Cover
Titel
Revolutionen und Reformen. Europa 1789-1850


Autor(en)
Fahrmeir, Andreas
Reihe
Beck`sche Reihe: bsr;1951
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Wolfgang Becker, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Geschichte in europäischer, gar globaler Perspektive zu schreiben, gehört zu den großen Herausforderungen des Historikers, der sich aus dem Korsett einer vermeintlich verstaubten Nationalgeschichtsschreibung befreien möchte. Fokussiert auf einen begrenzten Untersuchungsgegenstand, das europäische Deutungsmuster „Liberalismus“, hat Jörn Leonhard vor zehn Jahren eine Studie vorgelegt, die methodisch und in der geistigen Durchdringung beispielhaft für einen komparativen Ansatz im Bereich der historischen Semantik steht.1 Für längere Zeit unerreichbar bleibt wohl Jürgen Osterhammels Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts, welche der „Verwandlung der Welt“ in selbst entlegensten Spuren nachgeht und sie zu einem großen Panorama zusammenfügt.2

Neben Solitären dieser Art stehen die verdienstvollen Überblicksdarstellungen, die sich vor allem an Studierende wenden. Zahlreiche Bände der Oldenbourg-Reihe „Grundriss der Geschichte“ sowie das „Handbuch der Geschichte Europas“ bei UTB vermitteln solide Kenntnisse über bestimmte Zeitabschnitte europäischer Geschichte. Seit 2010 gibt nun auch der Verlag C. H. Beck eine zehnbändige Reihe „Geschichte Europas“ heraus. Unter einem europäischen, nicht nationalstaatlichen Blickwinkel sollen zentrale Entwicklungen eines ganzen Zeitalters vermittelt werden. Auf diese Weise werde deutlich, so der ambitionierte Verlagstext, „was ‚Europa‘ in den unterschiedlichen Epochen seiner langen Geschichte ausmachte und was für Vorstellungen jeweils mit dem Begriff verbunden wurden.“ (S. 2)

Andreas Fahrmeir erzählt europäische Geschichte im Zeitalter von Revolutionen und Reformen zwischen 1789 und 1850, genauer: europäische Geschichten! Denn schon in seiner Einführung macht er deutlich, dass im Europa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz ähnlicher Lebenserfahrungen in einer ländlich geprägten Gesellschaft die politischen, sozialen, religiösen, demographischen und ökonomischen Unterschiede zwischen und innerhalb der Staaten überwogen. Ansätze einer europäischen Identität konnten sich allenfalls an den Spitzen der Gesellschaft entwickeln, unter Monarchen, Adligen und Gebildeten, oder durch wissenschaftlichen Transfer und Handelsbeziehungen. Zu einer „emphatischen europäischen Identität“ (S. 20) fehlten hingegen die Voraussetzungen in den Gesellschaften Europas. Da Fahrmeir den Grad der Nationalisierung in Europa gering veranschlagt, werden Dorf, Stadt, Region, Königreich, mitunter gar die außereuropäischen Besitzungen zum vorrangigen Erfahrungsraum. Neuere Forschungen aufgreifend, stellt er das Narrativ infrage, nach dem die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts „als Geburtsstunde des modernen Bürgertums, des modernen liberal-demokratischen (National-)Staates und industrieller Produktionstechniken gelten darf.“ (S. 9) Als Signum dieser Epoche rückt die Darstellung den tief greifenden Wandel in den Mittelpunkt, der das soziale, politische und wirtschaftlich-industrielle Gefüge der vorrevolutionären Zeit in unterschiedlichem Ausmaße berührte.

Eine „histoire totale“ will und kann Fahrmeir auf knapp 300 Seiten nicht erzählen, stattdessen eine „in manchem traditionelle ‚Politikgeschichte‘“, die den Zeitraum zwischen 1789 und 1850 als eine „gemeinsame, von der Politik dominierte Geschichte“ (S. 10f.) auffasst. Mit dieser Vorentscheidung reduziert er die postulierte Vielfalt Europas freilich wieder und blendet bewusst wichtige Bereiche und Lebenswelten aus. Er kann sich damit aber auch auf seine Leitfrage konzentrieren, die über der Studie steht: Waren die Gewinner des wirtschaftlichen Wandels die Verursacher der politischen Revolutionen oder schufen die politischen Umbrüche erst die institutionellen Grundlagen für eine kapitalismusfreundliche Rechts- und Gesellschaftsordnung, die zu einer wirtschaftlichen Blüte führte? Was war zuerst: politischer Umbruch oder wirtschaftlicher Wandel?

Was nun folgt, ist eine Erzählung in drei längeren Abschnitten, die gängige Zeitschnitte widerspiegeln. Die politische Entwicklung steht im Vordergrund, angereichert durch wirtschaftliche und soziale Aspekte. Im Kapitel „Revolution (1789-1815)“ erfahren wir einiges über das Unruhepotential, das Europa schon vor 1789 erschütterte, über soziale und ökonomische Spannungen, die Revolutionen eher begünstigten als der Aufstieg eines neuen Bürgertums, und über politische Kontroversen, in denen über das Gewicht von Tradition und aufklärerischer Vernunft bei der Begründung von Verfassungen debattiert wurde. Kenntnisreich versteht es Fahrmeir, die Problemlagen in den einzelnen Ländern miteinander zu verknüpfen, doch zunehmend gerät seine Erzählung in den Sog der Französischen Revolution. Die politische Entwicklung Frankreichs wird zum Angelpunkt der Darstellung, die sich nun in bekannten Bahnen bewegt: die Entwicklung der Französischen Revolution, der Export revolutionärer Ideen und „Errungenschaften“ durch Krieg und den napoleonischen Expansionsdrang sowie die Suche nach einer postrevolutionären Stabilität. Hingegen die politische Kultur, welche die Französische Revolution für Europa begründete,3 die Symbol- und Bildwelten, welche die Revolution eröffnete, ja selbst das komplexe Verhältnis von Revolution, Reform, Modernisierung und Reaktion in den Rheinbundstaaten oder in Preußen, wie es Reinhart Koselleck in seiner immer noch anregenden Studie über Preußen beschrieben hat,4 all das und noch einiges mehr wird in dieser politischen Geschichte zu wenig angesprochen. Durchaus verdienstvoll ist dagegen, dass Fahrmeir im gesamten Band wiederholt die Beziehungen Europas zu überseeischen Territorien als einen Teil der europäischen Geschichte thematisiert.

Im zweiten Abschnitt „Reform (1815-1840)“, der freilich auch von zahlreichen Revolutionen und Unruhen handelt, steht zunächst die Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft im Vordergrund. Differenziert stellt Fahrmeir den Übergang in das industrielle Zeitalter und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Folgen dar, wobei sein Schwerpunkt auf der Erklärung der erfolgreichen Industrialisierung in Großbritannien liegt. Fahrmeir macht noch einmal deutlich, dass die Industrialisierung nicht zu einer Verschärfung der Massenarmut führte, aber in der zeitgenössischen Wahrnehmung der Pauperismus Anlass für ökonomische wie auch politische Problemdiagnosen und Lösungsvorschläge von Konservativen, Liberalen und utopischen Sozialisten bot. Politisch zeigte sich die Wiener Ordnung flexibel, unterdrückte in den 1820er-Jahren Revolutionen in Südeuropa oder unterstützte den griechischen Unabhängigkeitskampf. Die Revolutionen von 1830 reagierten in den einzelnen Staaten jeweils auf unterschiedliche Problemlagen und förderten in Westeuropa und Teilen Mitteleuropas die Parlamentarisierung und die Verbreiterung der Wählerschichten, vergrößerten aber auch die Kluft zwischen reaktionären und modernen Staaten. Von einem liberalen Aufbruch, gar einem „Triumph des Liberalismus in Europa“ möchte Fahrmeir nicht sprechen, schienen doch die monarchischen Staaten auf einen Kurs der Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen einzuschwenken, der wirtschaftlichen Aufschwung wie auch begrenzte politische Partizipation versprach.

Im letzten Abschnitt „Revolution? (1840-1850)“ führt Fahrmeir aus, wie Konflikte innerhalb des europäischen Staatensystems, die intensiver geführte Debatte über den Pauperismus, neue Formen von Öffentlichkeit in Vereinen wie auch ökonomische Krisen zu einer politischen Mobilisierung und zu einem Unruhepotential führten, die schließlich nur noch eines Anstoßes von außen bedurften. Angesichts der Vielfalt der Revolutionen erscheint Fahrmeir die Metapher der „Kettenrevolution“ wenig plausibel, doch ob mit dem Bild einer europäischen „Revolutionswelle“ mehr gewonnen ist, bleibt fraglich. Statt die Revolutionsverläufe in Europa anhand der jeweils treibenden sozialen Schichten zu systematisieren, werden die politischen Ziele der revolutionären Akteure auf drei Analyseebenen untersucht: Innenpolitik, Außenpolitik, Nationalbewegungen. Was damit gewonnen ist, bleibt unklar, doch lassen sich auch mit diesem Analyserahmen Verlauf, Probleme und Ergebnisse der Revolutionen von 1846 bis 1849 zuverlässig beschreiben. Auch wenn die Revolutionen aus Sicht der Demokraten und vieler Liberaler gescheitert waren, so Fahrmeirs Resümee, waren sie doch in einigen Ländern hinsichtlich Parlamentarisierung und Konstitutionalisierung partiell erfolgreich. Am Ende der Revolutionszeit hatte sich das Auseinanderdriften Europas in zwei Regionen verschärft: Dort, wo politische Reformen eingeleitet worden waren, welche die alte ständische Ordnung ins Wanken brachten, konnten sich wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftlicher Wandel einstellen; hingegen in den autokratischen Staaten, in denen diese Reformen ausblieben oder zurückgenommen wurden, konnte sich eine ökonomische und soziale Modernisierung nicht einstellen. Fahrmeir plädiert also dafür, eine freiheitliche Verfassungsordnung als Voraussetzung für wirtschaftliche und soziale Veränderungen zu nehmen.

Andreas Fahrmeir hat auf knappem Raum eine gut lesbare Geschichte des Zeitalters der Revolutionen und Reformen in Europa 1789-1850 geschrieben, die durch biographische Einschübe und kurze Ausblicke in spätere Zeiten anschaulich erzählt wird. Er berücksichtigt neuere Forschungen, welche mit allzu gängigen Deutungsmustern aufgeräumt haben, und vermag es, souverän wichtige Problem- und Handlungsstränge der Epoche herauszuarbeiten und im europäischen Kontext zu verorten. Ob die Bedeutung der Nationalbewegungen oder des liberalen Bürgertums wirklich so gering zu veranschlagen ist, darüber kann man anderer Auffassung sein; Fahrmeir macht jedenfalls deutlich, dass sich die Komplexität dieser dynamischen Epoche allzu einfacher und tradierter Interpretationen entzieht. Was aber nun „Europa“ in dieser Zeit eigentlich ausmachte, diese Leitfrage der Beck’schen Europa-Reihe bleibt in dem Band seltsam unterbelichtet – vielleicht die Folge eines Ansatzes, der vor allem dem Zusammenhang von politischen Umbrüchen und ökonomisch-sozialem Wandel nachgeht.

Damit hängt ein zweites Manko des Bandes zusammen, das eher der Reihen-Konzeption geschuldet ist: Die Ausweitung des Blicks auf Europa hat eine Verengung der Perspektive auf einen vor allem politikgeschichtlichen Ansatz zur Folge. Fahrmeir legt diese Einschränkung zu Beginn offen, doch ist damit auch klar: Dieser Band kann nur eingeschränkt als „Standardwerk für Studenten, Wissenschaftler und ein allgemein historisch interessiertes Publikum“ dienen, die der Verlag als Zielgruppe im Auge hat. Wenn die folgenreiche Herausbildung der politischen Strömungen und ihrer Gesellschaftsmodelle in dieser Umbruchszeit, wenn die Anfänge einer Fundamentalpolitisierung, wenn die Rolle von Religion und Konfession für Politik und Alltag, wenn die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten für Frauen und unterbürgerliche Schichten in Revolutionen, wenn die Persistenz und Innovation bei den Protestformen, wenn die Revolutionserfahrungen mit ihrer Verschränkung von Vergangenheitsbildern und Zukunftsorientierungen, wenn die Lernerfahrungen, welche aus Revolutionen gezogen wurden, wenn all dies und noch einiges mehr bewusst in den Hintergrund rückt, obwohl dazu eine reichhaltige Forschung vorliegt, dann kann der Band nur einen sehr verkürzten Blick auf diese Epoche Europas werfen. Sicherlich: Derart umfassend über die Geschichte Europas von 1789 bis 1850 auf knapp 300 Seiten zu informieren, kommt der Quadratur des Kreises nahe. Dass dies zumindest in zwei Bänden möglich ist, zeigen die beiden entsprechenden Bände in Oldenbourgs „Grundriss der Geschichte“, die umfassend über diesen Zeitraum informieren, Grundprobleme und Forschungstendenzen diskutieren und dazu noch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis bieten.5 Eine angenehmere, auch anregende Nachtlektüre über Europa 1789-1850 verspricht sicherlich der Band von Andreas Fahrmeir, doch wer als Student oder Wissenschaftler ein breiteres Bild von dieser Epoche gewinnen möchte, wird auf die Oldenbourg-Bände nicht verzichten können. Diese könnten freilich mal wieder eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage erfahren.

Anmerkungen:
1 Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001.
2 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
3 Rolf Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, Frankfurt am Mai 1998.
4 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 3. Auflage, Stuttgart 1981.
5 Elisabeth Fehrenbach, Vom Ançien Régime zum Wiener Kongress, 5. Auflage, München 2008; Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, 5. Auflage, München 2007.