Titel
Malcolm X. A Life of Reinvention


Autor(en)
Marable, Manning
Erschienen
New York 2011: Penguin Books
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
€ 22,16
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Orban, Historisches Seminar, Universität Erfurt

„Malcolm was our manhood, our living, black manhood! […] And we will know him then for what he was and is – a prince – our own black shining prince – who didn’t hesitate to die, because he loved us so.“1 Wie keine zweite Äußerung stellen Ossie Davis’ (1917-2005) emphatische Nachworte die nachhaltige Bedeutung seines Freundes für das schwarze urbane Amerika heraus; bis heute prägen sie die afroamerikanische Imagination von Malcolm X. Dabei positionierte der renommierte Schauspieler, Autor und Bürgerrechtsaktivist Malcolm als prinzlich-leuchtenden Hoffnungsträger, dem es verwehrt blieb als Führungspersönlichkeit weiter zu reifen und sein volles Potenzial zu realisieren und ein „King“ zu werden. Seine große Anziehungskraft liegt vor allem darin begründet, dass er als integerer und authentischer Repräsentant der urbanen marginalisierten „Black Masses“ auftrat. Malcolm X teilte ihre Erfahrungen und Probleme, verkörperte ihre Emotionen und Vitalität und kämpfte als ihr sicht- und hörbarer Sprecher unnachgiebig wie hingebungsvoll gegen institutionellen und kulturellen Rassismus; er forderte die etablierte Gesellschaftsordnung somit couragiert heraus und radikalen Wandel vehement ein. Die Einheit, Selbstachtung, Selbstermächtigung und Selbstbestimmung schwarzer Menschen propagierte er als dafür notwendige Vorbedingungen. Als Afro-Americans sollten sie sich selbst (re)definieren und ihre Leben selbstbewusst umgestalten – der „Opferrolle“ entsagen sowie ihr kulturelles Erbe und ihre Geschichte anerkennen, ja zelebrieren. Malcolm X’ inspirierend-ermutigende, eloquent und nachdrücklich performierte Botschaft lautete: „Black Consciousness“ und „Black Pride“. Hierzu präsentierte er eine überzeugende Assemblage zwei zentraler Figuren afroamerikanischer Kultur: Gleichzeitig fungierte er als „Hustler/Trickster“ und „Preacher/Minister“. Oder anders: Für Harlem, gedacht als Metapher für das schwarze urbane Amerika, das der „Harlemite“ Ossie Davis adressierte, war Malcolm X das personifizierte Ideal männlich codierten Schwarzseins. Und: Zugleich machte ihn dies zur geistigen Vaterfigur der naszierenden Black-Power-Bewegung sowie für nachfolgende Generationen, besonders in den 1990er-Jahren, als er durch Spike Lees Hollywood-Biopic (1992) und durch die Aneignung seitens der Hip-Hop-Kultur eine Renaissance erfuhr und „Mass Appeal“ erlangte, zum exemplarischen Freiheitskämpfer und elektrisierenden Fürsprecher afroamerikanischer Würde und Selbstheit.

Indes beschreibt die Maske des „black shining prince“ lediglich die Paraderolle einer facettenreichen Figur mit zahlreichen, sich überlagernden und widerstreitenden Namen und Identitäten, wobei Malcolm X wohl der bekannteste Signifikant ist. Zu nennen sind der schulabbrechende „Country Boy“ Malcolm Little; Jack Carlton, ein urbaner Zoot-Suit-Entertainer; der kleinkriminelle, schließlich inhaftierte Familienmensch Detroit/Big Red; der selbstdisziplinierte Autodidakt und „Black Muslim“ Malcolm X; Malcolm/Malik Shabazz, der unermüdlich-devote Jünger und politisch ambitionierte Minister der separatistischen wie rassistischen Nation of Islam; der Bürger- und Menschenrechtsaktivist, Antirassist, Panafrikanist und afroamerikanische Muslim El-Hajj Malik El-Shabazz, der den Universalismus und Humanismus des orthodoxen Islam akzeptierte; sowie Malcolm, Ehemann und Vater von sechs Töchtern. Wie diese ausgewählten vielschichtig-ambivalenten (Selbst)Entwürfe andeuten, kann eine singuläre Maske solch einer konfliktreichen Identitäts- und Subjektbildung bzw. wiederholt nicht linearen Transformationen schwerlich gerecht werden.

In „A Life of Reinvention“, der lange erwarteten richtungsweisenden Malcolm-X-Biografie, zeichnet Manning Marable nun entlang des paradigmatischen Leitmotivs des Sich-neu-Erfindens ein beeindruckendes, umfassendes und ausdifferenziertes Portrait einer oft missverstandenen komplexen Figur. Dabei kann man seine Studie mit dem qualitativ-affirmativen Tag „Old School“ versehen. So entwickelt Marable auf knapp 500 Seiten, in 16 chronologischen Kapiteln, gerahmt von einem reflektierten Pro- und Epilog, eine grundlegende Chronologie von Malcolm X’ rastlosen und peripatetischen Leben; gewissermaßen die mit analytischen und fotografischen Long shots und Close-ups veranschaulichte „evolution of a subject over time“ (S. 479): Von einer kleinen schwarzen Community in North Omaha, Nebraska, im Jahre 1925, bis zum Leben nach seiner Ermordung im Audubon Ballroom, in Washington Heights, NYC, am 21. Februar 1965. Das Hauptaugenmerk ruht hierbei auf den 1960er-Jahren und vor allem auf dem identitätspolitisch bedeutsamen Reisejahr 1964. Zudem gewährt Marable als akribisch arbeitender Biograf auch den verlinkten „perspectives and actions of others“ ausreichend Spielraum, zumal er gleichzeitig „the social architecture of an individual’s life“ gekonnt auffächert (S. 479). Er rekonstruiert sonach Malcolm X’ Leben und was in diesem wie passierte; hierbei situiert er seinen zentralen Charakter, ohne sich und den Fokus auf selbigen zu verlieren, in sich verschiebenden, mitunter inter- und transnationalen gesellschaftlichen Konfigurationen. Verdichtet wird diese kontextuelle Verortung mit kleineren Exkursen zu Organisationen, Einzelpersonen und sozialen Räumen. Ausgefallene Theoretisierungen, sprachliche Schnörkel oder psychologisierende Spekulationen sucht man dabei vergeblich; vielmehr besticht Marables gründlich recherchiertes Magnum Opus durch seine leser/innen/freundliche klare Struktur und Sprache. Der Anspruch, nach jahrzehntelanger detaillierter Forschungsarbeit, „an effective narrative“ vorzulegen, die ein größtmögliches Publikum erreichen kann, ist ihm demnach eindrucksvoll gelungen (S. 492).

Während seiner überaus produktiven 35-jährigen akademischen Karriere war es Manning Marable stets ein wichtiges Anliegen, die breitere (lesende) Öffentlichkeit anzusprechen und für rassiale, klassenspezifische sowie geschlechtlich strukturierte sozioökonomische Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung in der (US-amerikanischen) Gesellschaft zu sensibilisieren und zur kritischen Reflektion sowie zu widerständigem Handeln anzuleiten. Als marxistisch-feministischer Scholar-Activist, querdenkender und transdisziplinär wie globalperspektivisch arbeitender Historiker, als ein Doyen afroamerikanischer Geschichtsschreibung und nicht zuletzt „Malcolmite“, versuchte er unterdrückte Menschen, insbesondere die „Black Masses“ zu ermächtigen und soziale Schranken zu überwinden. Am 1. April 2011, im Alter von nur 60 Jahren und wenige Tage vor der Veröffentlichung von „A Life of Reinvention“ verstarb der „Race Man“, den der afroamerikanische Philosoph Cornel West „our grand radical democratic intellectual“ nannte.2

Wenig überraschend trifft Wests Beschreibung auch auf jene mythisch-ikonische Figur zu, der sich Marable bis zu seinem Tod widmete und die er mit frischen Quellen teilweise neu denkt und neu liest. Der Ansatzpunkt seiner im produktiven „Middle Ground“ zwischen hagiografisch imprägnierter „Malcolmology“ und unbeirrter Dämonisierung zu verortenden Darstellung ist dabei die kanonisch gewordene Fassung von Malcolm X’ Leben, dessen immens populäre Autobiografie.3 Im Verbund mit „Malcolmites“ und Gegnern, die nach 1965 an seiner Legende mit strickten, hat dieser „Faction“-Bestseller maßgeblich dazu beigetragen, dass Malcolm X zu einer multikulturellen amerikanischen Ikone wurde. Stark mitgeprägt durch Alex Haley, einem liberalen Republikaner und Integrationsbefürworter, besticht die Autobiografie nicht nur durch Inkonsistenzen hinsichtlich von Namen, Daten und Fakten oder etwa einem auffällig überzeichneten Detroit-Red-Charakter, sondern auch durch zahlreiche Leerstellen, die mithin auf unveröffentlichte Kapitel verweisen. Ausgehend von der Dekonstruktion des Standardnarrativs hat Marable eine überzeugende Annährung an das Leben und den Mann hinter dem Mythos geleistet. Er (re)konstruiert einen passionierten, hin und her gerissenen und (selbst)kontrollierten, ja menschlichen Malcolm X voller widersprüchlich-komplizierter Facetten: charismatisch und charmant mit Publikum und Presse interagierend, aber oft sachlich-kühl und distanziert gegenüber seiner Ehefrau Betty Shabazz; ein kompromissloser Menschenrechtsaktivist, der bisweilen auf antisemitische und frauenfeindliche Äußerungen zurückgriff. Marables Untersuchung profitiert hierbei, abgesehen vom etablierten Literaturkorpus zu Malcolm X, besonders von den besagten neuen Quellen. So konnte er mit einem umfangreichen Konvolut an Regierungs- und Überwachungsdokumenten (Akten des FBI, CIA, State Department, NYPD oder New Yorker Bezirksstaatsanwaltes) arbeiten; zudem war es ihm möglich, Interviews mit einem diversen Set an Personen (etwa mit Malcolm X’ Vertrauten James 67X Warden, dem Ex-Polizist Gerry Fulcher oder Minister Louis Farrakhan) zu führen. Aufschlussreiche Perspektiven gewähren überdies Malcolm X’ Privatkorrespondenz und vor allem sein Reisetagebuch. Diese zuvor weitgehend unzugänglichen Materialien nutzt Marable zuvorderst, um Malcolm X’ spannungsreiche Reise der Neuerfindungen – seine sich wandelnde spirituell-religiöse Positionierung, politische Programmatik und soziokulturelle Selbstverortung – nuanciert nachzuzeichnen sowie um teilweise neue Akzente zu setzen. Insbesondere akzentuiert er Malcolm Littles garveyistisch konnotierte Sozialisierung; Malcolm X’ vielschichtige Beziehung zur bzw. sein Bruch mit der Nation of Islam und deren Führungskader; El-Hajj Malik El-Shabazz’ mehrmonatige Reisen (1964) nach Nord- und Westafrika und in den Nahen Osten; sowie die Umstände und Abläufe, die zur ungeklärten Ermordung Malcolms führten. Interessant wie informativ sind dabei speziell die beiden letztgenannten Foki: Einerseits das Beleuchten von El-Shabazz’ Etablierung als anerkannter Panafrikanist und orthodoxer Muslim, der eine blockfrei-humanistische Position bezog und die USA vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zu verklagen suchte. Andererseits benennt Marable die wahrscheinlichen Attentäter – fünf teils noch lebende und nie belangte afroamerikanische Männer mit Verbindungen zur Newark-Moschee der Nation of Islam – und diskutiert die anscheinende, bis dato aber noch nicht belegbare Involvierung von lokaler Polizei und Bundesbehörden, die sich durch ihre bekanntermaßen ausgeprägt amateurhafte Fallbearbeitung hervortaten.

„A Life of Reinvention“ vermittelt, so lässt sich abschließend festhalten, besonders in der Zusammenschau mit der Autobiografie und Malcolms „eigenen Worten“4 einen unverzichtbaren, weil gut lesbaren und vertiefenden Einstieg in eine kritisch informierte „Malcolmology“. Sowohl für eine breite Leser/innen/schaft als auch für wissenschaftliche Fachkreise, die sich mit rassial-religiöser transnationaler Politik kritisch auseinandersetzen, offeriert Marables Magnum Opus einen reichhaltigen Zugang zu einer komplexen transitorischen Figur, die wir als einen noch immer relevanten „representative of hope and human dignity“ (S. 487) lesen sollten. Denn auch im 21. Jahrhundert ist die globale Apartheid, mithin die „Color Line“5, die Malcolm X und später Manning Marable so couragiert problematisierten und herausforderten, ein zentrales humanitäres Problem, das es „by any means necessary“ zu bekämpfen gilt.

Anmerkungen:
1 Ossie Davis’ Grabrede für Malcolm X, 27. Februar 1965, Faith Temple Church of God in Christ, Harlem, NYC, <http://www.britannica.com/EBchecked/media/74197/Actor-Ossie-Daviss-eulogy-for-Malcolm-X> (17.05.2011).
2 Russell Rickfords Nachruf auf Manning Marable, <http://www.iraas.com/node/221> (17.05.2011).
3 Malcolm X, The Autobiography of Malcolm X. As Told to Alex Haley, New York 1999 [1965].
4 George Breitman (Hrsg.), Malcolm X Speaks. Selected Speeches and Statements, New York 1990 [1965]; ders. (Hrsg.), By Any Means Necessary. Speeches, Interviews, and a Letter by Malcolm X, New York 1990 [1970].
5 Manning Marable / Vanessa Agard-Jones (Hrsg.), Transnational Blackness. Navigating the Global Color Line, New York 2008.

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