T. Stanek: Internierung und Zwangsarbeit

Cover
Titel
Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945-1948


Autor(en)
Stanek, Thomás
Reihe
Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 92
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matej Spurný, Univerzita Karlova v Praze, Prag

Die kurze Ära zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948 spielt in vielerlei Hinsicht für die Analyse der tschechischen Gesellschaft und Politik im 20. Jahrhundert eine Schlüsselrolle. Und das nicht nur deshalb, weil es in diesen drei Jahren zur gewaltigsten demographischen Revolution in der Geschichte des böhmischen Staates gekommen ist. Nationalismus und Marxismus, die beiden ideologischen Triebkräfte des europäischen 20. Jahrhunderts, werden hier auf einer einzigartigen Weise eng verflochten. Sie bestimmten das zukünftige Schicksal der tschechischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.

Eine tiefere historiographische Forschung zu dieser Periode entfaltete sich aus verständlichen Gründen erst in den 1990er-Jahren. Eine entscheidende Rolle spielten dabei zwei Historiker: Karel Kaplan und der Autor des vorliegenden Bandes, Tomáš Staněk. Kaplan beschreibt in seinen schon lange vor 1989 begonnenen Studien vor allem die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen und Veränderungen.1 Staněk konzentriert sich eindeutig auf die Entwicklung des nationalen tschechisch-deutschen Konflikts in diesen Jahren, das heißt vor allem auf die Repression und Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung.2 Neben Staněk legten Václav Kural und Jaroslav Kučera wichtige Studien zu diesem Thema vor, die sich aber (was den ersten der beiden Autoren angeht) nur mit den Vorbedingungen des Geschehens befassen oder nicht über eine mit Staněk vergleichbare Quellenbasis verfügen.3 In den letzten zehn Jahren sind zahlreiche andere Beiträge zur Situation der deutschen Bevölkerung in den böhmischen Ländern nach 1945 erschienen; die wichtigsten stammen jedoch nicht von tschechischen Autoren.4 Die Situation der deutschen Bevölkerung nach 1945 und ihre Zwangsaussiedlung wurden in den letzten zehn Jahren zum Thema zahlreicher wertvoller regionaler Studien und Artikel in Fachzeitschriften, die vor allem wichtige, lokal bezogene, Fakten präsentieren.

Die vorliegende Studie gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Beiträgen, die sich mit der Situation der deutschen Bevölkerung während ihrer Zwangsaussiedlung aus der Tschechoslowakei befassen. In tschechischer Sprache ist sie bereits im Jahre 1996 erschienen.5 Im gleichen Jahr publizierte Tomáš Staněk auch das Buch Perzekuce 1945.6 In diesem Werk beschreibt er eindrucksvoll die Atmosphäre des Jahres 1945 in den tschechischen Grenzgebieten. In der vorliegenden Studie Internierung und Zwangsarbeit handelt es sich im Gegensatz zu dieser, aber auch zu anderen Publikationen von Tomáš Staněk, nicht ausschließlich um die Situation der deutschen Bevölkerung. Staněk berührt hier ein wichtiges, breiteres Thema: die Rolle, der Charakter und die institutionelle Verankerung der Lager in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit. Staněk zeigt, dass Internierungs- und Arbeitslager im 20. Jahrhundert auf keinen Fall ausschließlich zu Diktaturen gehören. Für die Erforschung des Lagersystems in den böhmischen Ländern zwischen Kriegsende und kommunistischer Machtergreifung ist die vorliegende Publikation nicht nur eine Pionierstudie, sondern repräsentiert auch zwölf Jahre nach ihrer Entstehung immer noch das eindeutig wichtigste Werk zu diesem sehr wenig untersuchten Thema.7

Die Gliederung der Arbeit ist chronologisch. Nach einer kurzen Einleitung, in der Staněk neben dem internationalen Kontext in ausführlichen Fußnoten vor allem über die bisherige Forschung zum Thema informiert, folgen sechs deskriptive Kapitel. In den ersten vier beschreibt der Autor auf mehr als 200 Seiten sehr detailliert die Entstehung der Strafpolitik, die Errichtung der Lager und die Lebensbedingungen der Lagerinsassen im Jahre 1945. Dass gerade diesem Zeitraum mehr Raum gewidmet wird, hat seine Logik; in diesen ersten Nachkriegsmonaten waren die Bedingungen in den Lagern besonders schwer, es wurde oft nicht zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterschieden, und die allgemein unübersichtliche Situation entwickelte sich sehr dynamisch. Anhand vieler Beispiele zeigt Staněk auch die Unstimmigkeiten und Interaktionen zwischen zentraler und lokaler Politik. In den nächsten beiden Kapiteln schildert Staněk dann Veränderungen in der Lagerorganisation im Jahre 1946 und die Situation in den Lagern nach der Hauptphase der Zwangsaussiedlung der Deutschen.

Tomáš Staněk ist ein Historiker, dem Fakten vor Theorie und Beschreibung vor Interpretationen gehen. Seine Arbeiten basieren auf einem langjährigen und detaillierten Studium verschiedenster Archivalien. Staněk formuliert keine starken Thesen, die er belegen oder widerlegen würde. Die Interpretation überlässt er den Lesern und dort, wo er doch verallgemeinernde Behauptungen wagt, formuliert er sehr vorsichtig.

Die ungewöhnlich breite Quellenbasis seiner Arbeiten, kein offen reflektierter methodologischer Zugang und die Abneigung gegenüber jeder stärkeren Interpretation können jedoch – im Zusammenspiel mit der Unübersichtlichkeit der beschriebenen Zeit – manchmal in Texte münden, die sehr schwer zu lesen sind. In der außerordentlichen Menge von beschriebenen Fällen, Zahlen und Orten kann der Leser leicht die wichtigen Angaben, die die Zeit charakterisieren oder den tschechischen Fall von anderen unterscheiden, übersehen. Für den deutschen Leser, der in der Regel die meisten Werke Tomáš Staněks nicht kennt, kann dies auch bei der vorliegenden Studie der Fall sein. Dem ideologischen, sozialen und politischem Kontext wird nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet; teilweise weil Tomáš Staněk die Beschreibung konkreter Normen und Geschehnisse allgemein bevorzugt, teilweise aber auch, weil er sich diesen Kontexten in anderen Büchern gewidmet hat.8 Umso hilfreicher ist deshalb die fundierte Einführung von Andreas Hoffmann, in der sowohl die Besonderheiten als auch die Kontinuitäten des Lagersystems in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert werden.

Die hier genannten Probleme sind jedoch eher aus der Perspektive des durch die deutsche Geschichtswissenschaft sozialisierten Lesers im Jahre 2008 zu kritisieren und sind weniger als Schwächen der ursprünglichen tschechischen Studie von 1996 zu betrachten. Der Wunsch, den Lesern möglichst viele konkrete Quellen und Informationen nahe zu bringen, gehört zu dieser Zeit, in der ein Tabu gebrochen wird. Die 1990er-Jahre waren, das Thema Zwangsaussiedlung, Umgang mit den Deutschen und allgemein die repressiven Praktiken in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg betreffend, eine solche Zeit. Auch Tomáš Staněks „positivistische“ Art war im damaligen, noch sehr national (oder sogar nationalistisch) geprägten Milieu (an dessen Reproduktion sich auch viele tschechische Historiker beteiligten) mutig und wertvoll. Die von ihm in diesem und in anderen Büchern zusammengetragenen Fakten warten auf eine weitergehende Interpretation. Tomáš Staněk hat aber – unter anderem auch im vorliegenden Band – den wichtigen ersten Schritt gemacht, der es jedem anderen Historiker erleichtert, sich in der unübersichtlichen Materie zu orientieren. Jeder, der über die repressiven Mechanismen der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg forschen und schreiben will, sollte auch Staněks Studie über Internierung und Zwangsarbeit 1945-1948 lesen.

Anmerkungen:
1 Karel Kaplan, Pravda o Československu 1945-1948 [Die Wahrheit über die Tschechoslowakei 1945-1948], Praha 1990; Karel Kaplan, Československo v poválečné Evropě [Die Tschechoslowakei im Nachkriegseuropa], Praha 2004 u.a.
2 Tomáš Staněk, Odsun Němců z Československa 1945-1947 [Die Abschiebung der Deutschen aus der Tschechoslowakei 1945-1947], Praha 1991; Ders., Předpoklady, průběh a důsledky vysídlení Němců z Československa (1918-1948) [Voraussetzungen, Verlauf und Folgen der Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei (1918-1948), Ostrava 1992; Ders., Perzekuce 1945. Perzekuce tzv. státně nespolehlivého obyvatelstva v českých zemích (mimo tábory a věznice) v květnu-srpnu 1945, Praha 1996 – deutsch als Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse), Wien, Köln, Weimar 2002; Ders. Retribuční vězni v českých zemích 1945-1955 [Retributionshäftlinge in den böhmischen Ländern 1945-1955], Opava 2002 u.a.
3 Václav Kural, Místo společenství – konflikt! Češi a Němci ve Velkoněmecké říši a cesta k odsunu (1938-1945) [Statt Gemeinschaft – Konflikt! Tschechen und Deutsche im Großdeutschen Reich und der Weg zum Abschub (1938-1945)], Praha 1994; Jaroslav Kučera, Odsunové ztráty sudetoněmeckého obyvatelstva. Problémy jejich přesného vyčíslení [Die Abschiebungsverluste der sudetendeutschen Bevölkerung. Probleme ihrer genauen Bezifferung], Praha 1992 u.a.
4 Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München 2001; Adrian von Arburg, Zwischen Vertreibung und Integration. Tschechische Deutschenpolitik 1947-1953, Dissertation an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Praha 2004 u.a.
5 Tomáš Staněkm, Tábory v českých zemích 1945-1948, Tilia, Šenov u Ostravy 1996; Die deutsche Ausgabe wurde von Tomáš Staněk ergänzt und aktualisiert. Es wird im Text auch an die wichtigste nach 1996 erschienene Literatur verwiesen.
6 Tomáš Staněk, Perzekuce 1945. Perzekuce tzv. státně nespolehlivého obyvatelstva v českých zemích (mimo tábory a věznice) v květnu-srpnu 1945, Praha 1996 – deutsch als Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse), Wien, Köln, Weimar 2002.
7 Einiges dazu findet sich in den Studien von Karel Kaplan oder in Fachzeitschriften, z.B. Soudobé dějiny Nr. 3/4 (2005).
8 Siehe Anmerkung Nr. 2

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