D. Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge

Cover
Titel
Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums


Autor(en)
Schrage, Dominik
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Kühn, Centre Marc Bloch, Berlin

Konsum prägt als Warenkonsum wesentlich die moderne Lebenswelt westlicher Gesellschaften. Das kann man nun kulturkritisch deuten und etwa auf die Verdinglichung der sozialen Beziehungen und dabei produzierte Ungleichheiten hinweisen, oder man hebt eher affirmierend den dadurch angezeigten hohen Lebensstandard hervor. Dominik Schrage wählt in seiner Habilitationsschrift einen grundsätzlich anderen Weg. Er geht dabei von der Grundannahme aus, dass die prinzipielle „Verfügbarkeit der Dinge“ über Marktrelationen ein Medium der Vergesellschaftung ist. Das impliziert ein anderes, analytisches Erkenntnisinteresse, das nicht danach fragt, was Konsum ausdrückt, sondern welche gesellschaftlichen Vermittlungsleistungen durch Konsum erfolgen.

Dabei ordnet sich die Studie in den jüngeren Trend der Sozial- und Kulturwissenschaften ein, Dinge und deren Materialität systematisch in die Analysen einzubeziehen. Schon der sprechende Titel verweist genau auf das Zentrum dieser kultur- und sozialwissenschaftlichen Interessen. Das Vorgehen Schrages aber unterscheidet sich von vielen dort verfolgten Ansätzen. Die Dinge selbst und ihre mögliche Handlungsmacht kommen kaum zur Sprache; auch eine Soziologie, die die Sicht der Akteure favorisiert (seien es menschliche oder, im Gefolge Latours, nicht-humane Akteure), wird man weniger antreffen. Eine empirisch vorgehende Studie von Konsumpraktiken bietet Schrage nicht, sondern eine begriffs- und theoriegeschichtliche Arbeit zur Genealogie des Konsums seit der Frühen Neuzeit.

Wer sich darauf einlässt, wird belohnt mit grundlegenden Überlegungen zu den historischen Bedingungen der Entwicklung jener Kategorien, die überhaupt erst eine Vergesellschaftung der Dinge im Konsum möglich werden lassen. Schrage versucht so, ein Modell für die Analyse der zahlreich vorliegenden konsumhistorischen und soziologischen Arbeiten zu entwickeln, indem er die Strukturen des modernen Konsums (und damit eine Struktur moderner Gesellschaften) herausarbeitet, in denen Dinge als Waren prinzipiell verfügbar sind. Die gesellschaftlichen Grundlagen dieses sich ändernden Objektgebrauchs in der Moderne sind Thema der Arbeit: „Ausgangspunkt ist nicht der einzelne oder aggregierte Verbrauchsakt, sondern der Konsum als ein Medium moderner, objektvermittelter Vergesellschaftung“ (S. 18).

Der erste Teil behandelt die Vorgeschichte des Konsums in der Frühen Neuzeit: Erst allmählich könne man ein begrenztes Auftauchen von Konsum im Sinne von Warenkonsum und Monetarisierung der Sozialbeziehungen konstatieren. Der Konsumbegriff bleibe aber kontextgebunden und bilde mit dem der Produktion eine Einheit, als Gegenbegriff zur Produktion etabliert er sich erst gegen 1800. Konsum und Produktion treten dann grundsätzlich als Komplementärbegriffe auseinander. Die gesellschaftliche Bedeutung dieses Wandels hin zu einer Eigenlogik des Konsums zeigt Schrage anschließend in der luziden theoriegeschichtlichen Analyse der Gegensatzphänomene Luxus und Bedürfnis. In weiteren Unterkapiteln wird durch die Analyse der Durchsetzung einer Marktgesellschaft und durch die Einführung der Begriffe „Konsumentenrolle“ und „konsumistisches Weltverhältnis“ zum zweiten Teil übergeleitet.

Der zweite Teil beschreibt dann die Ablösung vom ständischen Modell im modernen Massenkonsum und beinhaltet die Hauptthese Schrages. Die paradigmatischen Beispiele des europäischen Warenhauses um 1900 und des US-amerikanischen „Standardpakets“ verdeutlichen plastisch den grundlegenden Wandel. Das Warenhaus sei zwar nicht mehr von ständischem Objektgebrauch etwa mit seinen Luxusverboten und Kleidungsgeboten geprägt gewesen. Jeder konnte nun alles erwerben; doch orientierte sich die „Ordnung der Dinge“ weiterhin am Luxuskonsum der Eliten. In diesem Modell repräsentiere die Ordnung der Dinge die soziale Hierarchie. Zwischen sozialer Welt und Dingwelt bestehe ein Korrespondenzverhältnis. Das amerikanische Standardpaket hingegen zeige eine grundsätzlich andere Verschränkung von Konsum und Gesellschaft an. In diesem Konsummodell greife die Distinktionsleistung nicht mehr, sondern die Einstellung zum Konsum selbst sei eine andere. Er werde nicht einfach nur quantitativ ausgeweitet, sondern bestimme nun wesentlich die Lebenswelt einer breiten Mittelschicht, werde selbst zum Medium der Vergesellschaftung. Die Homogenisierung der Lebensweisen durch Konsum habe angesichts hoher geografischer Mobilität biografisch und gesellschaftlich stabilisierende Effekte.

Insgesamt zeichnet Schrage so eine zunehmende Abstraktion von der konkreten Gestalt der Dinge nach: Der gewohnheitsmäßige, ständischen und ethischen Normen verpflichtete Konsum leite über zu einem europäischen Massenkonsum, der Prestige anzeigt. Im amerikanischen Massenkonsum hingegen komme es gar nicht mehr auf die spezifischen Objekte oder deren Repräsentativität an, sondern auf die Performativität des Konsumerlebnisses. Das indiziert nun nicht nur einen grundlegend anderen Umgang mit verfügbaren Dingen, sondern auch gänzlich verschiedene Vergesellschaftungsmodelle. Denn moderne Gesellschaft mit modernem Massenkonsum standardisierter Waren ist, so Schrage unter Rückgriff auf Koselleck, geprägt von Erwartungsentgrenzung. Die Möglichkeiten zum Erwerb von Waren haben sich nicht einfach nur stark erweitert, sondern der Möglichkeitsrahmen selbst bestimmt Vergesellschaftung, führt somit zu einer hedonistischen Subjektivierung des Konsums. Die biografisch strukturierende Leistung des Konsums als Kontingenzbewältigung wiederum wirft weitere Fragen hinsichtlich Individualisierungsweisen und Selbstentwürfen im Zusammenhang mit Dingwelten und dem Umgang damit auf.

An diesen Thesen wird schon deutlich, dass sich Schrage von zwei vorherrschenden Modellen der Konsumanalyse abgrenzt: auf der einen Seite vom Distinktionsmodell (zum Beispiel Bourdieu), auf der anderen Seite von ethnografischen Universalmodellen des Tauschs als Kommunikation (zum Beispiel Mary Douglas). Vielleicht ist diese Abgrenzung zu stark formuliert, wohl auch, um die eigenen Hauptthesen deutlicher zu profilieren. Eine stärkere Aufnahme beider Ansätze hätte das Erklärungspotential und die Anschlussfähigkeit des eigenen Modells vielleicht noch erhöht. Richtig aber ist wohl die Stoßrichtung, dass die Analyse des Konsums allein als Distinktionsmechanismus zu kurz greife, denn das ist ja nur eine von vielen möglichen Funktionen. Richtig ist wohl auch, dass eine reine ethnografische Mikroperspektive auf die Praktiken des Gütertauschs im Konsum dessen historischen und gesellschaftlichen Eigenheiten und dem sich grundsätzlich wandelnden Bezug zu den Dingen nicht gerecht wird.

Das Buch enthält viele starke Thesen, die in anderen Kontexten weiter zu diskutieren wären. Denn Schrage geht paradigmatisch vor und vernachlässigt dabei – um seine Argumentation in modernisierungstheoretischer Absicht zu stärken – Differenzierungen. Er löst die Spannung zwischen den verschiedenen Modellen des gesellschaftlichen Verhältnisses zu den Dingen historisch-genealogisch auf. Nur nebenbei deutet er an, dass die Funktionen der Distinktion oder des Luxus weiterhin bestehen (S. 126). Soziologisch und historisch interessant wäre nun, genau dieses Neben- und Miteinander sehr verschiedener Gebrauchsweisen von Dingen zu thematisieren, und das auch jenseits des Konsums.

Was vielleicht einige Leser eher stören mag, ist der Anspruch, mit Theorie- und Begriffsgeschichte anhand kanonisierter soziologischer Autoren die soziale „Realität“ fassen zu können – das ist ein theoretisch formulierter Anspruch, der sich aber eben auch nur theoretisch einlösen lässt, und auch das nur, wenn man die kontroversen Debatten etwa um die Begriffsgeschichte außen vor lässt. Denn dort wurde ja nicht nur die Konzentration auf Höhenkammliteratur kritisiert, sondern überhaupt der mit großem Selbstbewusstsein vorgetragene Anspruch, durch Begriffe Sozialgeschichte in ihren Basisstrukturen erfassen zu können. Praktisch hingegen stellt sich die Frage, wie das Verhältnis etwa zwischen den Ansichten einiger Soziologen um 1900 und der Wirklichkeit der Konsumpraktiken um 1900 tatsächlich war.

Schrage hat ein sehr anspruchsvolles, thesenreiches Werk vorgelegt, das dazu einlädt, durch weitere Studien – und vor allem auch empirische Arbeiten – überprüft, differenziert, modifiziert zu werden. Ein großes Verdienst ist aber, überhaupt auf grundsätzlicher Ebene darüber nachzudenken, wie Konsum mit heutiger Lebenswelt und Vergesellschaftung zusammenhängt, und das in betonter Abgrenzung zur zumindest in Deutschland lange vorherrschenden normativ verfassten Konsumkritik. Somit wird ein analytisches Vokabular bereit gestellt, mit dem nun weiter gearbeitet werden kann. Dabei werden auch eminent politische Fragen angeschnitten: Was bedeutet es, wenn Vergesellschaftung über Konsum erfolgt – aber Teile der Gesellschaft davon abgeschnitten werden? Was bedeutet es, wenn Konsum eine biografisch stabilisierende Wirkung hat, viele die notwendigen Ressourcen aber nicht mehr aufbringen können?

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