C. Gudehus u.a. (Hrsg): „Der Führer war wieder viel zu human…“

Titel
„Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll“. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten


Herausgeber
Christian, Gudehus; Welzer, Harald; Neitzel, Sönke
Reihe
Schwarze Reihe
Erschienen
Frankfurt a. M. 2011: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
12,99 €
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
John Zimmermann, Abteilung Forschung, Militärgeschichtliches Forschungsamt der Bundeswehr Potsdam

Dass es Adolf Hitler an Härte und Skrupellosigkeit gemangelt habe, ist sicher ein Vorwurf, der heutzutage absurd anmutet – oder wie es Sönke Neitzel und Harald Welzer in ihrer Einleitung zum vorliegenden Band ausdrücken, „im Angesicht der Zerstörung eines ganzen Kontinents und sich insbesondere im Osten abspielender Kriegs- und Vernichtungsereignisse als vollkommen unverständlich, ja verstörend erscheint“ (S. 9). Gleichwohl ist diese Kommentierung der Bombardierung Londons durch einen Luftwaffenunteroffizier aus dem Jahre 1943, abgehört in US-amerikanischer Gefangenschaft, ein Ausgangspunkt für ihre Forschungen. Die Herausgeber wollen die vorherrschende normative Perspektive im Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg aufbrechen und um eine „zeitgenössische Wahrnehmung“ (S. 10) der Soldaten bereichern.

Dazu bearbeiten sie, zusammen mit 14 Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und Italien, ein weiteres Mal die ungefähr 150.000 Seiten umfassenden Abhörprotokolle deutscher, italienischer und japanischer Soldaten aus britischen Kriegsgefangenenlagern. Der Sammelband teilt sich in vier Abschnitte: Einleitend erklärt Christian Gudehus „Theorie & Methode“ im Umgang mit dem Quellenkorpus, Falko Bell, Felix Römer und Matthias Uhl setzen sich zudem mit den Besonderheiten von „Quellen & Strukturen“ auseinander. Auf ihren Erkenntnissen baut sich der Schwerpunkt des Bandes, „Abgehörte Wehrmacht und SS“, auf, dessen Ergebnisse im abschließenden Kapitel „Bündnispartner im Verhör“ in Relation zu den Ergebnissen hinsichtlich der mit den Deutschen verbündeten Soldaten aus Italien und Japan gesetzt werden.

Diese übersichtliche Struktur erweist sich bei der Lektüre als überaus zielführend, weil sie Kenner wie Laien Schritt für Schritt durch die komplexe Materie geleitet. Kenntnisreich gelingt es Gudehus einführend mit seinen „Rahmungen individuellen Handelns“ (S. 26), das Analysemodell im Umgang mit den individuellen Zeitzeugnissen sowohl sozialwissenschaftlich zu verorten als es auch den Lesenden präzise zu vermitteln. Für Römer hingegen stellt sich die Frage nach der „Volksgemeinschaft in der Wehrmacht?“. Ausgehend von der Feststellung, dass es „eine abgeschlossene Periode, in der die Zusammenhänge zwischen Weltbildern, Einstellungen und Identitäten einerseits und der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, Schichten und Milieus andererseits besonders eng waren“, gab – nämlich vom letzten Drittel des 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – untersucht er, „welche Bedeutung […] die Herkunft aus Sozialmilieus also noch für die Soldaten der Wehrmacht [besaß]“ (S. 55). Im Ergebnis findet er ein „Bindeglied zwischen primärer und sekundärer Kohäsion in den Streitkräften des NS-Staates“ in der Loyalität des einzelnen Soldaten, die sich eben „nicht allein aus der Solidarität ihrer Primärgruppen [speiste], sondern […] sich auch auf die Wehrmacht als Institution [bezog], […] auf der weithin geteilten Identifikation mit den kriegerischen Tugenden der Wehrmacht [basierte]“ (S. 81). Während Gudehus also die methodische Leitlinie vorgibt, fixiert Römer den argumentativen Horizont.

Im folgenden Abschnitt beschäftigen sich erneut Felix Römer und Falko Bell grundlegend mit der „Informationsquelle Gefangene“ (S. 96) in den britischen beziehungsweise US-amerikanischen Streitkräften. Dabei bilanzieren sie dezidiert deren Wichtigkeit und wesentlichen Anteil an der alliierten Aufklärungsarbeit insgesamt. Matthias Uhl ergänzt diesen Abschnitt um erstmals ausgewertete sowjetische Akten zu entsprechenden Aktivitäten des Moskauer Geheimdienstes, hier allerdings begrenzt auf bislang zugängliche Dokumente, nach denen das Vorgehen vergleichsweise willkürlich erscheint.

Im folgenden zentralen Kapitel des Bandes setzen sich sieben Aufsätze mit wesentlichen Fragestellungen innerhalb des Sujets auseinander. Während Martin Treutlein und Sönke Neitzel die in vielerlei Hinsicht als Sonderfall geltende kampflose Übergabe des besetzten Paris im August 1944 unter der Frage untersuchen, ob sich unter den speziellen Bedingungen dort etwa „ein besonders NS-kritisches Wehrmachtmilieu“ (S. 173) gebildet haben könnte, wenden sich Anette Neder („Deutsche Soldaten im Mittelmeerraum“), Richard Germann („‚Österreichische‘ Soldaten im deutschen Gleichschritt?“) und Tobias Seidl („Deutungsmuster deutscher Generäle in britischer Gefangenschaft“) einzelnen Gruppierungen unter den Kriegsgefangenen zu. Alle kommen zu dem Ergebnis, dass Ideologisierung und Fanatismus eine vergleichsweise geringe Rolle für die Inhaftierten spielte. Selbst in der Bewertung des jeweiligen Kriegsgegners spüren sie grundsätzlich eine „Dominanz des militärischen Referenzrahmens“ (S. 19) auf, wie sie Neitzel und Welzer bereits in der Einleitung zusammenfassen – wenn auch mit teilweise deutlichen Unterschieden gegenüber der Roten und der die Seiten wechselnden italienischen Armee im Fortgang des Krieges. Außerhalb dieses Rahmens jedoch lassen sich die Soldaten keineswegs als homogene Einheit einordnen. Gerade die Beiträge von Michaela Christ zu „Gewalt und Verbrechen in den Gesprächen deutscher Kriegsgefangener im amerikanischen Verhörlager Fort Hunt“ und Alexander Hoerkens zu „NS-Nähe als Generationsfrage“ verdeutlichen, wie individuell Meinungen und Wahrnehmungen mitunter gewesen sind, wie abhängig von den zeitlichen und räumlichen Bedingungen. Dies belegt auch der Beitrag von Katharina Straub zu „Wahrnehmungen und Deutungen von Soldaten der Waffen-SS“. Zwar stellt Straub dort eine ganz andere „Diskussionskultur“ fest, „für die es offenbar normal war, über Grausamkeiten zu sprechen“ (S. 337). Dennoch bestätigt sie die Erkenntnisse bisheriger Studien, nach denen es weder eine monolithisch existierende Waffen-SS noch das „Bild einer ideologischen und politischen Elite“ (S. 336) gegeben hat.

Konsequent wendet sich der Band in seinem letzten Abschnitt den verhörten Bündnispartnern der Deutschen zu. Amedeo Osti Guerazzi äußert sich in diesem Kontext „Zum Selbstbild der italienischen Armee während des Krieges und nach dem Krieg“, Takuma Melber untersucht „Alliierte Studien zu Moral und Psyche japanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg“. Auffällig ist, wie deutlich sich einerseits die Wahrnehmungen der italienischen Kriegsgefangenen von ihren deutschen Äquivalenten unterschieden und wie sich andererseits die Befunde für Deutsche und Japaner ähneln. Melber skizziert dabei „erste Einblicke in die ‚Mind Map‘ japanischer Soldaten“ (S. 428). Aus deren Sozialisierung heraus galt im Unterschied zu allen anderen hier betrachteten Nationen, „dass Kriegsgefangenschaft […] und jede Form von Kapitulation Schande über einen selbst, aber auch über die eigene Familie und Nation bringe“ (S. 416); von ihnen wurde erwartet, „auch in aussichtslos erscheinender Lage selbstaufopferungsvoll bis zum eigenen Tod zu kämpfen oder alternativ den Freitod zu wählen“ (Ebd.). Dass die japanischen Soldaten diese anerzogene Prägung während der Gefangenschaft allmählich überwanden, dafür sorgten die Einsicht in „die immer schlechter werdende allgemeine Kriegslage Japans und der damit einhergehende Ansehensverlust der Führung […] sowie der alliierte Umgang mit den Kriegsgefangenen“ (S. 428) – nach Melber „das Erklärungsmodell für den mentalen Wandel und eine zunehmend moralische Legitimierung der Kriegsgefangenschaft“ (Ebd.).

Die kriegsgefangenen Italiener stilisierten sich demgegenüber fast durchweg zu besseren Menschen, weil sie „nicht hassen [können]“ (S. 350), prägten den „Mythos vom ‚guten italienischen Soldaten‘“ (S. 406), der selbst zum Opfer von Faschismus und Diktatur geworden wäre. Im Ergebnis sei Italien deswegen „das einzige Land der Achsenmächte, das sich weigert, sich ernsthaft mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen“ (S. 385). Dafür sorge insbesondere, so Guerazzi, „das maßgeblich in Wilton Park kreierte master narrative“, das „noch heute die vorherrschende Erzählung der Geschichte Italiens im Zweiten Weltkrieg [ist]“ (Ebd.). Diese Sichtweise wird von dem sich anschließenden Beitrag von Daniela Wellnitz zu „Faschismus und Monarchie im Sommer 1943“ grundsätzlich gestützt. Sie führt allerdings auch langfristige emotionale Bindungen der italienischen Offiziere gegenüber ihrem König erklärend ins Feld. Wellnitz mahnt daher eine umfassende Analyse der abgehörten Gespräche an und fordert „eine bis heute nicht ausreichend erstellte Mentalitätsgeschichte der italienischen Armee während des Zweiten Weltkrieges“ (S. 406f.).

Im Ergebnis leistet der vorliegende Sammelband Erhebliches: Er verbindet einerseits multiperspektivische Ansätze zur Aufarbeitung eines ebenso komplexen wie in hohem Maße interessanten Quellenbestandes mit bereits vorhandenen Forschungsergebnissen und kratzt andererseits am Firnis scheinbar feststehender Erkenntnisse wie vor allem der Ideologisierung der Wehrmachtsoldaten. Trotz mitunter hochfahrender Urteile, die daraus gleich „eine partielle Neubewertung der Wehrmacht und ihres Personals“ (S. 255) ableiten wollen, ist damit ein weiterer wichtiger Schritt getan, die riesige Menge an aufgefundenen Abhörprotokollen für die historische Forschung fruchtbar zu machen. Allerdings drängt sich an der einen oder anderen Stelle auch die Gefahr auf, die zeitgenössischen Aussagen als tatsächliche Kunde der historischen Realität werten zu wollen. Wenn es beispielsweise „notwendig (erscheint), soldatisches Selbstverständnis und Handeln von der politischen Einstellung Einzelner zu trennen“ (S. 255), so ist der Weg nicht weit zur eigentlich überwundenen Deutungshoheit der „Nur-Soldaten“ aus den Veteranengenerationen. Bei aller Begeisterung für den Quellenfund und die Empathie mit den dort überlieferten Einsichten bleibt die Quellenkritik an mancher Stelle allzu rudimentär.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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