Titel
Identitäten in Bewegung. Migration im Film


Herausgeber
Dennerlein, Bettina; Frietsch, Elke
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Natalie Bayer, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen

Bereits seit einigen Jahrzehnten ist zu beobachten, dass Migration zunehmend im Film ankommt. Hervorgegangen aus dem interdisziplinären Workshop „Identitäten in Bewegung. Migration im Film“ (2010), veranstaltet vom Lehrstuhl Gender Studies und Islamwissenschaften der Universität Zürich, geht der gleichnamige Sammelband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen den De-/Konstruktionsprozessen und Inszenierungsmodi von Migration, Geschlecht und Identität im Film nach. Im Anschluss an eine ausführliche Einleitung der Herausgeberinnen erörtert die Literatur- und Medientheoretikerin Rey Chow den Zusammenhang zwischen Identität und Visualität aus postkolonialer Perspektive. Hierbei stellt sie Film als ein wirkungsvolles Repräsentationsmedium kultureller Identitäten heraus, da die Produktionsweisen des Films „direkte Auswirkungen auf die […] Modi des Sehens und Zeigens“ (S. 20) haben; grundsätzlich kann Film somit auf das Selbstverständnis und die -wahrnehmung wirken und kulturelle Begebenheiten schaffen. Chow führt dabei den Begriff „Suture“ ein, der analytisch den Fokus „auf [offene] Interaktionen zwischen den Ausdrucksformen des filmischen Apparats, dem Schauspiel und dem betrachtenden Subjekt“ (S. 22) und ein Verständnis von aktiven Bedeutung produzierenden Rezipient/innen ermöglicht. Schließlich fordert Chow dazu auf, den Blick von einer reinen Bild- und Inhaltskritik weg, hin zur Mobilität von Bildern gerade auch im postkolonialen Kontext zu richten. Denn Film stellt ein per se transkulturelles Phänomen dar mit offenen Botschaften und nicht klar definierten oder vorgefertigten Identitäten.

Nach dem einleitenden Teil ist der Sammelband in drei Abschnitte gegliedert. Das erste Kapitel ist der „Medialisierung von Grenzen“ gewidmet. Hier ist besonders der Beitrag von Ramón Reichert über die Repräsentation der Berliner Mauer und der EU-Außengrenze zu nennen aufgrund seines präzisen analytischen Blicks auf seinen Untersuchungsgegenstand. Reichert untersucht die filmische Inszenierung von Grenzen in Zusammenhang mit der Vergeschlechtlichung von Räumen und Handlungen, wodurch Grenzen als Inklusions- und Exklusionstechniken naturalisiert werden. Am Beispiel des so genannten Mauerfilms zeichnet er Bildpolitiken und Blickregime nach, die geschlechtliche Zuweisungen und binäre Gegenüberstellungen aufwerfen und die Berliner Mauer als eine maskulin attributierte Grenze produzieren. Im zweiten Teil des Beitrages legt Reichert dar, dass die visuelle Repräsentation der EU-Außengrenzen sehr stark von einer Ästhetik der Authentizität und Zeugenschaft geprägt ist, wodurch folgenreiche Evidenzen und ein objektivierendes Wissen über Migration geschaffen werden. Durch die Gegenüberstellung von überblickendem Kameraauge und beobachteten grenzüberschreitenden Menschen, inszeniert als entindividualisierte Masse, werden auch die EU-Außengrenzen als maskulin attributierte Herrschaftstechnik inszeniert. Einen thematisch anderen Zugang wählt Elke Frietsch mit ihrem Beitrag zu Spielfilmen über Selbstmordattentäter im Kontext des Nahostkonflikts und der diskursiven Verknüpfung von Islam und Gewalt. Frietsch verdeutlicht am Beispiel von verschiedenen Spielfilmen, wie die Kategorie Geschlecht in Erzählungen durch Abweichungen von heteronormativen Diskursen verwendet werden kann, um gängige Abgrenzungsdiskurse zu entschleiern. Der Beitrag von Alexandra Karentzos erweitert das Spektrum des Bandes durch ihre Untersuchung über Videoarbeiten der Künstlerin Lisl Ponger, die das Problem des Sehens und Schauens von grenzüberschreitenden Bewegungen der Migration und des Tourismus behandelt. Durch die künstlerische Überlagerung dieser Perspektiven entsteht eine Möglichkeit, koloniale Ein- und Ausgrenzungsstrukturen offen zu legen.

Im zweiten Kapitel werden in drei Textbeiträgen „Medialität, Räumlichkeit und Geschlecht“ diskutiert. Zentral ist dabei die filmische Darstellung von brüchig gewordenen Identitäten in Zusammenhang mit Mobilität. Die ersten beiden Aufsätze setzen sich mit Migration als einer Form der Bewegung auseinander: In ihrer Analyse von Figuren und Filmeinstellungen des Spätwesterns „Man nannte ihn Hombre“ geht Heike Endter ethnischen und geschlechtlichen Identitätskonstruktionen unterschiedlicher Protagonist/innen sowie deren Veränderungen durch Wanderbewegungen nach. Hauke Lehmanns Untersuchung des Genres Road-Movie erörtert vor allem die ästhetischen Grundlagen in der Visualisierung von räumlichen und zeitlichen Bewegungen. Hybridisierung, Uneindeutigkeit und permanenter Wandel stellen nach Lehmann die durchgehenden Prinzipen des Genres dar. In dem Beitrag wird versucht, formale und inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen dem Road-Movie und Migration herauszuarbeiten; Migration wird dabei von dem Autor jedoch lediglich auf einen Bewegungsprozess und als ein Leben im Dauertransit reduziert. Der dritte Beitrag dieses Abschnittes von Christopher Treiblmayr befasst sich in einem engeren Sinn mit Migration am Beispiel des Filmes „Lola und Bilidikid“ und thematisiert die dort stattfindenden Identitätsprozesse einer zweiten und dritten Generation von Migrant/innen in Bezug auf Unterdrückungsmechanismen und Zusammenhänge von Macht und Männlichkeit. Treiblmayr arbeitet die Pluralisierung und queeren Gegenentwürfe zu Männlichkeitskonzepten in seinem Filmbeispiel heraus, wodurch hegemoniale Gegenüberstellungen wie männlich/weiblich und türkisch/deutsch herausgefordert und aufgebrochen werden. Der Autor zeichnet auf diese Weise die unterschiedlichen Aneignungsversuche und Ambivalenzen der Filmfiguren im Sinne eines „Doing Gender“ und „Doing Ethnicity“ nach; er versteht sein Beispiel als explizit kritische Position zur Heteronormativität in Verknüpfung mit Debatten der Migration.

Die in dem finalen Abschnitt versammelten Beiträge sind unter den Titel „Grenzverschiebungen“ gestellt. Sowohl Hamid Hosravi als auch Sune Haugbolle gehen dabei der Bedeutung des exiliranischen und exillibanesischen Kinos und der Frage nach Grenzverschiebungen und Bedeutungen von ethnischen Identitäten nach. Da sich der Exilfilm meist auf den Geschichtsverlauf des Herkunftslandes und die damit verknüpften Auswanderungsprozesse bezieht, sind die von Hosravi und Haugbolle genannten Beispiele stets als eine politische Positionierung und Kommentierung zu verstehen. Darüber hinaus versteht Haugbolle das exillibanesische Kino als ein kollektives emotionales Archiv des libanesischen Bürgerkriegs und der Migrationserfahrung, da durch das Festhalten und Darstellen von Bildern, Symbolen, Geräuschen und Alltagserfahrungen eine spezifische Gefühlsstruktur gespeichert wird. Besonders überzeugend untersucht Laura Coppens in ihrem Artikel über die filmische Selbstrepräsentation so genannter Chinese Indonesians, einer diskriminierten Minderheit in Indonesien, die Ambivalenzen und das Brüchig- und Hybrid- Werden vermeintlich fixer Identitäten. In ihrem Filmbeispiel „Blind pig who wants to fly“ werden doppeldeutig handelnde Figuren präsentiert, deren Identitätskonstruktionen aufgrund diverser Faktoren in Bewegung geraten und außerdem unterschiedliche Vorstellungen davon haben, Chinese Indonesians oder auch Indonesier zu sein. Mittels filmischer Methoden werden lineare Narrationsstrukturen aufgebrochen, um eine „kritische Reflexion über die Politik des Sehens und über Identitätskonstruktionen“ (S. 268) zu ermöglichen und eine Kritik an essentialistischen Vorstellungen von Geschlecht und Ethnizität zu formulieren.

Insgesamt bietet der Sammelband einen interessanten und lohnenswerten Überblick zu unterschiedlichen filmischen Erzählformen über Migration und Geschlecht. Von vielen Autor/innen des Bandes wurde ein Fokus auf Filme jenseits des Mainstream-Kinos gelegt, wodurch jedoch eine Lücke entsteht; so hat eine Reihe von neueren populären Filmen, die explizit Migrationsgeschichten erzählen, in den letzten Jahren große Kinosäle gefüllt und Erfolge verzeichnet, welche in dem vorliegenden Band unerwähnt bleiben, das Spektrum des Buches aber sinnvoll ergänzen könnten. Beinahe alle Autor/innen kontextualisieren ihre Filmbeispiele in unterschiedlichen Gewichtungen kultur- und sozialhistorisch und stellen somit wichtige Bezüge zu den jeweiligen Diskursen her. Einige Beiträge gehen hierbei besonders filmhistorisch den Narrationsmöglichkeiten durch den Einsatz technischer Mittel wie Montage, Bildeinstellungen, Bildabfolgen und den daran geknüpften Wahrnehmungsformen nach. Allerdings wären hierbei Einblicke zur Rezeption – den Wirkweisen und Debatten über die Filme – bei unterschiedlichen Publika interessant. Anknüpfend an Rey Chows einleitenden Beitrag wäre dadurch auch eine Reflexion auf empirischer Ebene zu den Wirkweisen des Films hinsichtlich der Modi des Sehens und Zeigens, der Verhältnissetzung von vermeintlichen Minderheiten und Mehrheiten sowie Formen von Subjektpositionierungen aufschlussreich. Alle Beiträge stellen jedoch plausibel die Möglichkeiten des Mediums Film heraus, dem Konstruktionscharakter und den Ambivalenzen von Identitätsprozessen nachzuspüren, welche gerade in Zusammenhang mit Migration oftmals manifest werden. Außerdem zeigt der Sammelband die enge Verwobenheit von Visualität mit politischer Macht: Nicht nur für Hegemonien sondern auch für subalterne Positionen stellt die Erzeugung von Sichtbarkeiten ein wichtiges politisches und ambivalentes Projekt dar, wobei neue Hierarchisierungen produziert und dabei Ein- und Ausschlüsse re-fixiert werden können.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/