Titel
Sexuality in Europe. A Twentieth-Century History


Autor(en)
Herzog, Dagmar
Reihe
New Approaches to European History
Erschienen
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Das 20. Jahrhundert gilt gemeinhin als das "century of sex" oder genauer: das Jahrhundert der sexuellen Revolution. Diese Sichtweise passt sich in die Modernisierungs- und Fortschrittsthese ein, der nach wie vor die meisten geschichtswissenschaftlichen Meistererzählungen verpflichtet sind. Eine erfrischend andere Perspektive wählt Dagmar Herzog in ihrer Kurzgeschichte der Sexualität im Europa des 20. Jahrhunderts. Trotz des Zielpublikums der Reihe, "advanced school students and undergraduates", ist ihr eine Synthese des Forschungsstandes auf höchstem Niveau gelungen. Auf sprachlich wunderbar klare Weise werden sexualgeschichtliche Kernthemen wie Prostitution und Pornographie, Eugenik und Abtreibung, Sexualreform und Homophobie in ihren gesellschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt politischen Kontexten dargestellt. Was das Werk jedoch eigentlich ausmacht, ist der mutige konzeptionelle Zugriff: In keiner anderen aktuellen Sexualgeschichte werden mit solcher Konsequenz Widersprüche, Gegenläufigkeiten, Rückschläge und Ambivalenzen der sexuellen Liberalisierung aufgedeckt und analysiert.

Wie Herzog in ihrem Fazit herausstreicht ist das 20. Jahrhundert in Europa per Saldo eine Erfolgsgeschichte sexuellen Fortschritts, der Verfügbarkeit und Verbesserung von Verhütungsmitteln, des Ausbaus der Rechte Homosexueller, der verbreiteten Akzeptanz vorehelichen Geschlechtsverkehrs, der Anerkenntnis des Eigenwertes sexueller Befriedigung innerhalb und außerhalb der Ehe. Kein Zeitalter zuvor hat eine solche geradezu exponentielle Zunahme der Beschäftigung mit Sexualität im gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und privaten Bereich erlebt.

Keinesfalls war der Weg sexueller Freiheit jedoch geradlinig-progressiv und er ist, auch wenn dies jede lebende Generation gerne glauben mag, noch keineswegs zu Ende gegangen. Wie sich Sexualkulturen verändern, wie sich die Menschen Sexualität vorstellen, wünschen, verdammen, wo die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung gezogen werden (und zu welchen Zwecken), war und ist je nach Ort und Zeit variabel. Sexualität, so eine der grundlegenden Erkenntnisse Herzogs, ist keine natürliche, überzeitliche Sache, die allein von der Biologie, den Genen, den Trieben des Menschen gesteuert, sondern die zu einem guten Teil sozial und politisch determiniert wird. Die dunklen Seiten der Sexualität des 20. Jahrhundert mit seinen staatlich angeordneten Massenvergewaltigungen und jahrzehntelang geduldeten Strukturen sexuellen Missbrauchs machen deutlich, dass Ausübung und Ideologie der Sexualität immer auch Machtausübung ist. Weder der Völkermord an den Armeniern noch die nationalsozialistischen Konzentrationslager oder die ethnischen Säuberungen in Jugoslawien können vollständig erfasst werden, ohne sie auch als Praktizierung sexueller Gewalt – oder gewalttätiger Sexualität – zu fassen.

Bereits vor Beginn der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs zeigt sich für Herzog die Janusgesichtigkeit moderner Sexualität. Die international perzipierten Sexskandale nach der Jahrhundertwende von 1900 führten zu einer "explosion of discussion" (S. 6) vordem unbekannter oder ausgegrenzter Sexualthemen und zur Identitätsfindung vieler sexueller Spielarten, jenseits der keineswegs zwangsläufigen Dichotomisierung in Hetero- und Homosexualität. Vermittels der Skandale trug die zunehmende Sagbarkeit von Sexualität zur Erweiterung der demokratischen Öffentlichkeit und zum Aufstieg der Presse zur Vierten Gewalt bei. Gleichzeitig griff diese Entwicklung tief in die individuelle Privatsphäre ein, zerstörte Existenzen und machte die im Arkanen ausgelebte Sexualität zu einem Politikum. Im öffentlichen Raum offenbarten sich innere Widersprüche der Sexualreformer, etwa bei der Haltung der deutschen Frauenbewegung zur Verschärfung des Strafparagraphen 175: Feministinnen forderten die Strafbarkeit auch von lesbischem Geschlechtsverkehr – um der Geschlechtergerechtigkeit willen.

Die Politisierung der Sexualität setzte Sexualreformen unumkehrbar auf die Agenda der europäischen Nationalstaaten sowie transnationaler Organisationen wie der World League for Sexual Reform (1928). Ob die verschiedenen Sexualpolitiken progressiv, reaktionär oder ambivalent waren, kann jedoch nur im historischen Kontext erfasst werden, wie Herzog betont. Die sexualpolitische Modernisierungswirkung des Nationalsozialismus etwa entzieht sich eindeutigen Zuschreibungen; wie im späten deutschen Kaiserreich die Homophobie ging nun die Xenophobie mit der heterosexuellen Liberalisierung Hand in Hand. Und eine lineare Progression fand keinesfalls statt: "There was more detailed discussion of the best techniques for enhancing female orgasm under Nazism than there would be in the far more conservative decade of the 1950s" (S. 72).

Repressiv zeigte sich nicht nur die bürgerliche Gesellschaft in der Restaurationsphase nach 1945, sondern auch das Sowjetsystem, dem trotz aller Befreiungsrhetorik um den "neuen Menschen" nach jetzigem Forschungsstand gar eine umfassende Sexophobie attestiert werden kann (S. 100). Auf der anderen Seite erwies sich ab den 1960er-Jahren der Kapitalismus als Katalysator ungeahnter sexueller Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums, nicht zuletzt durch die Entstehung einer gewaltigen Porno-Industrie (S. 135). Doch vor allem die Kommerzialisierung der Sexualität mit all ihren Gegenläufigkeiten ist postmoderner Kritik verfallen, wonach die Ubiquität sexueller Reize im Alltagsleben nur zu Überdruss, Lustlosigkeit und gar zu einer (reaktionären) Renaissance romantisch verklärter Paarbeziehungen führe.

Wie ambivalent die durch Sexualität beförderten moralischen Umwertungsprozesse noch immer sind, zeigt die in Europa grassierende Islamophobie, die heute zur Ausweitung homosexueller Freiheit beiträgt, wie Herzog ausführt (S. 200) – ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten Homosexuellenhaß und Rassismus die heterosexuelle Liberalisierung voranbrachten. Die Sexualgeschichte steht also noch vor brisanten Forschungen, zumal der sexuelle Mainstream noch kaum in den Blick genommen worden ist. Denn wir wissen, so Herzog, mehr über Homosexualität als Heterosexualität, mehr über Abtreibung als Verhütung, mehr über Prostitution als Pornographie, mehr über Vergewaltigung in Kriegs- als in Friedenszeiten.

Dagmar Herzog ist eine bewundernswert konzise Sexualgeschichte gelungen, die Lücken und Einseitigkeiten der Forschung nicht ideologisch überspielt oder glättet, sondern sich Offenheit, Neugier und Faszination bewahrt und ein Gespür für Ambivalenzen demonstriert. Kritisch anzumerken bleibt allein, dass die Literaturempfehlungen ausschließlich englischsprachige Texte anführen, wodurch nicht immer die europäische Vielfalt der jüngeren Forschungen abgebildet wird. Auch aus diesem Grund sind Herzogs glänzender Kurzgeschichte der Sexualität zahlreiche Übersetzungen zu wünschen.

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