödings Buch könnte einen Anstoß geben, sich in der Zeitgeschichte endlich konsequent mit den „Massenkünsten“ (Kaspar Maase) zu beschäftigen.