Cover
Titel
Caudillismus. Eine kurze Abhandlung anhand des La Plata-Raums


Autor(en)
Riekenberg, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
119 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Rinke, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin

‚Caudillo‘ ist eines der spanischen Wörter, die Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben. Fast jeder meint zu wissen, um was es sich handelt, doch kaum einer kann es genau definieren. In seinem neuen Buch bringt der Leipziger Lateinamerikahistoriker Michael Riekenberg auf 119 Seiten dieses Phänomen auf den Punkt, das Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt hat und über das ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Dies ist keine weitere Geschichte vom Typ „Heroes on Horseback“ und kein weiterer regionenübergreifender Überblick, von denen es schon jede Menge gibt, sondern eine Analyse, die die entscheidenden Elemente dieses für die Geschichte Lateinamerikas zentralen Phänomens überzeugend herausarbeitet.

Zunächst ordnet Riekenberg seinen Gegenstand begriffsgeschichtlich ein. Er weist darauf hin, dass das spanische Wort caudillo von Beginn an eine kriegerische Bedeutung trug und bereits im Spätmittelalter die Anführer bezeichnete, die im Grenzgebiet gegen die Mauren aktiv waren. Dabei handelte es sich nicht um einen offiziellen Titel, sondern um eine Bezeichnung informeller Führerschaft, die im 16. Jahrhundert auf die Konquistadoren in Amerika überging. Seit den Unabhängigkeitsrevolutionen fand der Begriff Caudillo wieder breite Verwendung mit zumeist pejorativem Unterton, wenngleich die so Bezeichneten sich daraus eine Ehrenbezeichnung konstruierten.

Im La-Plata-Raum, aus dem Riekenbergs Analyse ihr empirisches Material vor allem schöpft, auch wenn die Beispiele oft weit darüber hinausgehen, wurde Caudillismus schon Mitte des 19. Jahrhunderts in Sarmientos klassischem zwischen Literatur und soziologischer Studie schwankendem Werk Facundo erstmals aufgearbeitet und verurteilt. Die positivistische Historiographie des späten 19. Jahrhundert wertete den Caudillo dann als Ausdruck der „Psychologie des Volkes“ und als Ordnungsfaktor. Nach dem Zweiten Weltkrieg war eine vor allem von den USA ausgehende Geschichtsschreibung um die Erforschung autoritärer Traditionen in Lateinamerika bemüht, ehe sich seit den 1960er- und 1970er-Jahren mit dem Aufstieg der dependenztheoretischen und regionalhistorischen Ansätze eine Verlagerung der Perspektiven ergab.

Wie aber sahen die Interpretationen aus? Riekenberg teilt sie sinnvoll in vier große Stränge. Erstens, der herrschaftssoziologische Ansatz, der sich auf Max Weber stützt und den Faktor Charisma betont; zweitens, der sozialanthropologische Ansatz, der die Ursprünge des Caudillismus in Klientel- und Verwandtschaftsbeziehungen sucht; drittens, der funktionalistische Ansatz, der strukturelle Faktoren für die Ermöglichung des Phänomens anführt; viertens, der neuere Ansatz der „subaltern studies“, der die Akteursrolle subalterner Schichten in den Aushandlungen mit den Mächtigen in den Mittelpunkt rückt.

Riekenbergs eigener Ansatz baut darauf auf. Er versteht den Caudillismus als epochengebundenes Phänomen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erteilt damit all denen eine Absage, die den Begriff leichtfertig auf jegliche Form autoritärer Herrschaft in (und außerhalb) Lateinamerikas übertragen wollen. Caudillos, das waren für Riekenberg politische Akteure, die in einem bestimmten historischen Kontext, der sich durch den Zerfall der staatlichen Ordnung auszeichnete, durchsetzen konnten. Sinnvollerweise unterscheidet er dabei nach dem Hochland mit einer eher sesshaften Bevölkerung und dem Tiefland mit den typischen „frontier“-Situationen sowie nach „geschlossenen“, sich selbst versorgenden und „offenen“ Kriegsökonomien, die von außen alimentiert werden. Das Ende des Caudillismus führt Riekenberg auf die Konsolidierung des Nationalstaats sowie auf den wirtschaftlichen Strukturwandel zurück.

In den beiden folgenden Kapiteln beschreibt das Buch die spezifische Situation im La-Plata-Raum und zeichnet einige beispielhafte Caudillo-Karrieren nach. Es handelte sich um ein typisches „Grasland“ mit Viehreitertum und alltäglicher Gewalt. Überzeugend arbeitet Riekenberg heraus, dass die hohe regionale Mobilität der ländlichen Bevölkerung die Durchsetzung staatlicher Herrschaft verhinderte. Der Caudillo konnte sich allerdings auch nicht einfach als Ersatzinstanz durchsetzen, sondern war darauf angewiesen die sozialen Beziehungen zu seiner Klientel auszuhandeln. Am La-Plata-Raum kam noch die besondere Situation einer Grenzsituation gegenüber nicht unterworfenen Gruppen von Indigenen hinzu. In diesen staatsfernen Räumen entwickelte sich ein Gewaltmarkt, in dem Menschenraub, Schmuggel und Beutezüge an der Tagesordnung waren und in dem sich Caudillos als Gewaltunternehmer betätigten. Es entstand damit ein neuer, relativ autonomer Raum mit eigenen Regeln und Kommunikationsformen. Von außen wurde er in der Regel als chaotisch wahrgenommen, weshalb staatlicherseits schon früh – im 18. Jahrhundert – der Exterminationsgedanke aufkam.

In der Tat blieb die Organisation und Ausübung von unmittelbar physischer Gewalt ein zentrales Element des Caudillismus. Riekenberg spricht in diesem Zusammenhang von „somatischen Kulturen“, in denen die Sichtbarmachung der körperlichen Gewalt als Mittel zur Ausübung von Herrschaft zentral ist. Die Gewalt war demnach eine symbolische Handlung, die sowohl die Caudillos als auch ihre Gefolgschaft zu verwenden und zu lesen verstanden. Die Gewaltanwendung geschah zwar nicht durch eine zentrale Instanz, war aber auch nicht völlig regellos. Es erfolgte an der frontier vielmehr eine Gewöhnung an bestimmte Formen der Gewalt, die nicht an allen Ort gleich massiv ausgeübt wurde. Die Art der Verregelung wird daran deutlich, dass Caudillos sich durchaus der vorhandenen Institutionen bedienten, um Gewalt auszuüben.

Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Miliz. Wie Riekenberg zeigt, stammten „sämtliche Caudillos am La Plata aus dem Offizierskorps der Milizen“ (S. 91). Caudillos waren also keine Produkte eines „vorstaatlichen Naturzustands“. Allerdings waren die Milizen nicht unbedingt Ausdruck von Staatlichkeit, sondern unterstanden oftmals Großgrundbesitzern. Milizen waren natürlich für den Krieg gedacht, und in der Tat hätte sich der Caudillismus nicht so verbreiten können, wie er es tat, wenn Krieg nicht zu einem Dauerzustand im La-Plata-Raum geworden wäre. Dabei zeigte sich, dass die alltägliche Gewalttat in die Kriegsgewalt hineinwirkte. Riekenberg zeigt, dass in diesem Zeitraum zahlreiche Gewaltakteure sich mehr oder weniger auf Augenhöhe bekriegten. Archaisch anmutende Formen der Gewaltausübung waren dabei Teil eines ausgeklügelten Systems segmentärer Gewaltbeziehungen.

Die Ordnung im vermeintlichen Chaos bearbeitet Riekenberg in seinem Schlusskapitel zur „Staatsferne“ – ebenso wie „Gewaltmarkt“ ein hilfreicher, weil trennscharfer Kunstbegriff. Für den Autor bedeutet Staatsferne nicht einfach das Ende bzw. den Vorläufer von Staatlichkeit, sondern vielmehr eine eigenständige „Form der Ordnung“, die durch eine kulturelle Übersetzungsleistung entsteht. Aus dieser Perspektive erscheinen vermeintliche Defizite als konstitutive Elemente spezifischer Formen von Staatlichkeit. „Staatsferne“, so Riekenberg, „ist Staat in seiner lokalen Bedeutung“ (S. 113). Caudillismus war dementsprechend eine mögliche Ausformung dieser Staatsferne in einem bestimmten historischen Kontext. Das ist in der Tat ein schlüssiges Erklärungsangebot dafür, warum Staatlichkeit selbst im La-Plata-Raum letztlich überleben konnte.

Riekenbergs „Caudillismus“ ist eine ebenso dichte wie erklärungskräftige, an vielen Stellen brillante historische Analyse, die immer wieder erhellend auf Erkenntnisse soziologischer und ethnologischer Forschung zurückgreift. Ein kurzes und wichtiges Buch, dem nur ein Resümee fehlt. Die Lektüre sei Lesern empfohlen, die sich für die Phänomene der Gewalt und des Staates interessieren. Riekenberg selbst schreibt, dass dieses Buch den Abschluss seiner Beschäftigung mit der Thematik bedeutet. Nach der Lektüre hofft dieser Rezensent, dass das nicht für seine Arbeiten zur Gewalt in der Geschichte Lateinamerikas insgesamt gelten möge.

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