Titel
Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945


Autor(en)
Brink, Cornelia
Erschienen
Berlin 1998: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Dr. Ulrich Hägele, Empirische Kulturwissenschaft, Ludwig-Uhland-Institut, Uni Tübingen

Jeder hat sie vor Augen, die Bilder des Grauens, aufgenommen unmittelbar nach der Befreiung der Konzentrationslager im Osten: Geschorene Köpfe und ausgezehrte Körper, dicht gedrängt auf Holzpritschen kauernd, mit ausgemergelten Gesichtern in die Linse des Fotografen blickend; Leichenberge, die von Bulldozern in Massengräber geschoben werden. Im Laufe der Zeit wurden diese Fotografien durch ihre Reproduktion in Zeitungen, Zeitschriften, illustrierten Büchern sowie Ausstellungen zum Symbol der NS-Schreckensherrschaft, zum Symbol für den Holocaust, zu "Ikonen der Vernichtung". Die Bilder verloren aber über die fortgesetzte stereotype Veröffentlichung auch einen Teil ihres Schreckens, so dass sie zwar ins kollektive Gedächtnis eingelagert wurden, aber gleichzeitig ihre vordergründige Eindeutigkeit über den Prozeß der visualisierten Historisierung und des Betrachtet-Werdens dekonstruiert und damit abgeschwächt wurde.
Die Freiburger Volkskundlerin Cornelia Brink untersucht in ihrer Dissertation den Umgang mit diesen Fotografien in der Öffentlichkeit. Sie geht davon aus, dass auch die "Ikonen der Vernichtung" hinterfragt werden müssen, dass also der Zusammenhang zwischen Bildproduktion, Veröffentlichung und Rezeption analysiert werden muss, mit dem Ziel, die geschichtliche Dimension der Fotografien und ihren Gebrauch im Rückblick zu deuten. Ihre These hierzu: Gerade in den Widersprüchlichkeiten der vermeintlich authentischen fotografischen Dokumente des historischen Geschehens ließen sich die Spuren der Ereignisse wiederfinden.
Die Autorin erörtert zunächst den direkten Produktionskontext der Fotografien in der Zeit ihrer Entstehung von April bis Juni 1945 sowie ihre Funktion innerhalb einer "visuellen Entnazifizierung" durch die Medien. In einem zweiten Schritt geht sie der Frage nach, welche Rolle der Zeugenschaft den Fotos vor Gericht während des Nürnberger Prozesses (1945/46) und des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963-65) beigemessen wurde. Sodann widmet sich Cornelia Brink beispielhaft dem frühen Bildband über den Holocaust "Der Gelbe Stern" von Gerhard Schoenberger, erschienen 1960, der bis heute durch zahlreiche Neuauflagen eine ungebrochene Resonanz erhält. Schließlich analysiert die Autorin die pädagogische Verarbeitung von KZ-Fotografien durch Museen und Ausstellungen.
Cornelia Brink wählte für ihre Studie einen diskursanalytischen Zugang. Im Rezeptionskontext von KZ-Bildern geht sie von der Hypothese aus, dass eine Fotografie nicht aus sich heraus spricht. Ihre Lesbarkeit werde vielmehr insbesondere von folgenden Publikationsmedien bestimmt: Illustrierte Zeitung, Bildband, Plakat, Projektionsleinwand im Gerichtssaal oder Dokumentationsmappe der Anklage, Ausstellung im Museum oder Ausstellungskatalog. Dementsprechend, so ihre Argumentationslinie, ließen sich Fotografien von Konzentrationslagern erst dann interpretieren, wenn man die Bildproduzenten, also die alliierten Fotografen, Staatsanwälte, Richter/Verteidiger, Publizisten oder Ausstellungsmacher gleichzeitig im Blick behalte. Neben dem eigentlichen Bild misst Cornelia Brink auch den schriftlichen Belegen, also Bildlegende und Begleittext, eine signifikante Rolle zu.
Vor Kriegsende stießen Bilder der befreiten Lager im Osten bei den Alliierten auf wenig Resonanz. Das Interesse konzentrierte sich allein auf die aktuelle Frontberichterstattung. Auch die Befreiung Auschwitz' ging zunächst im allgemeinen Freudentaumel über den Sieg unter. Erst die westlichen Alliierten beauftragten professionelle Fotografinnen und Fotografen wie Lee Miller oder Margaret Bourke-White damit, die halb verhungerten Überlebenden und die Spuren des Massenmords im Bild festzuhalten. Cornelia Brink zeigt in ihrem Hauptkapitel über das "Scheitern der optischen Entnazifizierung 1945", wie widersprüchlich diese vordergründig dokumentarischen Fotos gehandhabt wurden. Einerseits entstanden sie aus Betroffenheit, um die Deutschen mit ihren bis dahin unvorstellbaren Greueltaten zu konfrontieren. Dabei ging es zunächst darum, Reue und Schuldbewußtsein zu wecken. Letzteres sollte schließlich insofern kollektiv vermittelt werden, als die Fotografien in Zeitungen publiziert oder in Schaufenstern und Anschlagtafeln im Freien mit dem Zusatz "Ihr seid Schuld" ausgehängt wurden. Andererseits sei in den Bildern auch eine Portion Schaulust feststellbar, ein distanzierter, ja inszenatorischer Blick, der dem eines Voyeurs auf ein sensationelles Ereignis ähnle. Zum dritten lieferten die Bilder des barbarischen Verbrechens schließlich vor allem für die US-Amerikaner ein Maß an Sinnstiftung für ihren Einsatz zur Rettung der Zivilisation. Cornelia Brink zeigt ausserdem, dass die Opfer - aufgenommen meist am Betrachter vorbei ins Leere blickend - mit ihrer visuellen Reduziertheit auf Körper und Masse einer Verdinglichung unterzogen wurden. Die deutschen Betrachter wiederum hätten durch die auf sie gerichteten Blicke der Opfer ihre Mitschuld in visueller Form nahegebracht bekommen, die dann innerhalb kollektiver Freund/Feindvorstellungen als ein trennendes Moment zwischen Siegern und Besiegten wirken konnte. Brink schließt daraus, der Blick auf die Greuel sei so zum Mittel der Politik geworden.
Die Autorin hat auch Aussagen von Deutschen, die besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit den fotografischen Schreckensbildern aus den KZs konfrontiert wurden, aufgezeichnet und analysiert. Das Ergebnis: Die Deutschen zeigten sich entsetzt über das, was sie zu sehen bekamen. Erkennbar waren aber auch vehemente Verleugnungstrategien, die mit einer auffälligen Gefühlskälte einher gegangen sind. Auf den Bildern, so Brink, war Sehen identisch mit Gesehen-werden. Die Reaktionen hätten stereotyp in folgende Aussage gemündet: "Was auf den Bildern zu sehen ist, hat mit uns nichts zu tun." Die optische Entnazifizierung sei deshalb gescheitert, weil die deutschen Betrachter die Fotos anders gelesen haben als von den Alliierten erwartet.
Cornelia Brink setzt die Bilder der Shoah mit Ikonen gleich und verwendet dabei einen Begriff, mit dem gemeinhin solche Bilder bezeichnet werden, die "Geschichte" machten oder als religiöse Kultbilder geistliche Inhalte zeigen und gleichzeitig verhüllen. Ein plausibler Gedanke, denn erst durch die millionenfach reproduzierten Fotografien der Lager wurden Stacheldraht, Wachturm, Eingangstor, Baracken, Schornsteine der Krematorien zum Symbol einer bis dahin unvorstellbaren Gewalt und damit zu einem Synonym eines Teils der deutschen Geschichte. Gleichzeitig gibt die Autorin aber zu bedenken, die Bilder seien, obwohl mittlerweile im kollektiven Gedächtnis verankert, als gefrorene Ereignisse unentziffert und damit unverstanden geblieben. Keinen Zugang vermittelten die Fotografien der Shoah zu den wirklichen Ereignissen, allenfalls ein moralischer Appell ließe sich daraus ableiten.
Cornelia Brink argumentiert hart an der Bildquelle der reproduzierten Fotografie. Sie bindet aber ebenso Artikeltexte und andere schriftliche Belege mit in die Analyse ein. Zusätzlich führt sie den Diskurs über das Bildmedium Fotografie, der sich wie ein roter Faden durch ihr Buch zieht und schließlich im Epilog komprimiert wird. Innerhalb der modernen Fotoforschung kann Cornelia Brinks äußerst anregende Publikation nicht hoch genug geschätzt werden. Die Autorin ist eine der ersten überhaupt, die sich grundlegend mit KZ-Fotos und ihrer Rezeption beschäftigt hat. Sie demonstriert außerdem, dass Bildquellen im visuellen Zeitalter sowohl aus volkskundlicher als auch aus zeitgeschichtlicher Perspektive unbedingt zum Repertoire der Forschung zu zählen sind. Ein fotohistorisches Defizit in ihrer Studie ist, dass sie die frühen KZ-Fotos nicht berücksichtigt. Eine Petitesse vielleicht, aber in den Anfangsjahren der Diktatur ließen die Nazi-Propagandastrategen gezielt Fotoreportagen über das KZ Dachau produzieren, die dann millionenfach in der deutschen und internationalen Presse veröffentlicht wurden. Ziel dieser Propagandalüge war es, in der Öffentlichkeit ein harmloses und beschauliches Bild des Lagerlebens zu zeichnen. Dieses Trugbild wurde denn auch zum Beispiel in vielen französischen Illustrierten der Zeit ungefiltert reproduziert. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass die frühen KZ-Bilder Eingang in das kollektive (deutsche) Gedächtnis gefunden haben und somit bei manchen auch nach 1945 noch wirksam geblieben sind.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/