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Titel
Flavius Ricimer. Macht und Ohnmacht des weströmischen Heermeisters in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts


Autor(en)
Anders, Friedrich
Reihe
Europäische Hochschulschriften 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 1077
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 84,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Stickler, Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Bereits seit einiger Zeit lässt sich beobachten, dass die Geschichte des 5. Jahrhunderts n.Chr. zunehmend in den Fokus der Forschung rückt. Gerade in Bezug auf das Weströmische Reich sind in den letzten Jahren wichtige Studien erschienen, die sich nicht nur mit Teilaspekten beschäftigten, sondern das große Ganze, auch die Frage nach den Gründen für den vielzitierten Untergang des römischen Imperiums in den Blick nahmen.1 Das Bestreben, die politische Struktur des Weströmischen Reiches besser zu verstehen, hat so etwa zu einer Reihe von Monographien zu den wichtigsten Heermeistern im 5. Jahrhundert n.Chr. geführt. Stilicho, Constantius und Aëtius sind auf diese Weise einer näheren Betrachtung für würdig erachtet worden.2 Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Reihe auch an Ricimer, den ‚starken Mann‘ des Westreiches während seiner letzten Phase, kommen würde.

Das Buch von Friedrich Anders schließt eine wichtige Lücke in der Forschung, denn die bisherigen monographischen Abhandlungen zu Ricimer vermögen heute nicht mehr zu befriedigen.3 Auf 550 Seiten unternimmt es der Autor, alle Aspekte des Wirkens des betreffenden Heermeisters zur Geltung kommen zu lassen. Anders weiß, dass eine biographische Darstellung im herkömmlichen Sinne im Falle Ricimers nicht möglich ist; zu dürftig ist das Quellenmaterial, das uns heute noch zur Verfügung steht. Er konzentriert sich deshalb in weiser Beschränkung darauf, die grundlegenden Strukturelemente von Ricimers Machtposition zu beschreiben und damit seine „Begrenzungen und Handlungsalternativen, also seine ‚Macht‘ und ‚Ohnmacht‘ als Heermeister aufzuzeigen und seinem Bild als Gestalt der römischen Spätantike schärfere Konturen zu verleihen“ (S. 23). Ich bin der Meinung, dass ihm dies in zumeist beeindruckender Weise gelungen ist.

Anders teilt sein Buch in insgesamt acht große Kapitel auf, die ihrerseits wiederum reich untergliedert sind. Im ersten Kapitel „Überblick über die bisherige Forschung zu Ricimer und Begründung des eigenen Vorgehens“ (S. 15–26) informiert er über den Forschungsstand und begründet sein methodisches Vorgehen. Anschließend stellt er unser Quellenmaterial vor („Die Quellen zu Ricimer und seiner Zeit“, S. 27–37). Das dritte Kapitel „Die Rahmenbedingungen für Ricimers Aufstieg im Weströmischen Reich“ (S. 39–72) legt die Grundlage für Anders’ eigentliche Darstellung. Es zeichnet ein zutreffendes Bild von der Lage, in dem sich das Weströmische und das Oströmische Reich Mitte des 5. Jahrhunderts befanden, und stellt die zentralen historischen Akteure vor, die auch für die Herrschaftszeit Ricimers Bedeutung erlangen sollten. „Vorbilder, Leitbilder, warnende Beispiele“ (S. 58) werden von Anders ebenfalls thematisiert – es handelt sich dabei um die Vorgänger Ricimers im Amt des magister utriusque militiae, die es gleich ihm mit mehr oder weniger Erfolg unternommen hatten, in der pars Occidentis des Römischen Reiches eine hervorgehobene Stellung einzunehmen.

Im vierten Kapitel („Ricimers militärische und politische Karriere im Weströmischen Reich“, S. 73–246) gibt Anders einen detaillierten Überblick zum Karriereverlauf seines Titelhelden. Ausgehend von dessen Herkunft, konzentriert er sich naturgemäß auf die Phase zwischen 456 und 472 n.Chr., als Ricimer eine zentrale Position im Machtgefüge des Weströmischen Reiches einnahm. Die folgenden drei Kapitel sind Themenkomplexen gewidmet, die für die Praxis von Ricimers Machtausübung zentrale Bedeutung hatten. Anders untersucht in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen Ricimer und der italischen Senatsaristokratie („Machtbasis Italien: Ricimer und die italischen Eliten“, S. 247–332), die Beziehung des Heermeisters zum weströmischen Kaisertum („Zwischen Kooperation und Konfrontation: Ricimer und das Kaisertum im Westreich“, S. 333–369) und schließlich Ricimers Politik gegenüber dem Oströmischen Reich sowie in Gallien, Nordafrika, Dalmatien, Spanien und an der Nordostgrenze („Zwischen Macht und Ohnmacht: Ricimers Reichspolitik“, S. 371–512). Die Darstellung schließt mit einem Ausblick auf die Zeit nach Ricimer („Schluss und Ausblick: Ricimer und das Ende des Weströmischen Reiches“, S. 513–523). Ein generelles Fazit unterbleibt, doch hat Anders am Schluss der einzelnen Kapitel immer wieder Resümees eingefügt (so auf S. 242–246, 329–332, 366–369 u. 506–512), die das bisher Erarbeitete übersichtlich zusammenfassen. Ein Quellen- (S. 525–531) und ein Literaturverzeichnis (S. 533–550) finden sich am Ende des Buches. Leider verzichtete Anders auf die Erstellung von Indizes; sie hätten die Benutzung des Werkes, das ja viele unterschiedliche Themen anschneidet, gewiss erleichtert.

In nahezu allen Ricimer betreffenden Fragen setzt Anders’ Studie wichtige Impulse. Zu Recht hebt er hervor, dass sich die eigentliche Macht des patricius daraus ergab, dass sie staatsrechtlich nicht fixiert war, vielmehr reguläre Amtsbefugnisse und informellen Einfluss wirksam kombinierte. Das heißt im Umkehrschluss natürlich, dass Ricimers Machtstellung nie ‚fertig‘ war, dass sie sich stets unter dem Einfluss der Gegebenheiten wandelte, wandeln musste und darum prekär blieb. Auch dies hat Anders überzeugend herausgearbeitet: Ricimer stieg nicht zum magister utriusque militiae und patricius auf, um in der Folge ein für alle Mal der ‚starke Mann‘ in Rom zu bleiben; er musste das einmal Erreichte vielmehr immer wieder verteidigen und erlebte dabei zahlreiche Erfolge, aber auch drastische Misserfolge. Die Zeiten, in denen er vergleichsweise unbelästigt von äußeren und inneren Pressionen schalten und walten konnte, dürften – wenn es sie überhaupt gab – selten gewesen sein.

Anders betont mit Recht, wie wichtig Italien und seine Senatsaristokratie für die Stabilität von Ricimers Herrschaftsposition gewesen ist. Die Bewahrung von libertas nach innen und securitas nach außen, beides bezogen auf Italien und seine führenden Schichten4, waren Grundmotive seiner politischen Tätigkeit. Hieraus erklärt sich, warum Ricimer Kontrahenten wie Majorian und Anthemius, die auch außerhalb des italischen Kernlandes aktiv sein wollten, entgegentrat und sie auch erfolgreich zu eliminieren vermochte. Eine jegliche gegen den patricius gerichtete Reichspolitik setzte hier an und musste es auch, um Ricimer gleichsam durch äußere Erfolge in seiner italischen Machtstellung zu erschüttern. Die Tatsache, dass dies nicht gelungen ist, ermöglichte das politische Überleben des Heermeisters. Es war teuer erkauft: Anders zeigt in seinem Kapitel über die Reichspolitik, wie der Spielraum der weströmischen Akteure außerhalb Italiens nach 456 immer mehr eingeschränkt wurde. Beim Tode Ricimers war „Italien nicht mehr das dominierende Kernland eines Imperiums, sondern nur eine Region unter mehreren […]. Ricimer als militärischem Oberbefehlshaber des Westreichs gelang es, in diesem Prozess zumindest die Integrität Italiens zu wahren“ (S. 512).

Kritikwürdiges findet sich selten. Manchmal neigt Anders ein wenig zu holzschnittartigen Erklärungen. Feste Faktionsbildungen innerhalb der italischen Senatsaristokratie werden zwar formal bestritten (S. 284ff.), im weiteren Verlauf erscheinen dann aber dennoch ‚die Decier‘ und ‚die Anicier‘ als Akteure. Der Not ausreichenden Quellenmaterials gehorchend, muss sich Anders des Öfteren auf Vermutungen stützen; er hätte dann getrost aber auf ans Spekulative grenzende Erörterungen verzichten können, auch wenn die Mutmaßungen der Forschungsliteratur ihn dazu anhielten (so beispielsweise zum Tode des Kaisers Libius Severus, S. 191ff.). So manches Versehen ist vielleicht einer schnellen Drucklegung geschuldet.5 All das beeinträchtigt jedoch in keiner Weise meine abschließende Einschätzung: Anders hat ein Buch geschrieben, das eine schmerzliche Lücke füllt, in vielerlei Hinsicht über den Forschungsstand früherer Jahrzehnte hinausweist und zu einer weiteren, intensiven Beschäftigung mit der Geschichte des 5. Jahrhunderts n.Chr. anregt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Bryan Ward-Perkins, The fall of Rome and the end of civilization, Oxford 2005 (deutsch: Der Untergang des Römischen Reichs und das Ende der Zivilisation, Darmstadt 2007) und Peter Heather, The fall of the Roman Empire, London 2005 (deutsch: Der Untergang des römischen Weltreichs, Stuttgart 2007).
2 Vgl. Werner Lütkenhaus, Constantius III. Studien zu seiner Tätigkeit und Stellung im Westreich 411-421, Bonn 1998; Timo Stickler, Aëtius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich, München 2002 und – letzteres allerdings mit Vorsicht zu genießen – Tido Janßen, Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395–408), Marburg 2004.
3 Es handelt sich um die Darstellungen von Annunziata Maria Papini, Ricimero. L’agonia dell’impero romano d’Occidente, Milano 1959 und Guy Lacam, Ricimer. Un Barbare au service de Rome, Paris 1986.
4 Die Motive finden sich sowohl in der Inschrift des Aëtius vor der Kurie in Rom, wohl aus der Zeit nach 439 n.Chr. (CIL VI 41389 = AE 1950, 30), als auch auf der Inschrift auf der Basis der Phokas-Säule auf dem Forum Romanum aus dem Jahre 608 n.Chr. (CIL VI 1200 = 31259 = ILCV 30 = ILS 837).
5 Vgl. u.a. S. 242: Arbogast ist 394 n.Chr. gestorben; S. 365, Anm. 1271: die Tochter Kaiser Leos I. hieß Leontia.

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