M. Kittel: Marsch durch die Institutionen?

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Titel
Marsch durch die Institutionen?. Politik und Kultur in Frankfurt am Main nach 1968


Autor(en)
Kittel, Manfred
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 86
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 480 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cordula Obergassel, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das Jahr 1968 hat sich spätestens seit den 1990er-Jahren „Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft“1 entwickelt, das heißt, die Forschungsliteratur hat zugenommen und fragt zunehmend nüchtern nach Ursachen und Folgen. Die empirische Forschung, die eine fundierte Bewertung der Ereignisse jenseits von Mythenbildung und Widerspiegelung der alten „Kampflinien“2 erst ermöglicht, steht aber dennoch relativ am Anfang. Dies gilt insbesondere für die Forschung über die kulturelle Entwicklung im engeren Sinn.

Mit seiner Monografie zur „Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968“ möchte Manfred Kittel zur Erforschung der kulturellen Entwicklung und zu einer Bewertung des Jahres 1968 aufgrund detaillierter empirischer Befunde beitragen. Dafür analysiert er den „Marsch durch die Institutionen“ der Frankfurter Kultur und Kommunalpolitik anhand von drei Gegenstandsbereichen: dem Wandel der SPD in den Jahren nach 1968, dem Konflikt um das neue Historische Museum und den Wirkungen des Mitbestimmungsmodells auf das Frankfurter Schauspiel. Kittel fragt danach, „[w]as der Marsch durch die Institutionen im Bereich von Kultur und Politik bewirkt hat und wie er den Institutionen bekommen ist“ (S. 11), und lenkt den Blick damit auf die betroffenen Institutionen selbst, ihre inhaltliche Entwicklung und deren Folgen für die Akzeptanz der Institutionen.

Die Wahl der Stadt Frankfurt als Beispiel macht dabei einerseits den besonderen Reiz von Kittels Studie aus, stellt die Stadt doch, wie er zu Recht feststellt, ein „ungleich aufregenderes politisches Biotop“ (S. 4) dar als die meisten anderen deutschen Städte und war wie sonst nur noch Berlin ein Epizentrum der Revolte. Für seine gewählten Beispiele kann Kittel zudem auf umfangreiches Quellenmaterial zurückgreifen, das ihm eine detaillierte und spannende Rekonstruktion der Ereignisse ermöglicht und mit dessen Hilfe er die Hintergründe der in den Grundzügen bekannten Entwicklungen produktiv erhellen kann. Gleichzeitig stellt sich aber angesichts der von Kittel selbst bestätigten Singularität des Mitbestimmungsmodells am Frankfurter Schauspiel und der bundesweit Wellen schlagenden, weil in dieser Form einmaligen Gestaltung des Historischen Museums die Frage der Übertragbarkeit der Ergebnisse über die 68er Hochburg Frankfurt hinaus.

Kittel schildert zunächst die Situation Frankfurter Kulturinstitutionen vor 1968 und bettet die Ereignisse innerhalb der Stadt fundiert und ausführlich in den Kontext bundesweiter kulturpolitischer Entwicklungen ein. Entsprechend seinem Anspruch, Kultur und Politik unter die Lupe zu nehmen, analysiert er anschließend die Situation der Volksparteien um 1968, wiederum mittels einer Verknüpfung von Frankfurter und bundesdeutscher Geschichte. Die Rolle der Kulturpolitik für die innerparteilichen Auseinandersetzungen auf Frankfurter Ebene schätzt er dabei gering ein. Zunehmend sei diese aber zum Anlass für Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien geworden (S. 95).

Zentrale Persönlichkeit innerhalb dieser kulturpolitischen Konflikte aber auch innerhalb der Frankfurter Kulturpolitik jener Jahre überhaupt war Hilmar Hoffmann (SPD), seit 1970 Kulturdezernent und sicherlich einer der bekanntesten Kulturpolitiker seiner Zeit. Zu den umstrittenen Projekten während Hoffmanns Amtszeit als Dezernent zählten das kommunale Kino in Frankfurt – das erste in der Bundesrepublik –, die veränderte Ausrichtung der Volkshochschule und das Theater am Turm (TAT). Alle diese Projekte wurden zumindest seitens der CDU linksradikaler Tendenzen bezichtigt und Hoffmanns Initiative zugunsten der Einrichtungen stieß auf massive Kritik.

Die größte gesellschaftliche Resonanz erzeugten jedoch die Diskussionen um das Konzept des neuen Stadtmuseums und um das Mitbestimmungsmodell am Frankfurter Theater. Auf die Argumente im Streit um das Stadtmuseum geht Kittel in seiner Studie detailliert ein und schließt sich der harten Kritik an, wenn er die Ausstellung als „scharfe[n] ideologische[n] Cocktail“ (S. 146) bezeichnet oder den fehlenden Willen „der bis dahin führenden Frankfurter Politiker“ kritisiert, „die radikalen Kräfte am Historischen Museum entschlossener in die Schranken zu weisen“ (S. 167). Den Bemühungen Hoffmanns, einige „Auswüchse zu beschneiden“ (S. 147), unterstellt er taktische Motive. Insgesamt hält er das 1972 eröffnete Frankfurter Historische Museum weder für einen Schauplatz der sich in den 1960er- und 1970er-Jahren nach verbreiteter Auffassung vollziehenden „Fundamentalliberalisierung“ (S. 168), noch für einen Beitrag zur Demokratisierung. Vielmehr glaubt er, dass in diesem Fall eine städtische Institution nur knapp einer „Fundamentalideologisierung“ (S. 168) entgangen ist. Die Veränderung der Museen weg von Musentempeln für Wenige hin zu museumspädagogisch unterfütterten Orten für Viele wertet Kittel nicht als direkte oder indirekte Folge der 68er Bewegung, sondern als durch die bereits Mitte der 1960er-Jahre einsetzenden Diskurse um die deutsche Museumskrise inspiriert. So kommt er auch insgesamt in seiner Studie zu dem Fazit, dass die bundesdeutsche Demokratie schon vor 1968 über ausreichend Reformfreude verfügt hätte und die 68er-Bewegung hier nur noch eine ideologische Zuspitzung bewirken, jedoch keine katalysatorische Funktion ausüben konnte.

Ähnlich vernichtend wie seine Einschätzungen des Historischen Museums lautet Kittels Urteil über das Mitbestimmungsmodell am Frankfurter Schauspiel. Die positive Ausstrahlung auf andere Theater, die manche Autoren diesem in seiner Radikalität gescheiterten Modell zugute halten3, und dessen Wirkung für ein neues Selbstverständnis der Schauspieler lässt er nur sehr eingeschränkt gelten. Leider wird in seiner ausführlichen Darstellung der Frankfurter Ereignisse nicht deutlich, welche Entwicklungen er als ausdrücklich auf die spezielle Situation in Frankfurt zurückzuführen betrachtet und welche an überregionale Entwicklungen anknüpfen oder sich übertragen lassen.

Den Marsch eines „ultralinken Teils der 68er-Bewegung“ (S. 2) durch die dritte von ihm näher beleuchtete Institution, die in der Frankfurter Kommunalpolitik dominierende SPD, hält Kittel letztendlich für zunächst aus Sicht der Protagonisten kontraproduktiv. Er konstatiert den Anteil der dadurch ausgelösten Veränderung der SPD an ihrem seit 1968 sinkenden Stimmenanteil. Dieser mündete schließlich in dem herausragenden Wahlerfolg der CDU bei den Kommunalwahlen 1977 und besiegelte damit in Frankfurt und vielen anderen hessischen Kommunen das Ende der Ära der „Roten Rathäuser“. Angesichts der mittelfristigen Veränderungen der SPD sowie des beginnenden Erfolgs der Grünen in den 1980er-Jahren hält er den „Marsch durch die Institutionen“ machtpolitisch aber dennoch für mittelfristig erfolgreich.

Kittel sieht sich in der Tradition politischer Sozialgeschichtsschreibung und verzichtet bewusst auf die Einbeziehung kulturalistischer Ansätze in seine Studie. Stattdessen möchte er im Sinne politikwissenschaftlicher Arbeiten zur Erforschung kommunaler Machtstrukturen „Kulturpolitik in erster Linie als Politik“ verstehen (S. 18). Diese völlige Ausblendung der Kultur – im weiteren Sinne – bei der Analyse der Kulturpolitik führt aber auch dazu, dass er die sich wandelnden Inhalte der Kulturpolitik, die Veränderung dieses Politikfeldes, in seiner Studie zwar beschreibt, in die Bewertung aber nicht einbezieht. Die Aussagekraft zur Beantwortung der Ausgangsfrage nach dem Erfolg des langen Marsches durch die Institutionen bleibt daher begrenzt auf die veränderte Form der Institutionen selbst bzw. das Scheitern der Veränderungsversuche. Die geringe Strahlkraft für die Zukunft, die Kittel etwa den umfangreichen Reformen der Frankfurter Kulturpolitik oder den trotzt aller Kritikwürdigkeit zu ihrer Zeit viel rezipierten Konzepten des Historischen Museums beimisst, ist in dieser Rigorosität daher nicht einsichtig. Eine Erklärung dafür, dass der Marsch durch die Institutionen nur scheinbar scheiterte und langfristig doch Erfolge zeigte und damit auch eine Erklärung für die Veränderungen der Frankfurter (Kultur-)Politik deutet Kittel in seinem Fazit an. Er verweist auf die Karrieren vieler 68er im Bereich der Bildung und der Medien aber auch auf deren Wirken in den Subkulturen. Die von Manfred Kittel zu Recht geforderte weitere empirische Forschung zu 1968 sollte solche indirekten Folgen stärker in den Blick nehmen, als dies in seiner Studie der Fall ist, und schließlich auch eine Betrachtung der auf den ersten Blick weniger interessanten, aber dadurch nicht weniger aufschlussreichen „Biotope“ wagen.

Anmerkungen:
1 Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, 2. Aufl., Göttingen 2008 (1. Aufl. 1998); vgl. die Rezension von Axel Schildt, in: H-Soz-u-Kult, 04.01.1999, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=123> (29.03.2012).
2 Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, 2. Aufl., Bonn 1997 (1. Aufl. 1988), S. 265.
3 Rainer Mennicken, Peter Palitzsch. Regie im Theater, Frankfurt am Main 1993.

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