N. Lahoud, The Jihadis’ Path to Self-Destruction

Titel
The Jihadis’ Path to Self-Destruction.


Autor(en)
Lahoud, Nelly
Erschienen
London 2010: Hurst & Co.
Anzahl Seiten
XXI, 285 S.
Preis
€ 56,55
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Justyna Nedza, Seminar für Orientalistik und Islamwissenschaften, Ruhr-Universität Bochum

Ist die religiös-politische Ideologie den Zielen der Dschihadisten tatsächlich dienlich – oder führt sie eher zur Selbstzerstörung? Muss der ‚Dschihadismus‘ bekämpft werden, oder übernehmen das die Dschihadisten selbst, indem sie die destruktive Kraft gegen sich selbst richten und damit dem Beispiel der frühislamischen Kharidschiyya folgen?

Knapp zehn Jahre nach den verheerenden Anschlägen vom 11. September 2001 versucht Nelly Lahoud, die am Combating Terrorism Center der U.S. Military Academy, West Point, lehrt, in vorliegender Monographie die Beantwortung dieser Fragen. Dieses Ergebnis ihrer 2005 begonnenen Forschung fügt sich dabei in ein umfangreiches Korpus an weiteren Arbeiten zum Großkomplex ‚Dschihadismus‘ ein: Diese, verstärkt nach 2001 publiziert, widmen sich vor allem der Entstehung al-Qa’idas und des radikalen Islamismus1, der lokalen Manifestation al-Qa’idas2, ihrer globalen ideologischen Ausrichtung3 und der Analyse von Biographien und Werken maßgeblicher Ideologen.4

In diesem Korpus nimmt die vorliegende Monographie eine besondere Stellung ein, da Lahoud weniger deskriptiv als vielmehr ideengeschichtlich argumentiert. In fünf Kapiteln, umrahmt von Einleitung und Schlusswort, begründet Lahoud die These, dass es der individualistische Zugang zur Religion, aber auch zu den Praktiken des dschihad und takfir (Erklärung eines Muslims zum Ungläubigen) ist, der die doktrinären Unterschiede zwischen den Dschihadisten befördert und damit ihre vorgebliche Einheit in Frage stellt. Hierin sieht Lahoud Parallelen zur frühislamischen Sekte der Kharidschiyya, deren interne ideologische Querelen dazu geführt hätten, dass sich ihr militanter Ansatz schließlich gegen sie selbst gewendet und damit zu ihrer Selbstzerstörung geführt habe (S. 27-95).

In der Einleitung (S. 1-26) benennt Lahoud den ‚Individualismus‘ als Hauptkonstante des dschihadistischen Denkens: Durch die Infragestellung von staatlicher Autorität, einschließlich der staatlich etablierten Gelehrsamkeit, propagierten und praktizierten Vertreter des Dschihadismus den individuellen Zugang zu den autoritativen Texten des Islam. Einhergehend mit ihrer Ablehnung staatlicher Autorität ist auch die Ablehnung des dschihad als Kollektivpflicht (fard kifaya) zu verstehen: Da dieser rechtlich gesehen nur vom Herrscher ausgerufen werden kann, interpretieren Dschihadisten ihn als Individualpflicht (fard ’ayn) eines jeden Muslims, die weder die Erlaubnis eines Herrschers noch des Elternhauses verlangt. Gerade diesem individuellen Zugang zur Religion, mit all seinen Implikationen, schreibt Lahoud dann auch das ‚Selbstzerstörungspotenzial‘ des ‚Dschihadismus‘ zu. Die dschihadistische Ideologie, so Lahoud, sei nicht nur gegen den ungläubigen äußeren Feind, sondern potenziell auch stets gegen Muslime oder gar Dschihadisten in den eigenen Reihen gerichtet: So sei mit dem Monopolanspruch auf den ‚wahren Glauben‘ unmittelbar das Konzept des al-wala’ wa-l-bara’ verbunden, der Assoziation mit Muslimen und Dissoziation von Ungläubigen. Die Interpretation dieses Konzeptes könne jedoch soweit führen, dass Dschihadisten nicht nur die Abgrenzung von Ungläubigen, sondern auch von all denjenigen fordern, die die autoritativen Texte anders interpretierten als sie. Dieses Konfliktpotenzial entlade sich schließlich in der Praxis des takfir am ideologischen Gegner und führe letztlich zum Auseinanderfallen einer einheitlichen Ideologie und Bewegung.

In der Folge arbeitet Lahoud ihren Vergleich dieser Entwicklung mit derjenigen der frühislamischen Gruppierung der Kharidschiyya aus und versucht zu begründen, dass der gängige Vergleich mit den Dschihadisten des 21. Jahrhunderts nicht nur polemischer und provokativer Natur sei, sondern tatsächlich auf strukturelle Parallelen hinweise: So wäre die Betonung des individuellen Zugangs zur Religion – begründet mit der Loyalitätserklärung allein gegenüber Gott –, die damit einhergehende Ablehnung der Autorität des als illegitim betrachteten Herrschers, die Abgrenzung von ungläubigen Feinden (al-wala’ wa-l-bara’) und schließlich die Hervorhebung des takfir zur Reinhaltung von Religion und Glaubensgemeinschaft tatsächlich der Kharidschiyya und dem Dschihadismus gemeinsam.

Folgerichtig untersucht Lahoud im dritten Kapitel (S. 97-145) diese Themen im dschihadistischen Milieu. Auf der Grundlage ihrer Darstellung einiger Kernkonzepte einer leider nicht begründeten Auswahl von Ideologen (unter anderem Muhammad ’Abd al-Salam Faradsch, Sayyid Imam al-Sharif alias Dr. Fadl und Abu Muhammad al-Maqdisi) argumentiert sie, dass der Dschihadismus zwar als modernes Phänomen zu verstehen sei, jedoch größere Parallelen zur Kharidschiyya als zum ‚Mainstream-Islam‘ oder auch zum Islamismus aufzeige. Während der Individualismus der Dschihadisten einen Mangel an institutionellen Strukturen und Dezentralisierung zur Folge hat, jeglicher Umgang mit dem Staat abgelehnt und damit der dschihad als einziges adäquates Instrument zur Veränderung des politischen und religiösen Status quo verstanden wird, definiert Lahoud Islamismus über die grundsätzliche Bereitschaft, mit staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten oder sich zumindest dieser zur Verwirklichung eines höheren Ziels zu bedienen. Durch die überdies hervorgehobene Bedeutung der Einheit der Gemeinschaft (dschama’a), im Gegensatz zum Individualismus, und der religiösen Bildung als Voraussetzung für den dschihad sei damit eine ausgeprägte hierarchische Struktur für islamistische Gruppen charakteristisch.

Aus dem unterschiedlichen Umgang mit dem Staat und dem Stellenwert der Gemeinschaft resultieren Spannungen zwischen dem islamistischen und dem dschihadistischen Lager, die Lahoud im vierten Kapitel (S.147-193) aufgreift. Durch das Verständnis der Dschihadisten von Demokratie als einer ‚neuen Religion‘ – und damit als Unglaube – sind Konflikte etwa zwischen den Vertretern der al-Qa’ida und den Muslimbrüdern oder der Hamas zu erklären, die sich an der Beteiligung Letzterer an politischen Partizipationsprozessen entzünden. Neben den Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und Dschihadisten sieht Lahoud schließlich aber eine weitere Konfliktlinie, die das dschihadistische Lager selbst durchzieht; im fünften Kapitel (S.195-247) bildet Lahoud diese offenen ideologischen Kämpfe ab, die sich zwischen den zum einen als ‚strategisch‘, zum anderen als ‚doktrinär‘ orientiert bezeichneten zwei Strömungen innerhalb des Dschihadismus abspielen. Hier schließt sich der Kreis von Lahouds Argumentation zum Beleg ihrer These, dass die Ideologie des Dschihadismus den Keim der Selbstzerstörung bereits in sich trage: Der Individualismus habe es unmöglich gemacht, eine Einheit unter den Dschihadisten zu stiften, und die gleichzeitige Betonung des Reinhaltens der Religion mittels al-wala’ wa-l-bara’, takfir und dschihad ermögliche es schließlich jedermann, sich mit eben diesem Vokabular gegen Andersdenkende aus den eigenen Reihen zu richten; dies aber führe dazu, dass der Dschihadismus im Grunde letztlich das Schicksal der Kharidschiyya teilen werde.

Lahoud gelingt es in ihrer Monographie, die Komplexität des Phänomens Dschihadismus abzubilden, die sich in der Vielfalt der unterschiedlichen ideologischen Ausprägungen widerspiegelt. Ihr ideengeschichtlicher Ansatz ermöglicht es ihr zudem, die Entwicklung der heutigen ideologischen Landschaft, einschließlich der Bildung unterschiedlicher ideologischer Lager, herauszuarbeiten. Besonders überzeugend ist dabei ihre Darstellung des Zusammenwirkens einzelner ideologischer Komponenten – etwa die Interdependenz von al-wala’ wa-l-bara’ und takfir – und ihrer historischen Ursprünge. Ihr gelingt es, die ideologische Verbindung dieser Konzepte aufzuzeigen, deren explosive Kombination auch vor den eigenen Kreisen nicht Halt macht.

Obwohl sie nicht in Anspruch nimmt, eine verbindliche Definition von Dschihadismus zu liefern, trägt Lahoud nichtsdestotrotz eine nützliche Sammlung an Merkmalen zusammen, die das Phänomen zu erklären versuchen und so einer möglichen Definition entgegenkommen. An vorderster Stelle steht der Individualismus, sowohl im Umgang mit den autoritativen Texten also auch mit den Praktiken des takfir und dschihad, der sich letztlich auf die internen Strukturen der Bewegung auswirkt. Lediglich ihre Differenzierung von Dschihadismus und Islamismus überzeugt nicht immer und verleitet zu einer Schwarz-Weiß-Sichtweise, die die vielen Grautöne ausblendet. Die Wahl der Bereitschaft zur Kooperation mit dem Staat beziehungsweise zur Parteienbildung als Unterscheidungsmerkmal zwischen Islamismus und Dschihadismus übersieht in manchen Fällen ‚Zwitterwesen‘; so wird die Hamas beispielsweise ausdrücklich im islamistischen Lager angesiedelt.

Abgesehen von diesen Kritikpunkten bietet Lahouds Monographie einen gründlichen und lehrreichen Überblick über die Kernkonzepte einer dschihadistischen Ideologie, deren Interdependenzen und die Ideologisierungsprozesse, die diese Konzepte durchlaufen haben, und stellt damit einen wichtigen Beitrag zur Dschihadismus-Forschung dar.

Anmerkungen:
1 Lawrence Wright, The Looming Tower. Al-Qaeda’s Road to 9/11, London 2006.
2 Thomas Hegghammer, Jihad in Saudi Arabia. Violence and Pan-Islamism since 1979, Cambridge 2010.
3 Fawaz A. Gerges, The Far Enemy. Why Jihad Went Global, Zweite Auflage Cambridge 2009; Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus, München 2005.
4 Brynjar Lia, Architect of Global Jihad. The Life of Al-Qaida Strategist Abu Mus’ab al-Suri, London 2007; Gilles Kepel / Jean-Pierre Milelli (Hrsg.), Al Qaeda in its own words, translated by Pascale Ghazaleh, Cambridge, MA u.a. 2008.

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