D. Gerster: Friedensdialoge im Kalten Krieg

Cover
Titel
Friedensdialoge im Kalten Krieg. Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957–1983


Autor(en)
Gerster, Daniel
Reihe
Campus Historische Studien 65
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schmidtmann, Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung, Hamm

Lässt sich die Geschichte einer nahezu klassischen neuen sozialen Bewegung, nämlich der Friedensbewegung, als Diskursgeschichte schreiben? Daniel Gerster versucht es in seiner am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz entstandenen Dissertation für einen Teilaspekt. Er konzentriert sich darauf, zu erörtern, „wann und in welchem Kontext zeitgenössische katholische Akteure welche Aussagen zu ‚Krieg’ und ‚Frieden’ gemacht haben“ (S. 16). Ihn interessieren dabei die „inhaltlichen Umcodierungen, welche die katholischen Kriegs- und Friedensvorstellungen während des Untersuchungszeitraums durchlaufen haben“ (S. 7) – nicht zuletzt, um daran „grundsätzliche Umstrukturierungen im katholischen Raum Westdeutschlands“ (S. 9) festmachen zu können.

Gerster möchte jedoch nicht nur die Entwicklung innerhalb der katholischen Kirche als Institution nachzeichnen. Die katholisch-religiösen Debattenbeiträge sollen mit den Äußerungen anderer gesellschaftlicher Akteure abgeglichen werden, um so Grenzverschiebungen sichtbar werden zu lassen und zu zeigen, „inwiefern katholische Semantik und Metaphorik dazu beigetragen haben, den Problematiken und Ängsten des Kalten Krieges Ausdruck zu verleihen“ (S. 11). Letztlich zielt dieses Vorgehen darauf, „die Geschichte der westdeutschen Katholiken […] in die Geschichte der Bundesrepublik“ (S. 23) zu integrieren. Analysiert werden dafür konsequenterweise in erster Linie öffentlich zugängliche Dokumente wie Denkschriften, päpstliche Verlautbarungen, Stellungnahmen von Verbänden und bekannten Katholiken sowie Presseartikel. Insgesamt steht seine Monographie damit im Schnittpunkt zweier aktueller Forschungstrends, die zum einen kulturgeschichtlich nach den Rückwirkungen des Kalten Kriegs auf die europäischen Gesellschaften fragen und zum anderen die Relevanz des Faktors Religion im Hinblick auf Gesellschaft und Politik auch für den Bereich der Zeitgeschichte betonen.

In einigen Kapiteln kann sich Gerster auf Vorarbeiten anderer Forscher stützen. So beschäftigte sich Helmut Zander bereits 1989 mit der katholischen Friedensbewegung. Er wählte damals jedoch einen wesentlich engeren Untersuchungszeitraum und eine konfessionell wie gesamtdeutsch vergleichende Perspektive auf das Thema.1 Profitiert hat Gerster auch von zahlreichen Arbeiten, die sich in jüngster Zeit mit den diskursiven Verschiebungen unter Katholiken in den 1960er-Jahren beschäftigt haben.2

Gerster hat seinen Untersuchungszeitraum so ausgewählt, dass drei große Streitfälle beleuchtet werden können, an denen sich Diskussionen um Krieg und Frieden entzündeten: Die geplante Atombewaffnung der Bundeswehr, der Vietnamkrieg und andere „Befreiungskämpfe“ in „Entwicklungsländern“ sowie der Nato-Doppelbeschluss. Entsprechend unterscheidet Gerster drei Phasen des Diskurses, die sich allein schon durch ihren jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkt voneinander abheben. Die erste Phase von 1957 bis 1965 war geprägt durch die Auseinandersetzung um die Atombewaffnung der Bundeswehr. Gemeinsame Grundlage des Diskurses unter Katholiken war dabei die traditionelle, als genuin „katholisch“ verstandene Lehre vom gerechten Krieg und eine damit einhergehende grundsätzliche Bejahung des staatlichen Selbstverteidigungsrechts. Vor diesem Hintergrund fanden die atomaren Rüstungspläne der Bundesregierung weitgehende Zustimmung. Nur wenige Linkskatholiken lehnten sie wegen abweichender außen- und innenpolitischer Vorstellungen ab.

Für die Jahre 1965–1977 konstatiert Gerster „zahlreiche Umbrüche“. Die Diskussionen über den Vietnamkrieg, aber auch über die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika sorgten nicht nur für eine starke Politisierung, insbesondere unter katholischen Studierenden und Jugendlichen, sondern zudem für eine „Umcodierung hin zu einem ‚dynamischen Friedensverständnis’“ (S. 218). Friedensarbeit beschränkte sich jetzt nicht mehr auf die Verhinderung von Krieg, sondern schloss das Engagement für die weltweite Durchsetzung von Menschenrechten, die Aussöhnung mit Polen sowie die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern ein. Dieses geänderte Verständnis hatte nicht zuletzt institutionelle Folgen, etwa die Gründung eines Katholischen Arbeitskreises Entwicklung und Frieden oder die Einrichtung von Diözesan- bzw. Pfarrausschüssen zu den Themen „Mission, Entwicklung, Frieden“.

Die hier gewonnene Dimension der katholischen Friedensdialoge verengte sich jedoch angesichts der alles beherrschenden Auseinandersetzungen um den Nato-Doppelbeschluss zwischen 1977 und 1983 teilweise wieder. Katholische Nachrüstungsbefürworter verteidigten vehement die Rolle militärischer Friedenssicherung und zeigten stark antikommunistische Ressentiments. Dabei knüpften sie an die Kalte-Krieg-Semantik vergangener Jahrzehnte an. Katholische Friedensaktivisten hielten demgegenüber zwar an einem erweiterten Friedensverständnis fest und betonten die Bedeutung friedensfördernder Maßnahmen wie Entwicklungszusammenarbeit und Entspannungspolitik. Unter dem Druck konservativer Katholiken grenzten sie sich aber gleichfalls gegenüber der öffentlichen Friedensbewegung ab.

Es mag auch an diesem Zuschnitt liegen, der die jeweiligen politischen Konflikte zum Ausgangspunkt der Rekonstruktion des katholischen Diskurses macht: Oftmals erscheinen die Katholiken als Getriebene der Politik im Kalten Krieg, die in hohem Maße bestimmte, wann worüber geredet wurde. Sie mögen „mit ihren Friedensdialogen auf verschiedenen Ebenen zur politischen Kultur der Bundesrepublik“ (S. 323) beigetragen haben, allerdings vor allem dadurch, dass sie sich „gegenüber der gesellschaftlichen Pluralität geöffnet haben“ (S. 324). Der Einfluss auf die Entwicklung der nicht im katholischen Raum stattfindenden friedenspolitischen Debatten erscheint mir jedoch eher begrenzt. Gerster verfolgt diese Frage nicht systematisch, da er nahezu ausschließlich katholische Beiträge untersucht. Deren öffentliche Resonanz war aber, mit ganz wenigen Ausnahmen, wohl nicht besonders groß. Aufmerksamkeit errangen Katholiken meist nicht als Innovatoren oder Stichwortgeber, sondern eher dann, wenn Positionen eingenommen wurden, die im öffentlichen Diskurs schon längst ausgesprochen waren, im katholischen Diskurs aber zuvor kaum sagbar erschienen. Anders ausgedrückt: Sobald friedenspolitische Forderungen selbst von Katholiken übernommen wurden, so könnte man zugespitzt formulieren, waren sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wenn jüngst auf die große Bedeutung kirchlich getragener Friedensinitiativen hingewiesen wurde3, galt das in der Bundesrepublik wohl vor allen Dingen für den Protestantismus.

So liegt der Wert von Gersters Untersuchung – dem Untertitel entsprechend – vor allem darin, „eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik“ geschrieben zu haben. Überzeugend und detailliert kann der Autor zeigen, welchen Anteil die friedenspolitischen Debatten an den vielfach konstatierten Großtrends der Pluralisierung und Professionalisierung hatten. Das gilt insbesondere für die Pluralisierung, waren doch die Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden auf das Engste mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Katholizität verknüpft.

Dem Pluralisierungstrend widerspricht nicht, dass zugleich deutlich wird, welch großen Einfluss das päpstliche Lehramt auf die katholischen Friedensdialoge der Bundesrepublik hatte. Es gab mit seinen Konzepten die Grenzen des Diskurses vor. Selbst den Zeitgenossen dissidentisch erscheinende katholische Gegendiskurse bezogen sich positiv auf die jeweilige päpstliche Lehre. Gerade für die 1960er-Jahre kann der Autor zudem zeigen, wie Johannes XXIII. und besonders Paul VI. durch die Übernahme von Friedenskonzepten, die in der Soziologie und Politologie entwickelt worden waren, zu Impulsgebern für eine Umcodierung des katholischen Friedensverständnisses wurden. So bietet Gersters Arbeit also nicht nur einen Beitrag zur Erforschung des bundesrepublikanischen Katholizismus, sondern lässt sich auch als gelungene Fallstudie über den Einfluss des Lehramts auf einen nationalen Diskurs unter Katholiken lesen.

Daniel Gerster hat eine im Rahmen seiner begrenzten Fragestellung sehr überzeugende Arbeit vorgelegt, die jedem vorbehaltlos zu empfehlen ist, der sich für den Wandel katholischer Friedenskonzepte interessiert. Eine Geschichte der katholischen Friedensbewegung hat er freilich nicht geschrieben. Durch seine Konzentration auf Debatten und die veröffentlichten Beiträge von herausragenden, oft intellektuellen Repräsentanten des Katholizismus erfahren wir sehr wenig darüber, was Katholiken in Bezug auf Krieg und Frieden wirklich dachten und was sie hier, im tatsächlichen Sinne des Wortes, bewegte – zu welchen Handlungen sie motiviert wurden. Welchen Stellenwert hatte „Frieden“ in ihrem Glauben und in der alltäglichen kirchlichen Praxis? In welchem Ausmaß und zu was genau mobilisierten die Friedenskonzepte die Gläubigen? Mit welchen Mitteln wurden sie implementiert? Wie setzten sich Katholiken in welchem Rahmen konkret für Frieden ein? Viele wichtige Fragen ließen sich nur mit einem Blick auf die konkrete soziale Praxis klären, von der Gruppenbildung bis zum Friedensgruß in jeder Messfeier. Hier hätten einzelne Tiefenbohrungen vielleicht Aufschluss geben können. Somit hat die Erforschung der katholischen Friedensbewegung als „Bewegung“ noch gar nicht begonnen – Daniel Gerster hat dafür aber wichtige Voraussetzungen geschaffen.

Anmerkungen:
1 Helmut Zander, Die Christen und die Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten. Beiträge zu einem Vergleich für die Jahre 1978–1987, Berlin 1989.
2 Etwa Pascal Eitler, „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt am Main 2009 (rezensiert von Florian Bock, 22.1.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-053> [02.02.2013]), sowie zahlreiche Arbeiten von Benjamin Ziemann.
3 Siehe die Sammelrezension von Jan Hansen zu: Jost Dülffer / Gottfried Niedhart (Hrsg.), Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters, Essen 2011, und Detlef Bald / Wolfram Wette (Hrsg.), Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945–1955, Essen 2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-220> (27.3.2012, letzter Zugriff 02.02.2013).