C. Schnurmann: Vom Inselreich zur Weltmacht

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Titel
Vom Inselreich zur Weltmacht. Die Entwicklung des englischen Weltreiches vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert


Autor(en)
Schnurmann, Claudia
Erschienen
Stuttgart 2001: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 29,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann

Die jüngst entfachte Debatte über die Geschicke Afrikas wirft einmal mehr die Frage auf, welchen Anteil die ehemaligen Kolonisatoren am unvermindert heillosen Zustand eines ganzen Kontinents haben. Bereits nach dem 11. September setzte Tony Blair in diesem Zusammenhang zumindest rhetorisch Akzente: da man die sozialen Wurzeln des Terrorismus schlechthin nicht leugnen könne, müsse der Westen alles tun, um gerade die vergessenen Völker des Nahen Ostens und Afrikas endlich in den Genuss politischer Stabilität und ökonomischer Entwicklung kommen zu lassen. Dass ausgerechnet der Premierminister der ehedem prominentesten Imperialnation eine Lanze für mehr globale Gerechtigkeit brach, hat Sinn. War es doch Großbritannien, das mit seinem Ausgreifen nach Übersee wesentlich zur Vernetzung einzelner Weltregionen beitrug und deshalb auch den bohrenden Fragen nach der Verantwortung für die fortwährende Malaise der unterentwickelten Staaten nicht leichtfertig ausweichen kann.

Claudia Schnurmann skizziert in ihrer interessant formulierten Überblicksdarstellung den verschlungenen Weg Englands vom obskuren Inselvolk an der unwirtlichen Peripherie des skandinavischen Kraftfelds zur Weltmacht – und zurück. Mit dem Hauptaugenmerk auf Mittelalter und Früher Neuzeit rückt Schnurmann vor allem zwei Gesichtspunkte ins Zentrum: die Rolle von Mythen im Prozess des nation-building und der Expansion 1 sowie die Beziehungen Englands zum Kontinent. Seit der normannischen Eroberung 1066 treibt England die panische Furcht vor neuen Invasoren um, deren regelmäßige Abwehr dann – 1588, 1797/8 oder 1940 – einer Art Wagenburgmentalität Vorschub leistet und die Fama von „this sceptred isle“ jeweils von neuem beglaubigt. Seit der Magna Charta 1215 gilt es ferner, den englischen Sonderweg hin zu einer Freiheit und Eigentum ehrenden Nation gegen alle Unterwanderungsversuche vonseiten despotischer Könige oder subtiler Eurokraten zu verteidigen. Seit der in fünf Varianten durchdeklinierten Reformation schließlich verdichtete sich die englische Selbstwahrnehmung zu einem konfessionell-kommerziellen Syndrom, das in der Eindämmung lästiger Handelskonkurrenz immer auch das Werk des Herrn zu tun glaubte.

Schnurmann beschreibt luzide Englands Schwanken zwischen insularer Selbstgenügsamkeit und europäischem Engagement, wobei die Motive für erstere sowohl in der sorgsam erwogenen Konzentration auf die innere Entwicklung nach einem Bürgerkrieg (Heinrich VII.) als auch im schieren Unvermögen eines nach herben innen- wie außenpolitischen Rückschlägen zur Raison gebrachten Monarchen (Heinrich VIII.) zu verorten sind. Ende des 16. Jahrhunderts gewann die Idee des Gleichgewichts, die sich in der Errichtung einer anti-invasorischen Barriere am niederländischen Kanalufer konkretisierte, zusehends an Kontur und avancierte im Verlauf der folgenden Jahrhunderte zur handlungsleitenden Maxime britischer Außenpolitik. Die sukzessive und eher planlose Erweiterung des Kolonialbesitzes machte London spätestens 1815 zur globalen Schaltzentrale, an der kein Weg mehr vorbeiführte, zumal seit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg (1689-1697) europäische Entwicklungen stets überseeische Rochaden nach sich zogen bzw. europäische Konflikte erst aus globalem Blickwinkel in ihre eigentliche Dimensionierung hineinwuchsen.

Schnurmanns Buch liest sich über weite Strecken wie ein Abriss der allgemeinen Geschichte Großbritanniens unter besonderer Berücksichtigung des Empire, wogegen nichts einzuwenden ist. Immerhin bemüht sich die neuere Forschung ja explizit um eine möglichst enge Verzahnung von metropolitaner und imperialer Geschichte, um die lange herrschende Vorstellung von der monadengleichen Existenz zweier Parallelhistorien zu relativieren. Allerdings verlässt Schnurmann ihre Urteilssicherheit, je näher sie sich an die Gegenwart herantastet. Abgesehen von faktischen Fehlern 2 müssen zahlreiche Einschätzungen, die Schlüsselereignissen der britischen Geschichte gelten, mit einem Fragezeichen versehen werden. Die afrikanische Kolonialbevölkerung als disponible „anonyme Masse“ (210) in den Händen raffinierter Imperialisten zu charakterisieren, kollidiert frontal mit inzwischen etablierten Forschungserträgen, die – ohne moralisierenden Unterton – für jegliche koloniale Expansion ohne bürokratischen Großapparat die Unabdingbarkeit der Kollaboration indigener Eliten herauspräpariert haben. Dem Vereinigten Königreich am Ende des Ersten Weltkriegs ähnlich wie schon 1815 eine auf Ausgleich bedachte und um Mäßigung bemühte Politik zu unterstellen, stößt sich an der von den berüchtigten Pressebaronen angeheizten, rachsüchtigen Stimmung im Vorfeld der Khakiwahlen vom Dezember 1918, deren Ausgang Lloyd George in Versailles wenig Kulanzspielraum ließ. Gerade die exorbitanten Forderungen Londons mündeten so auf Umwegen in den fatalen, von der deutschen Propaganda später weidlich ausgeschlachteten Kriegsschuldartikel 231, mit dessen Hilfe John Foster Dulles aus der US-Delegation zwar die britische Vergeltungseuphorie bedienen, gleichzeitig aber groteske finanzielle Forderungen mit dem solchermaßen gestillten Rachebedürfnis „verrechnen“ wollte. Churchills Zürcher Appell zur europäischen Einigung 1946 mit dem restlichen, „uneinsichtig auf seinen verlorenen Weltmachtstatus pochenden Großbritannien“ (228) zu kontrastieren, unterschätzt das Ausmaß der Herausforderung, trotz leerer Kassen und erschöpfter Ressourcen im aufziehenden Kalten Krieg eine hinreichend friedliche Dekolonisation auf die Spur zu setzen, und überschätzt Churchills pro-europäische Neigungen, die er während seiner zweiten Amtszeit als Premier offenbar geschickt zu verbergen wusste. Dass die Pax Britannica bei alledem nie in erster Linie ein altruistisches Kommandounternehmen zur Beglückung der Verdammten dieser Erde war, auch nach 1945 nicht, steht außer Frage. Schließlich leuchtet nicht ein, weshalb das Aufgehen europäischer Nationalstaaten in der EU quasi als Normalentwicklung postuliert wird, der sich letztlich auch Großbritannien beugen müsse, um wirtschaftlich nicht ins Hintertreffen zu geraten. Gerade weil die Londoner Börse 1945 nicht – wie von Schnurmann behauptet – ein für allemal den Stab an die Wall Street weiterreichte, sondern sich heute als Finanzplatz mit intensivster globaler Verflechtung keineswegs vor New York oder Tokio, geschweige denn Frankfurt, zu verstecken braucht, erscheint vielen Briten – von der Wirkkraft der eigentümlichen Selbstwahrnehmungsraster abgesehen – der unwiderstehliche ökonomische Sog immer neuer Integrationsstufen nicht unmittelbar plausibel.

Schnurmann entkoppelt bei ihrer Schilderung der britischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts innere und äußere Entwicklungsstränge zu sehr, als dass das Bild von den Britischen Inseln auf deren Weg von einer Imperialnation mit Weltgeltung zur europäischen Mittelmacht mit historisch bedingt weiterem Gesichtskreis noch dieselbe Tiefenschärfe besäße wie die überzeugenden Passagen zu Mittelalter und Früher Neuzeit. Der ebenso komplexe wie folgenschwere Prozess der Dekolonisation hätte eine ausführlichere Behandlung gelohnt, lässt sich doch an ihm plastisch veranschaulichen, welcher Stellenwert Mythen und Europa als den beiden von Schnurmann profilierten Triebfedern der historischen Entwicklung Großbritanniens bis heute zukommt.

Anmerkungen:
1 Zum Wechselspiel von Selbst- und diese stützende Fremdwahrnehmung vgl. Ian Buruma, Anglomania. Europas englischer Traum, München 2002.
2 Das Signum Made in Germany, ursprünglich zur Stigmatisierung deutscher Waren kreiert, erblickte 1887 (nicht 1896) das Licht der Welt. Pakistan wurde nicht erst 1948 selbständig, sondern wie Indien - und wie dieses als Spaltprodukt des Raj - 1947. Premierminister Attlee regierte – wenn auch zuletzt mit knappen Mehrheiten - bis 1951, nicht nur bis 1950. Dean Achesons ätzende, vielzitierte Kritik an einem Großbritannien, das nach dem Ende des Imperiums buchstäblich von der Rolle war, stammt aus dem Jahr 1962 und nicht aus den 1950ern. Im Übrigen sollte man die Nordirlandpolitik Blairs nicht schlankweg als erfolglos abkanzeln, denn trotz vereinzelter Gewaltausbrüche und verfassungsrechtlicher Volten erfüllt das Karfreitagsabkommen von 1998 seinen Zweck und beschränkt das sinnlose Morden weitgehend auf bandeninterne Abrechnungen – im irischen Kontext ein beträchtlicher Fortschritt.

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