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Titel
„Vati blieb im Krieg“. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert – Deutschland und Polen


Autor(en)
Seegers, Lu
Reihe
Göttinger Studien zur Generationsforschung 13
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
620 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Moller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Bei der kriegsbedingten Vaterlosigkeit in Deutschland handelte es sich im 20. Jahrhundert um ein Massenphänomen – auch wenn man Lu Seegers in ihrer Einschätzung, dies sei eine Signatur des 20. Jahrhunderts, nicht auf Anhieb folgen mag. Mehr als 7 Millionen deutsche Soldaten waren in beiden Weltkriegen umgekommen und hatten weit über 3,7 Millionen Halb- und Vollwaisen hinterlassen; damit war gut ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland betroffen (S. 88). 1,1 Millionen Halbwaisen und Waisen im Kindesalter soll es nach 1945 in Polen gegeben haben (S. 13). Gleichwohl wurde die kriegsbedingte Vaterlosigkeit – so eine Ausgangsthese der Studie – weitgehend privatisiert, weil die Erinnerung an die persönlichen Verluste den Normalisierungs- und Aufbauprojekten in den Nachkriegsstaaten entgegenstand. Während die kriegsbedingte Vaterlosigkeit in der polnischen Forschung bisher kein Thema war, erlebte der Gegenstand in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Konjunktur, die getragen war von einer sich in den 1990er-Jahren intensivierenden Debatte über die deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Das deutsche „Generation Building“ stützte sich dabei ganz maßgeblich auf männliche, akademisch gebildete, westdeutsche Akteure.

An dieser Stelle setzt die für den Druck leicht überarbeitete und gekürzte Habilitationsschrift von Lu Seegers an, die zwar einerseits selbst ein Produkt dieser Diskurskonstellation ist, die aber andererseits deren Beschränkungen aufzuzeigen und gleichsam zu überschreiten sucht.1 Was die Studie auszeichnet, ist dreierlei: Erstens situiert Seegers ihre Arbeit einleitend sehr ausführlich vor dem Hintergrund der erinnerungspolitischen Debatten über die deutschen Kriegsopfer, um so den Kriegskinder-Diskurs in seiner medialen Inszenierung zu reflektieren. Dabei zeigt sie, wie Generationenbegriff und Traumakonzepte weniger als Analysekategorien gebraucht als für ein „kulturpolitisches Programm“ in Dienst genommen wurden (S. 18). Besonders an der Studie ist zweitens, dass sie sozialgeschichtlich über den Zweiten Weltkrieg hinausgeht und den Ersten Weltkrieg einbezieht. Drittens bricht Seegers die nationalstaatliche Beschränkung auf, indem sie nicht nur 30 deutsche, sondern auch 10 polnische Interviewpartner/innen ausgewählt hat. Die quasi unvermeidbare Viktimisierung der Deutschen, die sich bei der Beschäftigung mit Kriegskindheiten einstellt, wird durch diesen Ansatz multiperspektivisch korrigiert.

Die Untersuchung gliedert sich in sechs größere Abschnitte. Im ersten Teil („Strukturen, Situationen, Debatten [1914–1970]“) werden auf einer breiten Grundlage von Quellen und Darstellungen rechtliche Regelungen der Hinterbliebenenversorgung, zeitgenössische Debatten über „Halbfamilien“ sowie einschlägige filmische, literarische und journalistische Verarbeitungen der Kriegsfolgenthematik vorgestellt. Dabei arbeitet Seegers für Deutschland die Kontinuität einer Wahrnehmung heraus, die ältere Jungen stärker von einer kriegsbedingten Vaterlosigkeit betroffen sah als kleinere Kinder und Mädchen generell. Hieran geknüpft war eine diskursive Abwertung bzw. Defizitbeschreibung der Halbwaisen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost- und Westdeutschland durch die asymmetrischen Gedenk- und Aufarbeitungsstrukturen in verschiedenen Richtungen auswirkte. Dadurch, dass es in der DDR kein offizielles Gedenken an die toten Wehrmachtssoldaten gab und die Hinterbliebenenproblematik weitgehend tabuisiert war, wurden die Halbwaisen nicht – wie im Westen – öffentlich unter ein „Versagens-Verdikt“ gestellt. In der Bundesrepublik konnten sich in dieser Hinsicht stärkere Kontinuitäten zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik ausprägen, über die insbesondere die männlichen Halbwaisen „als spezifisch gefährdete Altersgruppe dargestellt“ wurden (S. 125).

Wie der Titel „Vati blieb im Krieg“ andeutet, handelt es sich um eine Untersuchung, die sich schwerpunktmäßig auf die Oral History als Quelle und Methode stützt. Mit rund 400 Seiten bildet daher auch die Auseinandersetzung mit biographischen Erzählungen und Familienerinnerungen den Hauptteil der Studie. Die Kapitel 2–6 folgen dabei einer – durch die nicht mehr vorhandenen Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs – naturgegebenen Fokussierung auf den Zweiten Weltkrieg. Seegers’ Verständnis von Oral History orientiert sich an methodisch reflektierten Ansätzen, wie sie insbesondere mit den Namen Dorothee Wierling und Ulrike Jureit verbunden sind. Erweitert um neuere sozial- und neurowissenschaftliche Erkenntnisse der Gedächtnisforschung verfolgt Seegers das Ziel, das autobiographische Gedächtnis als Schnittstelle verschiedener sozialer bzw. sozialgeschichtlicher Rahmungen zu lesen. Sie verflüssigt das Generationenkonzept zu einem möglichen Gedächtnisrahmen und fragt nach der historischen Genese desselben. So folgt sie einem Ansatz, der in der Geschichtswissenschaft schon seit geraumer Zeit für die Erforschung von Generation und Gedächtnis eingefordert wird.2 „Bei der Auswertung der Interviews geht es demnach darum, die Bemühungen um Herstellung eines subjektiven Sinns in den Lebensgeschichten und die gesellschaftlich möglichen Erfahrungsverarbeitungen in einen Zusammenhang zu stellen.“ (S. 139)

Als ein Hauptergebnis ihrer Studie hält Seegers den Umstand fest, „dass politische, gesellschaftliche und kulturelle Faktoren die Wahrnehmungen und Sinnstiftungen männlicher und weiblicher Halbwaisen stärker prägten, als dies bislang in der Forschung berücksichtigt wurde“ (S. 529f.). Beim Vergleich der drei Nachkriegsgesellschaften zeige sich dies in dem Befund, dass sich die westdeutschen Befragten am stärksten als Kriegskinder begreifen, während sich die Ostdeutschen stärker als Ostdeutsche und erst in zweiter Linie als Kriegskinder sehen. In den polnischen Interviews ist eine generationelle Gemeinschaftsbindung über die Kriegskindheit am wenigsten ausgeprägt. Für Ostdeutschland erklärt Seegers diesen Tatbestand unter anderem damit, dass die längere physische Nachwirkung des Kriegs in der DDR zu einer Egalisierung der Kriegsfolgen im Sinne einer allgemeinen Schicksalslage aller geführt habe. Im Westen hingegen hätten gerade der schnelle Aufschwung und das „Wirtschaftswunder“ die Deklassierung der Halbfamilien stärker in das Bewusstsein der Betroffenen treten lassen. In Polen wiederum sei die materielle Not „eher dem ab 1944 sich etablierenden kommunistischen System als dem Verlust des Vaters zugeschrieben“ worden (S. 532). Durch die westdeutsche Offenheit gegenüber Psychoanalyse und -therapie, die ostdeutsche Zäsur von 1989/90 und die polnische Religiosität seien die Asymmetrien im Umgang mit der je eigenen Kriegskindheit weiter befördert worden.

Jenseits aller nationalen, politischen, schichtspezifischen und anderen Rahmen, die die Erfahrung und Erinnerung prägen, kann Seegers immer wieder sehr überzeugend die überragende Bedeutung geschlechtsspezifischer Faktoren herausarbeiten. Zwar sei eine enge und gleichzeitig ambivalente Mutter-Kind-Beziehung ein verbindender Aspekt in den Schilderungen der meisten Interviewten; gleichwohl fühlten sich alle weiblichen Interviewpartner sowohl in Deutschland als auch in Polen stärker für ihre Mütter verantwortlich als die befragten Männer (S. 534). Mit diesen Geschlechterdeutungen und Rollenzuschreibungen verknüpft Seegers sehr versiert verschiedene sozialgeschichtliche Rahmungen. Während das bundesrepublikanische Bundesversorgungsgesetz auf das Hausfrauenideal rekurrierte, stellten die Rahmenbedingungen in der DDR stärker auf einen Wiedereinstieg der Witwen in das Berufsleben ab. Diese rechtlichen Kontexte verknüpft Seegers etwa mit der Beobachtung, „dass sich fast alle ostdeutschen Interviewpartnerinnen von ihren Ehemännern trennten, während bei den westdeutschen Frauen der Erhalt der Ehe allein schon aus Gründen ihrer finanziellen Absicherung wichtig war. […] Hier werden spezifisch weibliche generationelle Stile, basierend auf einer historisch-politischen Konstellation, deutlich, die bislang nur wenig beachtet worden sind“ (S. 539).

An diesem letzten Beispiel lassen sich Vorzüge und Nachteile des Untersuchungsansatzes illustrieren. Seegers nimmt die vermeintliche „Kriegskindergeneration“ zum Ausgangspunkt und differenziert sie mit Fragen nach den Folgen kriegsbedingter Vaterlosigkeit als generationeller Erfahrung. Was sie neben einer Dekonstruktion der „Generation der Kriegskinder“ zutage fördert, sind spezifische Figurationen verschiedener sozialer Rahmungen, die in ihrer sozialgeschichtlichen Fundierung für den Leser äußerst kenntnisreich hergeleitet werden. Generationenzuschreibungen werden so als Generationalität fassbar – als Zeitlichkeit der sozialen Bedingtheit individueller Erfahrungen –, und die Studie betritt tatsächlich Neuland, nicht zuletzt durch den polnischen Vergleichshorizont. Gleichzeitig ergibt sich ein zunehmend unübersichtlich werdendes Feld an Einzelergebnissen, in dem sich der Leser bisweilen etwas verliert. Das schmälert allerdings nicht den reichhaltigen Ertrag der Studie: Lu Seegers hat eine methodisch reflektierte Erfahrungsgeschichte vorgelegt, an der nachfolgende Untersuchungen zur kriegsbedingten Vaterlosigkeit nicht vorbeikommen werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Lu Seegers / Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die „Generation der Kriegskinder“. Historische Hintergründe und Deutungen, Gießen 2009. Rezensiert von Frank Biess, in: H-Soz-u-Kult, 24.11.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-169> (23.2.2014).
2 Vgl. Malte Thießen, Gedächtnisgeschichte. Neue Forschungen zur Entstehung und Tradierung von Erinnerungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 607–634; Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 55 (2005), Heft 8, S. 3–9, <http://www.bpb.de/apuz/29215/generation-und-generationalitaet-in-der-neueren-geschichte> (23.2.2014).