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Titel
Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985


Autor(en)
Schregel, Susanne
Reihe
Historische Politikforschung 19
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Holger Nehring, Centre for Peace History, University of Sheffield

In einem Werbespot der Grünen von Anfang der 1980er-Jahre taucht Herr Friedom (gespielt von Hoimar von Ditfurth) mit einer dem Augenschein nach selbst gebastelten mannsgroßen Papp-Atomrakete in einem Bonner Vorgarten auf und will sie partout dort abstellen, während die konsternierten Bewohner versuchen, die nicht bestellte Waffen an den Absender zurückgehen zu lassen. Susanne Schregel liefert mit ihrer bahnbrechenden „Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik“ nicht nur eine historische Kontextualisierung dafür, wie der „Atomkrieg vor der Wohnungstür“ imaginiert wurde. Sie bietet auf diesem Wege wichtige Hinweise für die Historisierung des Politischen aus der Perspektive der kritischen Kulturgeographie. Schregel möchte zeigen, wie die Friedensbewegungen durch die Imagination der Atomkriegsgefahr im Nahraum den Kalten Krieg wissbar machte: denn weil es einen Atomkrieg nicht gegeben hatte, und die Bilder von Hiroshima und Nagasaki angesichts der Zerstörungskraft moderner Atomwaffen nicht mehr völlig überzeugend waren, stellte die Frage der Repräsentation ein Kernproblem friedensbewegter Mobilisierung dar. Schregel liefert somit auch implizit erste Bausteine einer noch zu schreibenden Wissensgeschichte des Kalten Krieges.1

Nach einer auf theoretisch ansprechendem Niveau gehaltenen Einleitung analysiert Schregel verschiedene Elemente des „Atomkriegs vor der Wohnungstür“. In einem ersten Schritt untersucht Schregel die „friedensbewegten Raumbilder“ (S. 79), die sich durch die Auseinandersetzung mit der Präsenz des Militärs im Nahraum herausbildeten und so den Kalten Krieg als Krieg über die Präsenz des Militärs erfahrbar machten. Auch die Anbindung von Atomkriegsszenarien an lokale Gegebenheiten erfüllte den Zweck, die Realität des Kalten Krieges als Vorkriegszeit eines möglichen Nuklearkriegs vorstellbar zu machen. Diskussionen innerhalb der Friedensbewegungen über Bunker und die Unmöglichkeit des Schutzes vor Atomwaffen bildeten eine weitere Komponente dieser nahräumlich orientierten Politik. Die sich daran anschließende Analyse der Körperlichkeit der Friedensaktivistinnen und -aktivisten und der „Körper-Räume“ (S. 227), die sie dadurch aufspannten, gehört zu den gelungensten und anregendsten Passagen des Buches. Denn hier kommt auch der Aktivismus selbst in den Blick. Schregel kann zeigen, wie die Friedensbewegten ihre Körper sowohl als Orte der Verletzlichkeit als auch als Orte der Überwindung der Gefahren eines Atomkriegs imaginierten. In ihrer letzten Fallstudie zeigt die Autorin, wie die Friedensbewegten atomwaffenfreie Zonen als Vorwegnahme von Frieden imaginierten und wie das Wissen über solche Zonen in einen transnationalen Kontext eingebunden war, der von den Vereinigten Staaten über Australien und Neuseeland in die Bundesrepublik wirkte.

Schregel liefert mit ihrem Buch wichtige Hinweise zur Historisierung von Politik in den 1980er-Jahren, indem sie nämlich argumentiert, wie die Friedensbewegung durch eine „Grenzverschiebung des Politischen“ (S. 344) eine neue Form politischer Macht zu etablieren half. Diese Macht war der von politischen Parteien, Bürokratien und hierarchischen organisierten Herrschaft (Schregel benutzt hier ein wenig unpräzise den Begriff „Macht“) diametral entgegengesetzt und entfaltete ihre eigenen Logiken. Sie war nicht mehr primär am Erreichen von spezifischen Zielen orientiert, sondern vielmehr an performativen Praktiken vor Ort. Sie setzten vor allem bei persönlichen Einstellungen zu Politik an und wollten Politik machen, indem sie das „Klima“ beeinflussten, in dem politische Entscheidungen stattfanden. Die „Neuheit“ der von Schregel (mal mit, mal ohne Anführungszeichen) als „neu“ bezeichneten Friedensbewegung der 1980er-Jahre bleibt dabei etwas vage.

Letztlich handelt es sich bei Schregels Buch also um eine Geschichte der kognitiven Orientierungen, also der Ideen, welche den Umgang mit Raum in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre prägten. Diese Perspektive geht mitunter auf Kosten der Analyse des dynamischen Charakters der Bewegung. Die Gefahr von Schregels “spatial turn” ist, dass die Bewegungen quasi im Raum fixiert werden. Genau dies war ja auch die Quintessenz ganz anderer Wendungen in den Nahraum hinein, etwa die Suche nach Heimat auf den verschiedenen Seiten des politischen Spektrums oder auch die Geschichtswerkstättenbewegungen. Auch wäre noch zu diskutieren, ob die binäre Gegenübersetzung von „Leben“ und „Tod“ tatsächlich die binären Kategorien des Kalten Krieges wie „Ost“/ „West“, „Frieden“/ „Freiheit“, „System“/ „Lebenswelt“ überwand, oder ob sie nicht viel mehr Politik schlicht existentialistisch auflud und dadurch gerade nicht mehr verhandelbar machte. Dennoch gelingt es Schregel insgesamt beeindruckend, nicht nur die Friedensbewegung selbst, sondern auch zentrale Elemente ihrer politischen Ideen und Praktiken zu historisieren. Sie hat damit ein wichtiges Werk vorgelegt, an dem zukünftige Forschungen zum Thema und zur erweiterten Politikgeschichte der 1980er-Jahre nicht vorbeikommen werden.

Anmerkung:
1 S. dazu Patrick Bernhard / Holger Nehring (Hrsg.), Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte, Essen 2012.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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