M. Föllmer: Individuality and Modernity in Berlin

Titel
Individuality and Modernity in Berlin. Self and Society from Weimar to the Wall


Autor(en)
Föllmer, Moritz
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
£ 65.00 / € 79,98
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Zierenberg, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt Universität zu Berlin

Individualität und Moderne, das Selbst und die Gesellschaft in Berlin von der Weimarer Republik bis zum Bau der Mauer – kleiner hatten Sie es nicht, möchte man den Autor unwillkürlich fragen. Dabei geht es nicht allein darum, dass mit der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus, der unmittelbaren Nachkriegszeit und den beiden neuen deutschen Staaten sehr unterschiedliche politische Konstellationen in Rede stehen. Auch das Begriffspaar Individualität und Moderne mag auf den ersten Blick wahlweise ein leises Gähnen (und schon wieder Berlin!) oder, im Wissen um das zum Thema bereits Geschriebene, auch tiefe Ehrfurcht gemischt mit Skepsis hervorrufen. Um es vorweg zu sagen: Ein solches Vorhaben kann dann gelingen, wenn man es wie Moritz Föllmer macht, die ein oder andere Leerstelle in Kauf nimmt und zu provozieren versteht.

Das Buch schreibt die Geschichte des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft als politische Geschichte: Es widmet sich unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Individualitätsentwürfen, deren Formulierung und Inanspruchnahme zugleich etwas über das Verhältnis von einzelnen Personen und Gruppen zum jeweiligen System erzählt. Indem Föllmer das Verhältnis von Individualitätskonzepten und politischer Ordnung historisiert, kommt er zu interessanten Einzelergebnissen und weit reichenden Deutungen. Und selbst wenn er an der einen oder anderen Stelle auf schmalem Grad wandelt und bisweilen über das Ziel hinausschießt – seine Darstellung bleibt immer nachvollziehbar und langweilt nie.

Das Buch ist chronologisch gegliedert. In drei größeren Abschnitten widmet es sich – von individuellen Geschichten ausgehend – der Weimarer Zeit, der Entwicklung im „Dritten Reich“ und der Situation nach 1945 vom Kriegsende bis zum Bau der Berliner Mauer.

Dabei geraten Rollen und Entfaltungsmöglichkeiten, geraten individuelle Vorstellungen vom eigenen Platz in der Gesellschaft in den Blick. Mit diesen Erwartungen umzugehen, so Föllmers Grundannahme, bildete eine der wichtigsten Herausforderungen für politische Ordnungen in einer sich ausdifferenzierenden Welt. Sie zu erfüllen, war alles andere als einfach. Sie zu enttäuschen, konnte bewirken, dass Individuen in Distanz zum Regime gingen.

Föllmer folgt im ersten Kapitel zwei diskursiven Strängen, die das Individuum in der späten Weimarer Republik zum Thema machten: Dem in und durch die Großstadt gefährdeten und von Isolation bedrohten Individuum standen positive Deutungen gegenüber, die neue Erfahrungs- und Entfaltungsmöglichkeiten in einer offenen und konsumorientierten Gesellschaft betonten. Anhand exemplarischer Geschichten aus der zeitgenössischen Literatur und Presse (von Hermann Kesten bis Vicki Baum, von der Berliner Zeitung am Mittag bis Tempo), die er als dramatisierte Verdichtungen zeitgenössischer Problemlagen liest, zeichnet Föllmer so einerseits das Bild einer permanent bedrohten individuellen Existenz nach. Diese verkörperte in ihrem Ausgeliefertsein an die anonymen Mächte der Wirtschaft und dem Moloch der Stadt das Problem des modernen Menschen, sich seiner selbst, der eigenen Rolle in der Gemeinschaft und seiner sozialen Beziehungen nie sicher sein zu können. Andererseits folgt er den Hinweisen auf einen Individualitätsentwurf, der das Habitat der Metropole als Raum für neue Handlungs- und Erfüllungsmöglichkeiten beschrieb. So weit, so bekannt.

Doch Föllmer macht aus dieser Darstellung ein Argument, indem er die unterschiedlichen Erwartungen, die in diesen Deutungen ausgedrückt wurden, als Überforderung für das politische System der Weimarer Republik beschreibt. Diese Enttäuschungs-These ist mit Blick auf die Krise politischer Kommunikation nicht neu.1 Originell ist der Fokus auf den Anspruch, die eigene Individualität zur Geltung zu bringen. Damit unterstreicht Föllmer zugleich, dass Individualität als Thema politischer Auseinandersetzungen auch am Ende der Weimarer Republik neben der zeitgenössischen Rede von „nationaler Gemeinschaft“ oder „Klassensolidarität“ virulent blieb. Allen kollektivistischen Idealen und Versprechungen, allen Visionen einer durch und durch rationalisierten und technologisierten Gesellschaft zum Trotz verhandelte ein breiter Strom publizistischer Veröffentlichungen, die Föllmers Hauptquelle bilden, die Rolle des Individuums im Alltag der Metropole als einen selbstverständlichen ‚way of life‘. Individualität wurde hier nicht als Symptom einer verfaulten Gesellschaft im Niedergang sondern als modernes Lebensprinzip begriffen und als solches verteidigt. Bei aller Attraktivität, die in den Verheißungen eines neuen Führers und einer neuen Volksgemeinschaft liegen mochten, beharrte ein guter Teil der Berliner Publizistik darauf, dass ein Leben abseits kollektivistischer Glücksversprechungen und zum Teil gerade im Gegensatz zu diesen Erfüllung bringe. Warum setzten sich solche Deutungen dann nicht durch?

In Föllmers Lesart gelang es den „Gemeinschaftsradikalen“ (Helmuth Plessner) besser, Antworten auf die Herausforderungen zu formulieren, die mit solchen Ansprüchen verbunden waren. So boten insbesondere die Nationalsozialisten einfache Antworten auf die in den unterschiedlichen Individualitätskonzepten enthaltenen Probleme. Die besondere Stärke der Republik, die darin gelegen hatte, dem Individuum einen Raum für die Artikulation von Ansprüchen zu öffnen, bewirkte in der Großstadt Berlin den Umschlag ins Gegenteil. Die Polyvalenz von Individualitätskonzepten machte diese eben nicht zu einem Proprium der Demokratie, sondern ebnete solchen Angeboten den Weg, die auf die in ihnen zum Ausdruck kommenden Enttäuschungen und Erwartungen mit einfachen und scheinbar klaren Botschaften antworteten.

Ein besonderer Reiz an der von Föllmer gewählten Perspektive liegt darin, dass sie gewissermaßen die Übergänge verflüssigt. Denn wenn man Föllmers These von der Beharrungskraft eines modernen Individualitätskonzepts akzeptiert, dann stellt sich mit neuer Dringlichkeit die Frage, wie der Nationalsozialismus mit den darin formulierten Erwartungen umging. Welche Angebote und Zugeständnisse machte die nationalsozialistische Ordnung wenn es um die Ansprüche moderner Großstädter ging? Dieser Frage geht Föllmer in seinem zweiten Kapitel nach. Seine These lautet, dass das NS-Regime erfolgreich darin war, nicht nur eine eigene Semantik zu entwickeln, die individuelle Ansprüche und Sehnsüchte mit der Rede über die Volksgemeinschaft in Einklang zu bringen vermochte, sondern diesen Worten auch Taten folgen zu lassen. Im Rückgriff auf Arbeiten von Michael Geyer und Peter Fritzsche argumentiert Föllmer, dass der hohe Grad an Zustimmung zum neuen System nicht in erster Linie als Bruch zwischen einer alten individualistischen und einer neuen kollektivistischen Ordnung zu verstehen sei, in der sich der oder die einzelne nach den Jahren krisenhafter Orientierungslosigkeit aufgehoben gefühlt haben mochte. Vielmehr gelte es, den Blick auf jene inkludierenden NS-Angebote zu lenken, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft als Individuum ermöglichten – und sei es in der Form eines „aggressiven Individualismus“, der im Rekurs auf Begriffe wie „Verantwortung, Ehre, Mut“ oder „Männlichkeit“ vermittelbar wurde (Geyer).2

Neben bekannten und meist aus der Weimarer Zeit stammenden Beispielen gibt Föllmer auch aufschlussreichere Belege; jene nämlich, mit denen er zeigen kann, dass der Anspruch auf individuelle Entfaltung und Gemeinschaftsideologie miteinander vermittelbar waren. Wenn ein Angestellter sein Urlaubsgesuch gegenüber dem Arbeitgeber mit Hilfe der Deutschen Arbeitsfront und im Rekurs auf seine Rechte als „Volksgenosse“ durchzusetzen suchte, dann zeigen sich jene Überlappungen zwischen individuellem Anspruch und Ideologie, denen Föllmer – an die jüngste Forschungen zur NS-Volksgemeinschaft anschließend – große Bedeutung beimisst. Damit trägt seine Interpretation jenem feinen Gespinst aus sozialen Abhängigkeiten und individuellen Wünschen und Vorstellungen Rechnung, das sich nicht über Nacht, wohl aber im Laufe von Monaten und Jahren neu aufladen ließ.

Zugleich zeigt sich hier eine Grenze des Zugriffs. Denn indem Föllmer seine Beispiele in publizistischen Quellen und dem Schrifttum von Behörden sucht, bleibt es ihm verwehrt, jene Linie zwischen einer verinnerlichten neuen „nationalsozialistischen“ Individualität und taktisch motivierten Anpassungen an die dominanten Sprachregeln der Zeit zu problematisieren.3 Was er gleichwohl zeigen kann, sind die vielfältigen Handlungsspielräume, die die nationalsozialistische Neudefinition legitimer Individualität bereitzustellen in der Lage war. Diese Spielräume waren nicht zuletzt ein Ergebnis der Grenzziehung zwischen den als legitim ausgewiesenen Erwartungen der „Volksgenossen“ und der massiven Ausgrenzung der jüdischen Bewohner der Stadt. Dass die damit verwobenen Sphären individueller Ansprüche und ideologischer Vorgaben im Krieg und vor allem gegen Kriegsende auf eine harte Probe gestellt wurden und trotzdem keineswegs durchgehend in Auflösung begriffen waren, zeigt Föllmers letztes Kapitel dieses Abschnitts, das weniger stringent wirkt als die vorangegangenen und sich ein bisschen im Einerseits-Andererseits verliert.

Mit den Erwartungen von Berlinerinnen und Berlinern an individuelle Entfaltungsmöglichkeiten sahen sich nach Kriegsende unterschiedliche politische Regimes konfrontiert. Letztlich laufen Föllmers Beobachtungen in diesem Zusammenhang auf eine erwartbare Schlusspointe hinaus: Wie sehr sich die östliche Seite auch immer mühte, den Freiheitsansprüchen „ihrer“ Bewohner gerecht zu werden, diese umzudeuten oder zu unterdrücken – der Kommunismus als politische Ordnung stand in einem prinzipiellen Widerspruch zu jener Form einer modernen urbanen Individualität, wie sie sich seit der Jahrhundertwende herausgebildet hatte. Hinter die etablierten Vorstellungen individueller Entfaltungsmöglichkeiten gab es auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein zurück mehr. In Westberlin hatten mit unterschiedlicher Akzentuierung lokale Politiker und westalliierte Besatzer die Stadt zum Hort für ein ‚freies‘ und ‚modernes‘ urbanes Leben sowohl im Vergleich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als auch in direkter Konkurrenz zum sowjetischen Modell im Osten erklärt. Das „Weitermachen“ nach dem Kriegsende wurde hier als Ausdruck eines individuell vorgelebten Modells persönlicher Aktivität und unbedingten Freiheitswillen aufgegriffen und mit den sozialistischen Umgestaltungsprogrammen der anderen Seite kontrastiert. Ein ungleicher Wettbewerb, den nur eine Seite gewinnen konnte.

Moritz Föllmer hat ein mutiges, ambitioniertes Buch geschrieben, das sich – darin einigermaßen „britisch“ – nicht lange mit theoretischen und begrifflichen Vorüberlegungen aufhält. Darin liegt ein Problem, weil die Bedeutung etwa des Kernbegriffs Individualität zwischen individueller Freiheit und körperlicher Unversehrtheit auf der einen und lebenspraktischen Entfaltungschancen andererseits changiert und nicht immer klar ist, welche Ebene eigentlich adressiert wird und welche Bedeutung sie haben soll. Indem Föllmer allerdings die Entwicklung in Berlin als Teil eines generellen Trends der Moderne fasst, findet er einen Vergleichspunkt, an dem sich Individualitätsentwürfe unterschiedlicher ideologischer Provenienz gewissermaßen testen und ihre Beharrungskräfte über politische Systemgrenzen hinweg in den Blick nehmen lassen. Die Stärke dieses Ansatzes besteht darin, dass er zum Teil bekannte Narrative in Frage zu stellen erlaubt. Im Anschluss an jüngere Arbeiten zur Volksgemeinschaft kann Föllmer so zeigen, welches integrierende Potenzial nationalsozialistische Anpassungen an den urbanen Individualitätsdiskurs aufwiesen und welche Deckungsoptionen sich hier für individuelle Selbstentwürfe und Ermächtigungspraktiken mit offiziellen ideologischen Leitbildern boten.4 Anders als es die These vom Bruch von einer individualistischen zur kollektivistischen politischen Kultur im Übergang von der Weimarer Republik zum „Dritten Reich“ nahelegt, ist das Bild, das Föllmer anhand des Individualitätsthemas zu zeichnen im Stande ist, ungleich komplexer und einleuchtender.

Im Gegensatz dazu kommen seine Analysen zur Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu wenig überraschenden Ergebnissen. Gleichwohl hat die lange Perspektive ihre Berechtigung, weil sie erlaubt, etablierte Periodisierungen und damit verbundene Deutungen in Frage zu stellen. Interpretationen, die auf eine „Modernisierung“, „Liberalisierung“ oder „Verwestlichung“ der Bundesrepublik seit den fünfziger und sechziger Jahren abheben, gehen Föllmer zufolge explizit oder implizit von einer Unmodernität ihre Vorgeschichte aus, die jedoch mit Blick auf die komplexe Gemengelage von Individualitätsansprüchen und -angeboten nicht mehr überzeugt. Föllmers originelles, ausgezeichnetes Buch wird diese Debatte sicher anstoßen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas Mergel, High Expectations – Deep Disappointment: Structures of the Public Perception of Politics in the Weimar Republic, in: Kathleen Canning u.a. (Hrsg.), Weimar Publics/Weimar Subjects. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920’s, New York 2010, S. 192–210.
2 Neben anderen Titeln vgl. etwa: Michael Geyer, The Space of the Nation: An Essay on the German Century, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 21–42; Peter Fritzsche, Life and Death in the Third Reich, Cambridge Ma. 2008.
3 Vgl. dazu jetzt Janosch Steuwer, Was meint und nützt das Sprechen von der „Volksgemeinschaft“? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487–534. Hier: S. 519f.
4 Vgl. Frank Bajohr / Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt 2009.

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