H. Reinalter u.a. (Hrsg.): Lexikon der Geisteswissenschaften

Cover
Titel
Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen


Herausgeber
Reinalter, Helmut; Brenner, Peter J.
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIV, 1409 S.
Preis
€ 149,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Wolfes, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin

„Die ideengeschichtliche Forschungspraxis hat sich bis heute relativ diffus entwickelt“, schreibt Helmut Reinalter, einer der Herausgeber des „Lexikons der Geisteswissenschaften“, im Artikel „Ideengeschichte“. Demgegenüber versteht sich das vorliegende Werk als Beitrag zur Zusammenführung und Konzentration. Der Schwerpunkt liegt auf der Überbrückung von Grenzlinien, die sich aus der traditionellen Disziplinendifferenzierung ergeben und in denen Reinalter gravierende Hemmnisse für die Forschung sieht. Bei dem Lexikon handelt es sich um ein Arbeitsbuch, mit dem im Übrigen noch einmal der Versuch unternommen wird, der inzwischen üblichen raschen und umstandslosen Informationsbeschaffung aus dem Internet entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck soll dem Benutzer ein kompakter, gleichwohl fundierter und wissenschaftlich haltbarer lexikalischer Grundbestand aus dem Gesamtgebiet der Geisteswissenschaften an die Hand gegeben werden.

Das Ergebnis achtjähriger Arbeit ist ein imponierendes Buch, das die üblichen Dimensionen sprengt, und zwar schon von der äußeren Erscheinung her: 1409 Seiten! Dieser materielle Aspekt sei nicht übergangen. Hier haben der Böhlau-Verlag und die Druckerei („Balto print“ im litauischen Vilnius) gute Arbeit geleistet. Mit Interesse betrachtet man auch die Rückseite des Titelblattes. Dort werden, jeweils mit ihrem Hausemblem, neun Institutionen genannt, die den Druck unterstützt haben: vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien über einige Tiroler und Südtiroler Einrichtungen, die Universität Innsbruck, die Österreichische Forschungsgemeinschaft bis hin zur Wirtschaftskammer Österreich. Dieses Werk hat offensichtlich eine repräsentative Funktion und soll die Leistungskraft der in Österreich und Südtirol betriebenen geisteswissenschaftlichen Arbeit demonstrieren.

Was nun die inhaltliche Seite betrifft, so muss man sich an ein derartiges Buch erst einmal heranarbeiten. In welche Richtung führt der Untertitel „Sachbegriffe – Disziplinen – Personen“? Von den Umfangsanteilen her steht der erste Teil klar im Vordergrund: Fast 900 Seiten entfallen auf die einzelnen sachbegrifflichen Lemmata, während die beiden anderen Sektionen sich die verbleibenden 500 Seiten in etwa gleichmäßig teilen. Hinzu kommen Personen- und Sachregister sowie ein Autorenverzeichnis.

Die nicht selten vorgetragene Disqualifizierung der Geisteswissenschaften aus einem pragmatistischen Kalkül („Orchideenfächer“) wird von den Herausgebern bereits auf der ersten Seite kritisch angesprochen. Tatsächlich steht es derzeit nicht gut um die Zukunftssicherheit vieler, besonders kleinerer Fächer an den Hochschulen. So wurden etwa an der Freien Universität Berlin in den vergangenen Jahren in einem Akt traditionsvergessener Selbstverstümmelung alle Institute mit Kleinstausstattung durch Zulassungs- und Prüfungsordnungen sowie Personalregelungen systematisch zerstört und letztlich aufgelöst, mehrfach ohne Überführung des Restbestandes in andere Einrichtungen. Überhaupt tun sich die Geisteswissenschaften schwer mit der stark veränderten Studienkultur. Viele Dozenten lehnen sie als von außen oktroyiert ab, und doch müssen sie ihren Studenten natürlich qualifizierte Lehrveranstaltungen bieten. Wie aber die ehedem hohen Ansprüche des geisteswissenschaftlichen Bildungs- und Forschungsethos in diesem großen Wandlungsprozess bewahrt oder mindestens irgendwie weitergetragen werden können, ist unklar.

Einen Rettungsanker sehen nicht wenige in der Neu- oder Umdefinition (deklariert als „Transformation“) des jeweils eigenen Faches zu einer historischen Kulturwissenschaft. In gewisser Weise hat hieran auch das „Lexikon der Geisteswissenschaften“ Anteil, ohne diesem Prozess allerdings umstandslos Vorschub leisten zu wollen. Immerhin fordern die Herausgeber eine „kulturwissenschaftliche Erneuerung der Geisteswissenschaften“, und zwar „durch produktive Grenzüberschreitungen, Internationalität und Pluralisierung der kulturwissenschaftlichen Themenfelder“. Die dadurch bewirkte „multiperspektivische Einführung in einen interdisziplinären Diskurszusammenhang“ betrachten sie a priori als Gewinn, wie sie auch in den an gleicher Stelle aufgezählten Signaturen einer solchen „Erneuerung“ ohne weiteres einen Zuwachs an wissenschaftlicher Kompetenz erkennen (S. IX).

Vor diesem Hintergrund lastet auf dem Lexikon ein gewisser Erwartungsdruck. Es wäre aber andererseits nicht gerechtfertigt, in ihm eine Art monumentale Programmschrift für eine großangelegte, auf alle Disziplinen sich erstreckende Renovierungsbewegung zu sehen. Von Transformation, Vernetzung, Interdisziplinarität, überhaupt vom „kulturwissenschaftlichen Paradigma“ wird heute ja allenthalben gesprochen. Verdienstvoll ist auf jeden Fall das erklärte Bestreben, die zahlreichen Fächer innerhalb des Gesamtspektrums der Geisteswissenschaften so zur Geltung zu bringen, dass die jeweilige Beitragsfähigkeit zu dem als „Interpretationsgemeinschaft“ vorgestellten Adressatenkreis des wissenschaftlichen Arbeitens klar heraustritt. Diese Zielsetzung prägt vor allem die Texte des zweiten, auf die Einzelwissenschaften bezogenen Teiles, kommt aber auch in den Sach- und Personenartikeln zur Geltung.

An dem Projekt haben sich 137 Autorinnen und Autoren beteiligt; insgesamt umfasst das Werk 244 Artikel. Die Ausführungen zu den Sachbegriffen stellen deren philosophische, kulturwissenschaftliche und gegebenenfalls alltagssprachliche Verwendungen zusammen und veranschaulichen die jeweilige Bedeutung für die Geisteswissenschaften. Die Zuordnung von Autor und Thema folgt bisweilen naheliegenden Kriterien, etwa wenn Jan Assmann über „Gedächtnis / Erinnerung“ schreibt, Ralf Konersmann über „Kulturkritik“ und „Kulturphilosophie“, Wilhelm Schmid über „Leben / Lebenskunst“ oder Christoph Jamme über „Mythos“. Diese Beiträge dienen nicht primär der Selbstvorstellung; vielmehr bieten sie, wie auch die allermeisten anderen aus der Sektion, solide Information in fast schon monographischer Gestalt. Besonders hingewiesen sei auf die Beiträge von Christoph Cornelißen über „Objektivität“, Wolfgang Jordan über „Nihilismus“ und Eva Binder über „Identität“. Sie sind ausgezeichnete Beispiele dafür, wie mit problemgeschichtlich überfrachteten Begriffen in klarer Diktion und Gedankenführung operiert werden kann, um sie in dem kulturwissenschaftlichen Erneuerungsprozess zur Geltung zu bringen.

Der sachbegriffliche Teil bildet das Zentrum des Bandes. Klar ist aber auch, dass die 41 Artikel zu den geisteswissenschaftlichen Disziplinen innerhalb des Gesamtunternehmens einen unverzichtbaren Bestandteil bilden. Nicht nachvollziehbar bleibt dagegen, weshalb der gesamte Bereich der Religionstheorie (einschließlich der konfessionellen Theologie) – immerhin über Jahrhunderte eine der Säulen des geisteswissenschaftlichen Fächerkanons –, aber auch die Ägyptologie ausgespart bleiben. An der Unmöglichkeit, qualifizierte Mitarbeiter hierfür zu finden, kann es angesichts der dort gegenwärtig laufenden Entwicklung nicht gelegen haben. Fragwürdig bleibt auch die lemmatische Aufteilung des philologischen Fächerkomplexes.

Zudem kann man bezweifeln, ob der Artikelkomplex „Persönlichkeiten“ wirklich eine notwendige Ergänzung zu den thematischen Artikeln bildet. Allerdings finden sich auch hier interessante Beiträge (etwa von Daniel Fulda zu Droysen). Leider setzt in der Regel die rigide Umfangsbeschränkung den darstellerischen Möglichkeiten enge Grenzen; auch ist die heikle Frage der Auswahl nicht gut beantwortet.

Stärker als diese Punkte aber wirkt sich eine Schwierigkeit aus, die im Konzept selbst begründet ist. Der Anspruch, über den wissenschaftstheoretischen Modus der Interdisziplinarität zu einem in sich schlüssigen Verständnis von Charakter und Aufgabenstellung der Wissenschaftspraxis zu kommen, läuft nicht aus sich selbst heraus auf das Ziel zu, den Standort der einzelnen Wissenschaften zu bestimmen. Etliche Beiträge markieren an dieser Stelle eine Unsicherheit. Dass die Frage sich aber stellt – und die Antwort in vielen Fällen auch über die Zukunft der jeweiligen Disziplin entscheidet –, liegt auf der Hand.

Sehr zu begrüßen ist, dass im sachbegrifflichen Hauptteil – stärker als in vergleichbaren, explizit kulturwissenschaftlichen Fachübersichten – die Ausführungen in einen breiten historischen und wissenschaftstheoretischen Kontext eingebettet sind. Auch relevante philosophische und philosophiegeschichtliche Positionen spielen hinein. Die Beiträge zu „Empirie / Erfahrung“ (Jürgen Mittelstraß), „Erkenntnis / Erkenntnistheorie“ (Thorsten Sander), „Ethnozentrismus“ (Ralf Elm), „Freiheit“ (Tom Denter), „Historismus“ (Daniel Fulda / Friedrich Jaeger), „Humanismus“ (Wolfgang Jordan) oder „Klassik / Klassizismus“ (Bernadette Collenberg-Plotnikov) legen gerade hierauf großes Gewicht und erreichen dabei eine Qualität, die im lexikalischen Format ungewöhnlich ist. Das gilt auch für zahlreiche andere Texte. Genannt seien insbesondere der von Oskar Bätschmann verfasste Artikel zu „Kunst / Kunsttheorien“ und Waltraud Wendes Beitrag über „Parodie“. Glanzleistungen stellen Franz Günter Sievekes Abhandlung zur „Rhetorik“ und die von Roland Benedikter über „Subjekt“ dar.

Im Ganzen handelt es sich beim „Lexikon der Geisteswissenschaften“ um ein sehr elaboriertes, auch in der sprachlichen Gestalt niveauvolles und ansprechendes Werk. Ihm ist zu wünschen, dass sich der darin geborgene Reichtum in breitem Maße auf die wissenschaftstheoretische und wissenschaftspraktische Arbeit auswirken möge.