M. Gehler u.a. (Hrsg.): Italien, Deutschland, Europa

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Titel
Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa / Italy, Austria and the Federal Republic of Germany in Europe. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart / A Triangle of Mutual Realtions and Perceptions from the Period 1945/49 to the Present


Herausgeber
Gehler, Michael; Guiotto, Maddalena
Reihe
Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen 8
Erschienen
Anzahl Seiten
670 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Ruppenthal, Historisches Institut, Universität zu Köln

Ein Autor dieses Bandes hat seinem Beitrag ein oft zitiertes Sprichwort vorangestellt: „Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie achten sie nicht. Die Italiener dagegen achten die Deutschen, aber sie lieben sie nicht.“ (S. 291) Für die Zielsetzung des von Michael Gehler, Leiter des Instituts für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim, und Maddalena Guiotto, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Italienisch-Deutschen Historischen Institut Fondazione Bruno Kessler in Trient, herausgegebenen Buches wäre ergänzend zu fragen: Und wen lieben die Österreicher?

Zu diesem Themenkomplex veranstalteten die Institute aus Hildesheim und Trient im März 2009 in Hildesheim eine Tagung, an der Geschichts- und Politikwissenschaftler aus Deutschland, Österreich und Italien teilnahmen. Insgesamt 28 Beiträge einschließlich einer substanziellen Einleitung der Herausgeber, eines Grußworts des damaligen deutschen Außenministers, Frank-Walter Steinmeier, und eines Eröffnungsvortrags des früheren italienischen Botschafters in Bonn, Luigi Vittorio Graf Ferraris, bilden den umfangreichen Band, der durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Personenregister komplettiert wird. Nach den drei einführenden Beiträgen in Abschnitt I gliedern sich die Aufsätze grob in sechs thematische Kapitel, in denen jeweils alle drei nationalen Perspektiven zur Geltung kommen: II. Vergleichende Analyse des Forschungsstands; III. Politische Akteure und Kontexte; IV. Erinnerungen an Geschichte und Bewältigungen der Vergangenheit; V. Gewalt und Politik; VI. Das Jahr 1989 und die Folgen – Sicherheitspolitik vorher und danach; VII. Der EU-Kontext: Die Ratspräsidentschaften im Vergleich. Den Schlusspunkt des Buches setzt ein Kommentar aus der Feder Antonio Varsoris.

Zur vergleichenden Analyse des Forschungsstandes enthält der Band drei Aufsätze, die allerdings bei weitem nicht das ganze Spektrum der historiografischen Perspektiven im deutsch-österreichisch-italienischen Dreiecksverhältnis erfassen: Zunächst betont Christian Jansen in seinem knappen Überblick über die deutschsprachige Forschung zur italienischen Zeitgeschichte, dass sich mehrheitlich deutsche Politikwissenschaftler und zu geringeren Teilen Historiker und Vertreter anderer Disziplinen auffällig an der gerade vorherrschenden politischen Lage in der Republik Italien orientiert hätten. In Verbindung mit einer fehlenden Institutionalisierung der Italienforschung in der deutschen Wissenschaftslandschaft, einer starken Konzentration auf politikhistorische Fragestellungen und einer weitgehenden Nichtbeachtung großer, für Italien zentraler Themenkomplexe, wie der Bedeutung des Katholizismus, kann die geringe Quantität der Forschung daher nicht überraschen. Daneben besteht dieses Kapitel aus einem Aufsatz Gustavo Cornis, der sich ausschließlich mit den zeithistorischen Deutschlandstudien des Florentiner Historikers Enzo Collotti befasst, und einer Gegenüberstellung der österreichischen Italien- mit der italienischen Österreichforschung von Hans Heiss, der hier pointiert von einem „Zustand freundlicher Ignoranz des jeweils anderen“ (S. 101) spricht. Die Erfassung der Forschungsstände bleibt damit unvollständig.

Das deutsch-italienische Übergewicht, in dessen Schatten Österreich je nach Thematik mehr oder weniger tief steht, erweist sich im Übrigen als Konstante des Bandes. Nach der Lektüre der Beiträge wird jedoch deutlich, dass dies eben keine kompositorische Unzulänglichkeit darstellt, sondern auf das Desiderat verweist, dem die Herausgeber mit Tagung und Sammelband begegnen.

Das dritte Kapitel ist mit sieben Beiträgen das umfangreichste, was angesichts der leitenden Frage nach politischen Akteuren und Kontexten nicht verwundert. Im Fokus stehen Personen, Parteien und politische Projekte. Indem Maddalena Guiotto neben Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer auch den österreichischen Bundeskanzler Leopold Figl zu den „Protagonisten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg“ rechnet, erweitert sie den Kreis der ansonsten in diesem Zusammenhang zuerst genannten Personen. Ausgehend von den persönlichen Beziehungen De Gasperis zu Adenauer und Figl, die vor allem auch durch das tiefe kulturelle Verständnis des italienischen Staatsmannes für den deutschsprachigen Raum geprägt waren, betrachtet Guiotto im Weiteren die Wirkung der italienisch-deutschen Beziehungen auf die europäische Politik, womit Figl jedoch wieder in den Hintergrund gerät und der Beitrag etwas von seiner anfänglichen Vielschichtigkeit verliert. Die Verknüpfung aller drei Staaten im Kontext des Handelns eines personalen Akteurs gelingt in diesem Kapitel auch Michael Gehler, der mit dem Fokus auf Bruno Kreisky sowohl den Südtirol-Konflikt als auch die Deutsche Frage zusammenführt. Die Schwerpunkte der übrigen Beiträge liegen erneut auf den deutsch-italienischen Beziehungen, wobei sie der bilateralen in unterschiedlichem Maße eine europäische Dimension hinzufügen.

Weniger stark durch eine inhaltliche Unwucht zuungunsten der Rolle Österreichs ist das vierte Kapitel zu Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskulturen gekennzeichnet. Mit dem ersten dieser beiden Begriffe befassen sich vor allem die Beiträge von Gerald Steinacher und Joachim Staron zu deutschen Kriegsverbrechen in Italien im Jahr 1944 und ihren Nachwirkungen. Staron bezieht in seine Untersuchung des Massakers von Marzabotto eine österreichische Perspektive ein, indem er die Rolle des aus Österreich stammenden SS-Offiziers Walter Reder berücksichtigt. Auf die Erinnerungskultur beziehen sich vor allem Oswald Überegger, der dem Stellenwert des – ausnahmsweise – Ersten Weltkriegs in der österreichischen und italienischen Öffentlichkeit nach 1945 nachspürt, und Christoph Cornelißen, der eine Periodisierung der Erinnerung aller drei Länder an Faschismus und Zweiten Weltkrieg vornimmt. Außerdem enthält dieses Kapitel durch Christoph Kühbergers einschlägige Analyse von Schulbüchern aller drei Länder eine eher selten berücksichtigte geschichtsdidaktische Sichtweise.

Dass die letzten drei Kapitel des Bandes mit jeweils drei Beiträgen deutlich kürzer ausfallen als die beiden vorangegangenen, spiegelt gewiss den Umfang der Forschung zu dem Dreiecksverhältnis. Dabei wird gerade das auf Terrorismus und politische Gewalt in Deutschland und Italien in den 1970er- sowie in Südtirol in den 1960er-Jahren bezogene Kapitel – mit Beiträgen von Johannes Hürter, Tobias Hof und Christoph Franceschini – mit zunehmender zeitlicher Distanz und der Gelegenheit einer breiteren europäischen Kontextualisierung Anlass zu weiterführenden Fragen geben. Gleiches gilt zweifellos für das anschließende Kapitel, das dem Jahr 1989 gewidmet ist. Neben einem Beitrag des österreichischen Botschafters in London, Emil Brix, zur „Mitteleuropapolitik von Österreich und Italien im Revolutionsjahr 1989“ und einem von David Burigana zur deutsch-italienischen Rüstungskooperation seit den fünfziger Jahren und ihrer Bedeutung für die europäische Politik beleuchtet Erwin Schmidl „Sicherheitspolitische Aspekte im Alpenraum“, wobei er sich aber faktisch auf Österreich konzentriert.

Aus dem Rahmen des Bandes fällt das letzte Kapitel zu den EU-Ratspräsidentschaften von Österreich 1998 und 2006, Italien 2003 und Deutschland 1999 und 2007. Der Fokus rückt in diesem Kapitel verstärkt in den Bereich der europäischen Institutionen, womit die bi- bzw. trilateralen Beziehungen relativ in den Hintergrund treten. Angesichts sämtlicher vorangegangener Kapitel irritiert diese deutliche Schwerpunktverlagerung jedoch. Zunächst beschränkt sich Gunther Hauser auf ein wenig kritisches, dafür umso ausführlicheres Referat der Programme, Ziele und Ergebnisse der EU-Politik unter österreichischer Präsidentschaft, das wiederholt von langen Spiegelstrich-Stafetten unterbrochen wird. Inwiefern die im Bandtitel genannten „wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen“ mit und von Deutschland und Italien in diesem Kontext von Belang waren, bleibt dabei ungenannt. Letzteres gilt auch für Patrizia Kerns Betrachtung der italienischen – mit Ausnahme einer kurzen Passage in der Zusammenfassung – sowie für Matthias Belafis Untersuchung und Vergleich der beiden deutschen Ratspräsidentschaften. Kerns und Belafis Ausführungen stellen allerdings kritische Analysen ihrer Gegenstände dar und zeigen klar Vielschichtigkeit und Problematik der politischen Beziehungen auf Ebene der EU-Institutionen auf. Insgesamt hätte der Verzicht auf diesen Themenkomplex die sonst große Kohärenz des Bandes gestärkt.

Wenn Antonio Varsori in seinem abschließenden Kommentar bewusst das Augenmerk vor allem auf die deutsch-italienischen Beziehungen richtet, entspricht das in etwa der Schwerpunktsetzung des Bandes. Obgleich Varsori die Beziehungen dieser beiden Staaten noch stärker akzentuiert, tritt Österreich als Republik oder in Form seiner führenden Politiker weniger häufig in Erscheinung. Das mag zum einen durch die konkret ausgewählten Themenkomplexe begründet sein, etwa durch den Blick auf Vergangenheitsbewältigung und Kriegsverbrecherprozesse oder das Geschehen in den Europäischen Gemeinschaften vor dem Beitritt Österreichs. Zum anderen jedoch zeigen zahlreiche Beiträge im Einzelnen wie auch der Band insgesamt, wie anspruchsvoll sich grundsätzlich die Analyse wechselseitiger Beziehungen von mehr als zwei Ländern gestaltet und wohl nicht zuletzt deshalb auffallend selten in Angriff genommen wird. Michael Gehler und Maddalena Guiotto belegen mit diesem Sammelband nicht nur die Komplexität eines solchen Vorhabens, sondern mit seinen Ergebnissen zu Deutschland, Italien und Österreich auch, wie sehr es sich lohnt.

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