Titel
Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters


Herausgeber
Lubich, Gerhard
Reihe
Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 34
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Schneidmüller, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Jubiläen führen selbst die kleineren der großen Männer ins Rampenlicht historischer Aufmerksamkeit. So wurde Kaiser Heinrich V. (1105/06–1125) zum Thema einer historischen Ausstellung in Speyer wie mancher wissenschaftlicher Veranstaltungen andernorts. Dem letzten der Salier steht ein neuer Blick gut zu Gesicht, denn allzu sträflich hatte ihn die rührige Grundlagenforschung der deutschen Mediävistik vernachlässigt. Die letzte vermeintliche Biografie von Adolf Waas erschien 1967 und beschrieb im Wesentlichen nur den vielfach behandelten Papst-Kaiser-Konflikt. Eine Erschließung der Herrscherleistung in den Regesta Imperii liegt in weiter Ferne. Die seit langem fertig gestellte Edition der Herrscherurkunden der Monumenta Germaniae Historica konnte bislang nicht im Druck erscheinen, weil sie den formalen Diplomata-Vorgaben nicht entsprach, steht aber in vorläufiger Version digital im Netz. Selbst die siebenbändige biografische Darstellung der beiden Kaiser des Investiturstreits von Gerold Meyer von Knonau lässt den Sohn Heinrichs IV. wie einen bloßen Appendix aus alter Zeit ins 12. Jahrhundert ragen. Umso kräftiger fielen die von Heinrich Banniza von Bazan 1927 zusammengestellten Urteile der Zeitgenossen aus. Am Anfang schien ein jugendlicher Wirkverbund 1106 noch die politischen Trümmer aus der Agonie Heinrichs IV. beherzt beiseite zu räumen, um alsbald überkommener salischer Starrköpfigkeit Platz zu machen. Heinrichs V. Kaiserkrönung 1111 in Rom mobilisierte dann eine weite europäische Öffentlichkeit. Nach 1115 brachen die monarchischen Handlungsspielräume weitgehend weg. Der berühmte Ausgleich mit Papst Calixt II. 1122 vor Worms wurde von einer fürstlichen Verantwortungsgemeinschaft auf den Weg gebracht, die den Kaiser zum Gehorsam gegen den Papst zwang. Westeuropäische Autoren geißelten den Kaiser dann als zweiten Judas, als Unruhestifter, als Terminator seines Geschlechts, dem das verdiente göttliche Gericht der Kinderlosigkeit zuteilwurde.

Zeit also für eine historische Revision! Gerhard Lubich legt in diesem Sammelband die Ergebnisse einer von ihm geleiteten Bochumer Tagung von 2011 vor, die „Heinrich V. in seiner Zeit“ nicht mehr nach den Leistungsparametern der älteren Forschung beurteilen wollte. Das ist eindrucksvoll gelungen, zum einen im Aufbrechen nationalhistorischer Perspektiven, zum anderen in der Erprobung neuer Analyseebenen, die regionale oder situative Dimensionen an die Stelle der einförmigen Evaluation eines Herrscherlebens setzen.

In einleitenden Bemerkungen steckt Gerhard Lubich seine Ziele ab, nämlich „mit Heinrich verbundene Ereignisse, Strukturen und Zusammenhänge in der Perspektive der neueren Forschung zu kontextualisieren“, auf die erneute Auswalzung der „Großereignisse“ von 1111 oder 1122 weitgehend zu verzichten und „ein wenn auch lückenhaftes Panorama entstehen zu lassen, dem Leser nicht nur Aussagen und Erkenntnisse, sondern auch Vergleichsmöglichkeiten anzubieten, um […] neue Möglichkeiten der Beschäftigung mit einem wenig geliebten Herrscher anzudenken.“ (S. 9). In struktureller wie chronologischer Abfolge geben 16 Aufsätze „Handreichungen“ zur Erkenntnis von „Facetten eines tätigen Lebens […], in denen sich verschiedene Welten des Mittelalters spiegeln.“ (S. 9).

Dafür werden die Linien um Heinrich V. und seine Epoche weit gezogen. Wolfram Drews stellt die Verbindungen von islamischer Welt und christlichem Europa vor, „umkreist also eine Leerstelle“ in der Herrschaft Heinrichs V. (S. 298). Damals wurden in den aufblühenden Reichen Palästinas die Weichen zwischen erstem und zweitem Kreuzzug neu gestellt. Erst Heinrichs staufische Nachfolger ließen die Fürsorge für das Heilige Land in den imperialen Verantwortungsbereich der römischen Kaiser hineinwachsen. Daniel Ziemann präsentiert variantenreiche politische Neuformierungen im byzantinischen Reich und in Osteuropa vom 11. zum 12. Jahrhundert, die sich losgelöst von allen spätsalischen Fernwirkungen vollzogen. Bemerkenswert waren die Etablierung einer heiligen Herrscherdynastie und deren Indienstnahme für politische Ritualität.

Enger mit dem römisch-deutschen Reich war die französische Monarchie verknüpft, deren Aufstiegsgeschichte mit dem Königtum Ludwigs VI. begann. Rolf Große arbeitet – dezidiert vergleichend – die schwierigen Anfänge dieses Königs vor dem Jahr 1108 heraus, der zur Bekräftigung politischer Eigenständigkeit wiederholt die karolingische Tradition der reges Francorum nutzte. Einen wesentlichen Beitrag zur historischen Konfliktforschung liefert Thomas Kohl, der auf Bezüge zum Reich Heinrichs V. verzichtet. Seine Detailanalysen zu Auseinandersetzungen in Le Mans um 1100 führen zu zeitgenössischen Deutungen, die – anders als die moderne Konfliktforschung – noch ganz auf die Wirkkraft Gottes vertrauten.

Die Mehrzahl der Artikel nimmt das römisch-deutsche Reich nördlich und südlich der Alpen in den Blick. Die Spannweite reicht vom Herrscherleben Heinrichs V. über die Entwicklungen von Adel oder Stadt bis zur salischen Italienpolitik. Anfangs kritisiert Hanna Vollrath die traditionelle historiografische Fokussierung auf Kaiser und Reich, weil die vielen kleinen Welten außer Acht gerieten. An Einzelbeispielen wird gefragt, ob Herrscher die Schichten unterhalb der adligen oder fürstlichen Eliten überhaupt erreichen konnten und ob deren Realitäten bis zu den Königen drangen. Unklar bleibt indessen, was Überforderung eigentlich meint und wie man diese – im Gegensatz zur Unterforderung – bemessen mag? Lässt man Vollkommenheit nur in der Transzendenz zu, dann müsste man Überforderung zum Grundmuster alles Irdischen machen. Hier bleibt Wichtiges zum historischen Urteilen also erst angedacht. Bedrohte Ordnung – sein neues Forschungsthema steckt Steffen Patzold in einer Fallanalyse zur Konkurrenz zwischen Heinrich IV. und Heinrich V. 1105/06 ab. Quellennahe Textanalysen der divergierenden Überlieferung aus der Umgebung von Vater und Sohn lassen spezifische Wahrnehmungs- und Deutungskategorien des frühen 12. Jahrhunderts erkennen, die auf homogenen Vorstellungen von guter Ordnung basierten: „Strittig war allein, welcher der beiden Salier die Kriterien erfüllte und den geteilten Werten und Idealen entsprach.“ (S. 68). Dass der Konflikt tiefere historische Wurzeln hatte, erweist der in die Jahre 1098–1103 zurückführende Beitrag von Daniel Brauch. Er diskutiert die engen Handlungsspielräume des Königssohns, dem wirkliche Gestaltungskraft erst in der Revolte zuwuchs.

Aus Studien zu den Reisegewohnheiten Heinrichs V. und in konsequenter Heranziehung der Herrscherdiplome entwirft Caspar Ehlers grundsätzliche Einsichten in hochmittelalterliche Herrschaftspraktiken und Raumerfassungen. Überraschend tritt in der Bevorzugung Lothringens und Frankens eine ausgeprägte Kontinuität zu den salischen Vorgängern hervor. Wichtig ist die Einsicht, dass sich der Salier eher auf Räume als auf Orte konzentrierte. Heinrichs Verbindungen zu frühstädtischen Eliten vor allem in rheinischen Bischofsstädten sind das Thema des Beitrags von Gabriel Zeilinger mit dem bemerkenswerten Fazit, dass der Kaiser „die städtischen Führungsgruppen der Kathedralstädte weniger konzeptionell als vielmehr punktuell einband oder auf deren Wünsche einging.“ (S. 118). Hätte man hier die sozialhistorische Analyse wirklich komplettieren wollen, wären Studien zur neuen Rolle der Reichsministerialität oder zu sozialen Schichtungen in Grundherrschaften am Platz gewesen.

Den religiösen Umbruch im frühen 12. Jahrhundert fängt Jens Lieven in seiner landesgeschichtlichen Spezialstudie zu Adel und Reform im Rheinland ein, welche die adlige Gründungswelle geistlicher Gemeinschaften aus regionalen Konkurrenzen und „nicht zuletzt als Mittel der sozialen Selbstbehauptung“ entwickelt (S. 136). In diesen Raum führt auch die Studie von Matthias Becher zu Karl dem Guten von Flandern als Thronkandidaten bei der Nachfolgeregelung 1125. Gegen die von der Narratio de electione Lotharii vorgenommene Eingrenzung auf Lothar von Sachsen, Friedrich von Schwaben und Leopold von Österreich wird die von Erzbischof Friedrich von Köln geförderte, letztlich erfolglose Bewerbung des flandrischen Grafen mit seinen besonderen Bindungen nach Westfalen gestellt.

Heinrichs Kaisertum und seinen Italienbezügen gelten vier Aufsätze. Wolf Zöller präsentiert die (gleichsam stellvertretenden) Exkommunikationen des neuen Kaisers durch Kuno und Guido als Zeugnis für die Pluralität der kurialen Meinungsbildung, die in ihrer Kritik Papst Paschalis II. nicht aussparte. In dichter Beschreibung stellt Jochen Johrendt Heinrichs Kaiserkrönung in weitere Traditionslinien, arbeitet aber auch die programmatischen Neuanfänge heraus, in denen sich Heinrich V. als Mitbürger der Römer präsentierte und später seine Tochter Bertha mit Graf Ptolomeo II. von Tusculum verheiratete. Für die Stadt Rom bildete Heinrichs Regierung ein wichtiges Scharnier auf dem Weg zur Eigenständigkeit zwischen den beiden universalen Gewalten. Florian Hartmann verlagert die Aufmerksamkeit von den vielfach beackerten Bologneser Juristen auf die Artisten und ihre Briefrhetorik. Textnahe Analysen erweisen die reformkirchliche Orientierung und die zunehmende Durchsetzung kommunalen Gedankenguts. Auf der Basis der neuen Diplomata-Edition erarbeitet Elke Goez ein prägnantes Bild der Bezüge Heinrichs V. zu Italien. Bei einer Regierungsdauer von insgesamt 18 Jahren und 9 Monaten verbrachte der Salier gerade einmal 3 Jahre und 2 Monate südlich der Alpen. Diese Kaiserferne provozierte dort einen regelrechten Schub von „italianità“. Gleichwohl gingen 37% der Herrscherurkunden an räumlich differenzierte Empfänger in Italien (wichtig das Wegbrechen Mailands und seiner engeren Umgebung). Allerdings wurden 98% dieser Diplome auf den beiden Italienzügen Heinrichs ausgestellt. Bemerkenswert war der Verzicht italienischer Empfänger auf Reisen über die Alpen, um sich eine Urkunde Heinrichs abzuholen. Dieser Kaiser interessierte nicht mehr als ferne Referenzgröße, sondern nur noch als erfahrbarer Reiseherrscher.

Am Ende wichtiger Einzelstudien verzichtet Gerhard Lubich auf eine bündelnde Zusammenfassung. Stattdessen führt er einzelne Linien in einem eigenen Beitrag über den gescheiterten Frankreich-Feldzug Heinrichs V. 1124 und die anschließende Belagerung der Bischofsstadt Worms zusammen. Am Ende brachen die integrierenden Kräfte weg. Weder der Kaiser noch die Fürsten repräsentierten nach dem Wormser Konkordat noch das Gemeinwesen. Kriegerischer „Westpolitik“ zog der Salier am Ende das Agieren im kleinen Raum vor. Damit schienen die Weichen für das imperiale Ende 1125 gestellt, nebenbei auch ein Herzensbekenntnis des Herausgebers dafür, wie er die Zukunft des 12. Jahrhunderts und die künftige Entfaltung der Mediävistik im 21. Jahrhundert beurteilt wissen möchte.

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