Titel
Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland


Autor(en)
Epstein, Catherine
Reihe
Oxford Studies in Modern European History
Erschienen
Anzahl Seiten
451 S.
Preis
£ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa Stiller, Historisches Institut, Universität Bern

Der Boom der Biografien über hochrangige Nationalsozialisten reißt nicht ab. Nun hat Catherine Epstein eine Biografie über Arthur Greiser, Reichsstatthalter und Gauleiter im Wartheland, vorgelegt.1 Auch diese Studie verbindet – wie andere große Biografien der letzten Jahre, etwa Kershaws Werk über Hitler und Longerichs über Himmler – die Lebensgeschichte eines Akteurs mit den Ereignissen und Strukturen des „Dritten Reichs“. Zweifellos ist eine wohl proportionierte Biografie über eine Einzelperson im Kontext des Systems in der Regel recht unterhaltsam zu lesen – und dies ist auch Epsteins Buch –, die Frage aber ist, ob diese weitere Biografie neue Erkenntnisse über die inneren Zusammenhänge und das Funktionieren des NS-Systems hervorzubringen vermag.

Bei Arthur Greiser ist die Vermutung, dass es sich bei ihm um eine Schlüsselfigur der Germanisierungspolitik handelte, zumindest berechtigt. Das Wartheland, das Greiser während des Zweiten Weltkrieges regierte, war die größte westpolnische Region der so genannte „eingegliederten Ostgebiete“. Die dortigen Germanisierungs- und Gewaltpraktiken übertrafen allein wegen ihrer schieren Größenordnung die in allen anderen annektierten Territorien. Zudem nahm das Wartheland bei vielen angewandten Maßnahmen eine Vorreiterrolle ein. In den Jahren 1939-45 haben die Nationalsozialisten von dort Hunderttausende Polinnen und Polen zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, 300.000 Personen ins Generalgouvernement und mindestens 200.000 weitere innerhalb des Gebietes vertrieben. Die Nationalsozialisten haben im Wartheland eines der größten Ghettos errichtet und die Ausbeutung der Arbeitskraft der dort lebenden Juden auf die Spitze getrieben. Im wartheländischen Kulmhof begann schließlich das systematische Töten der Juden durch Gas innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches. Diese Vertreibungs- und Vernichtungspolitik verortet Epstein konsequent im Gesamtzusammenhang der Germanisierungsbestrebungen. Von daher beschreibt sie auch die Siedlungs- und Eindeutschungsmaßnahmen als einen immanenten Bestandteil dieser Politik. Zu den Betroffenen gehörten die über 300.000 „Volksdeutschen“ aus östlichen Regionen, die im Wartheland „angesiedelt“ wurden, und die ca. 500.000 „Volksdeutschen“, „Deutschstämmigen“ und weitere so genannten „eindeutschungsfähige“ Personen, die selektiert und mittels der Deutschen Volksliste zu neuen, allerdings teilweise nur zweitklassigen „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ erklärt wurden.

Epstein folgt in den vier zentralen Kapiteln ihres Buches nun konsequent der Frage, welchen Anteil Arthur Greiser an der Germanisierungs- und Vernichtungspolitik im Wartheland hatte und welche Motive für seine Entscheidungen bedeutend waren. Das erste dieser vier Kapitel beleuchtet die administrativen Strukturen und die Akteure im Wartheland. Das zweite behandelt die miteinander verknüpften Um- und Ansiedlungen der „Volksdeutschen“, die Deportationen der Polen, die Ghettoisierung und den Massenmord an den Juden. Es folgt ein Kapitel zur Segregationspolitik, in dem sie die Behandlung der einzelnen Bevölkerungsgruppen (Deutsche, Polen, Juden) und die Eindeutschungsmaßnahmen beschreibt. Das letzte dieser vier Kapitel stellt die Ausbeutung und Enteignung der Polen und Juden sowie die materielle Germanisierung in den Mittelpunkt. Dabei ist es Epstein wichtig, immer die Behandlung und Politik gegenüber den drei Bevölkerungsgruppen in Relation zueinander zu setzen; denn innerhalb der Germanisierung können sie nicht getrennt voneinander gesehen werden.

Epstein arbeitet insbesondere Greisers Anteil und Einfluss auf die Ermordung der Juden in seinem Machtbereich aus. Denn dieser war bedeutend und außergewöhnlich im NS-System. Im Wartheland waren es nicht Reinhard Heydrich oder Heinrich Himmler, die den Massenmord initiierten, sondern Arthur Greiser selbst (S. 184-190). Epstein kann hier auf bereits bestehende, sehr gute Studien zu dieser Thematik zurückgreifen.2 Greisers persönlicher Anteil an der vorherigen Ghettoisierungs- und Ausbeutungspolitik gegenüber den Juden war dagegen weniger ausschlaggebend. Was die Behandlung der Polen betraf, griff er durchaus einige Male direkt ein, betrieb aber in dieser Hinsicht eher eine pragmatische Realpolitik. Dass er jedoch auch bei der frühen Gewaltpraxis im Herbst 1939 Initiative zeigte und den lokalen Behörden Anweisungen gab, gegen „feindliche“ Polen mit möglichster Härte vorzugehen, was ausdrücklich auch Exekutionen miteinschloss3, hätte Epstein durchaus stärker herausarbeiten können.

Epsteins Darstellung und ihre Analyse der Akteure und Initiativgeber der Volkstumspolitik im Wartheland weist leider einige Schwächen auf. Zum einen liegt dies daran, dass sie hier weniger auf bereits existierende Forschung aufbaut und zum anderen dort, wo noch Forschungslücken klaffen (beispielsweise in Bezug auf die Siedlungspolitik oder die Deutsche Volksliste), diese selbstredend nicht im Rahmen einer Biografie schließen kann – auch wenn sie hier wichtige Dokumente aus den Archiven gehoben hat. Epstein beschreibt die Strukturen im Wartheland als „konfus“, „uneindeutig“ und verweist auf ein herrschendes administratives „Chaos“ (S. 146f.). Häufig spricht sie von „Nazi authorities“, „Gau authorities“ oder ähnlichem, wodurch unklar bleibt, wer eigentlich konkret die Akteure waren. Zumeist sind dies Passagen, in denen es um andere Institutionen geht – vor allem um Himmler, der als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) Kompetenzen besessen hat, bzw. den RKF-Apparat, welcher Politiken initiiert und exekutiert hat – und eben nicht um Greiser oder die Gaubehörden (Beispiele S. 164, 170-175). Insgesamt hätte man sich hier eine stärkere Herausarbeitung des Verhältnisses zwischen Greiser und Himmlers Polizei- und RKF-Apparaten gewünscht.

Epsteins Anliegen ist es, Greisers Motive für sein Handeln im Wartheland herauszuarbeiten. Dabei ist sie sowohl davon überzeugt, dass Greisers Leben auch generealisierbare Einsicht darüber bereithält, wie jemand zu einem NS-Täter werden konnte, als auch dass diese biografische Untersuchung eines Entscheidungsträgers generell etwas über die Genese der Germanisierungs- und Gewaltpolitik auszusagen vermag (S. 5).

In den ersten drei Kapiteln widmet sich Catherine Epstein Arthur Greisers Leben und seiner Radikalisierung zum „Model Nazi“ im Wartheland. Greiser, 1897 in Schroda/Środa Wielkopolska geboren, besuchte in Hohensalza/Inowrocław die Schule. Dort erlebte er auch das Ende des Ersten Weltkrieges und den polnischen Aufstand gegen die preußische Herrschaft. Einem kurzen Intermezzo in einem Freikorps folgte eine Zeit in der Privatwirtschaft und nach seinem Bankrott 1928 schließlich die Zuwendung zur politischen Betätigung in der Freien Stadt Danzig, in der er 1934 zum Senatspräsident aufstieg. Diese drei Kapitel wie auch das letzte basieren stark auf Ego-Dokumenten. Hier präsentiert Epstein etliche neue Quellen, sowohl persönliche Korrespondenz Greisers als auch Interviews mit noch lebenden Angehörigen, die Epstein ausfindig machen konnte. Das letzte Kapitel, ebenfalls stark biografisch geprägt, behandelt die Nachkriegszeit, Greisers Prozess vor dem Obersten Polnischen Gerichtshof und seine Haftzeit bis zur Exekution des Todesurteils im Juli 1946.

Epstein folgt, wenn auch zögerlich und kritisch, einer These Michael Manns, nach der ein signifikanter Teil der NS-Täter in Randgebieten des Deutschen Reiches geboren worden oder aufgewachsen war. Diese Männer, so Mann, seien besonders offen für die Anwendung ethnischer Gewalt während des Zweiten Weltkrieges gewesen.4 Epstein kann aber zeigen, dass Greiser Borderlands-Sozialisation zwar auch, aber nur bedingt als Grund für seine spätere Initiative zur Ermordung der Juden und Verfolgung der Polen war. Stattdessen geht sie davon aus, dass Greiser erst mit Eintritt in die Partei 1929 antisemitische und antipolnische Ressentiments entwickelte. Diese ideologische Entwicklung bedeutete aber nicht eine konsequente Überführung in die politische Praxis. So habe er in seiner Zeit in Danzig noch mehrfach radikale Maßnahmen gegen Polen und Juden kritisiert. Ein entscheidender Auslöser für Greisers Umsetzung der radikalen Prämissen in eine dezidierte Gewaltpolitik sei einerseits die spezifische Situation im Wartheland ab September 1939 gewesen, und andererseits seine eigenen persönlichen Unsicherheiten. Denn durch seinen späten Eintritt in die Partei, seinen langjährigen zweiten Platz hinter seinem ewigen Konkurrenten, dem Gauleiter in Danzig, Albert Forster, seine geringen Verbindungen zu bedeutenden Nazis (einzig Himmler war ihm bereits ab den 1930er-Jahren als Unterstützer und Gönner zugetan), habe er sich selbst zu der Art von Nationalsozialist gemacht, die im „Dritten Reich“ von Hitler gewünscht und gefordert war. Reputation und Machtzuwächse habe er sich durch die Anwendung möglichst radikaler Maßnahmen, wie die Ermordung der nicht mehr arbeitsfähigen Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt, verschaffen wollen (S. 168, 186). Arthur Greiser, der als Reichsstatthalter und Gauleiter das Wartheland zum „Mustergau“ machen wollte, wird von Epstein demnach als eine Person charakterisiert, die alles daran setzte, sich selbst zu einem mustergültigem Über-Nazi zu machen (S. 8). Diese Interpretation läuft letztlich auf eine Einstufung Greisers als skrupellosen Opportunisten hinaus.

Catherine Epstein hat trotz kleinerer Schwächen ein gut lesbares, hochinteressantes Buch geschrieben. Ihre biografische Analyse ist mit den vorsichtig abwägenden Einsichten in Greisers Entwicklungsschritte zum radikalen Akteur der Massengewalt vorbildlich. Es ist eine hervorzuhebende Eigenschaft dieser Biografie, dass sie die Widersprüche und Ungereimtheiten im Leben und der Person Greisers aushält und der Versuchung widersteht, eine kohärente Persönlichkeit zu konstruieren. Epstein gelingt es dadurch, ihren Protagonisten nicht zu wichtig zu machen und kritische Distanz zu wahren.

Anmerkungen:
1 Bislang gab es nur eine gute, wenn auch schmale Biografie über Greiser von Czesław Łuczak. Siehe Cz. Łuczak, Arthur Greiser. Hitlerowski władca w Wolnym Mieście Gdańsku i w Kraju Warty [Arthur Greiser. Hitlers Machthaber in der freien Stadt Danzig und im Wartheland], Poznań 1997.
2 Michael Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Wiesbaden 2006; Peter Klein, Die „Ghettoverwaltung Litzmannstadt“ 1940-1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009.
3 Vgl. auch Klaus-Michael Mallmann / Jochen Böhler / Jürgen Matthäus (Hrsg.), Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008.
4 Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007, S. 329-336, 351.

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