P.S. Fass (Hg.): The Routledge History of Childhood in the Western World

Titel
The Routledge History of Childhood in the Western World.


Herausgeber
Fass, Paula S.
Reihe
Routledge Histories
Erschienen
London 2012: Routledge
Anzahl Seiten
552 S.
Preis
£120.00 / € 123,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Krüger, Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“, Georg-August-Universität Göttingen

„The Routledge History of Childhood in the Western World“ verfolgt das Ziel, als Überblicksdarstellung und Standardwerk die erstmals 1960 publizierte „Geschichte der Kindheit“ von Philippe Ariès abzulösen und damit auch das Konzept einer zielgerichteten und einheitlichen Entwicklung hin zur „Moderne“ in Frage zu stellen.1 Um diesem Anliegen gerecht zu werden, nimmt der Band die Geschichte der Kindheit in der westlichen Moderne zeitlich, räumlich und konzeptionell gezielt auch von ihren Rändern her in den Blick, und zwar nicht nur indem es etwa je eigene Beiträge zu Straßenkindern (T. J. Gilfoyle), zu Kindern von Sklaven (S. Mintz) und ethnischen Mischlingen (A.F. Hyde) in den USA oder zur Kindheit in Lateinamerika (N. Milanich) gibt, sondern auch indem die meisten Beiträge auch Minderheiten oder geschlechterspezifische Unterschiede berücksichtigen.

Da hier nicht alle Beiträge behandelt werden können, geht diese Rezension zum einen einigen Themen und Thesen nach, die den Band durchziehen, und stellt zum anderen einige ausgewählte Aufsätze ausführlicher vor. Zuvor jedoch ein Blick auf die Gliederung: Der erste Teil des Bandes gibt mit vier Beiträgen einen Überblick über die Kindheit in den Epochen der Antike, des Mittelalters und der Aufklärung. Die dreizehn Beiträge des zweiten Teils beleuchten in einem systematischen Zugriff verschiedene Aspekte der Kindheit in der neuzeitlichen westlichen Welt. Die zehn Beiträge des dritten Teils schließlich widmen sich exemplarisch räumlich oder zeitlich spezifischen Phänomenen in der Geschichte der Kindheit, mit denen die allgemeinen Aussagen des zweiten Teils überprüft und differenziert werden können. Diese sinnvolle Gliederung verhindert nicht, dass sich Themengebiete verschiedener Beiträge mitunter überschneiden, doch stört dies kaum.

Zahlreiche Beiträge widerlegen vor allem die beiden wohl einflussreichsten Thesen von Ariès, dass erst in der „Moderne“ Kindheit als eigene Lebensphase aufgefasst worden sei und dass bis ins Mittelalter hinein emotionale Gleichgültigkeit die Sicht der Erwachsenen auf die Kinder bestimmt habe. Paula Fass betont in der Einleitung, dass es Kindesliebe sehr wohl schon vor Beginn der Moderne gab, während Grausamkeiten gegenüber Kindern nicht mit dieser endeten. Ersteres bestätigen sämtliche Beiträge des ersten Teils. Dennoch gehen die Interpretationen der Autorinnen und Autoren hier teilweise auseinander: Während sich Keith Bradley in seinem Artikel zur klassischen Antike gegen die These einer Fortschrittsgeschichte richtet, vor allem wenn diese mit dem Erstarken des Christentums begründet wird, argumentiert Margaret L. King in ihrem Beitrag zur Sicht von Kindern im antiken und mittelalterlichen Juden- und Christentum, dass Altes und Neues Testament durch eine allgemeine Aufwertung des Lebens auch die Wertschätzung von Kindern erhöht hätten.

Auch wenn Ariès’ These der „Erfindung der Kindheit“ in dem Band vielfach zurückgewiesen wird, heben doch viele Autoren hervor, dass sich das Verständnis von Kindheit um die Wende zum 19. Jahrhundert grundlegend verändert hat. War seit der Antike die Vorstellung verbreitet, Menschen würden bösartig geboren, setzte sich seit der Aufklärungszeit die Auffassung durch, Kinder seien unschuldig, schutzwürdig und formbar. Dieser Wandel schlug sich, wie zum Beispiel der emotionsgeschichtliche Beitrag von Peter Stearns zeigt, in der Wahrnehmung von Kindern ebenso wie in der Kindererziehung nieder. Erst jetzt wurde Spiel mit Kindern assoziiert und es entstand eine spezifische Kinderliteratur sowie allgemeiner eine spezifische kindliche Konsumkultur, so die Beiträge von Gary Cross, Maria Nikolajeva und Daniel Thomas Cook. Gleichzeitig trennte sich mit der zunehmenden Zahl von Schulen, Jugendorganisationen, Kinderzimmern und Spielplätzen die Welt der Kinder räumlich mehr und mehr von derjenigen der Erwachsenen, wie der Aufsatz von Marta Gutman verdeutlicht.

In ihrem Beitrag zu Eltern-Kind-Beziehungen zeichnet Julia Grant den Abbau von Hierarchien in der Familie nach: Während früher die Kinder den Eltern gedient hätten, verhalte es sich heute in der westlichen Welt eher umgekehrt. Außerdem analysiert Grant die Vorstellung, dass sich die zentrale Lebensaufgabe in der elterlichen Erzieherrolle erfüllen könne, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert zunächst für Väter herausbildete, bevor sie im 19. Jahrhundert das Ideal der Mutterrolle prägte.

Das von Beth Bailey behandelte Thema Sexualität ist aufgrund der Quellenlage besonders schwer zu fassen, da nicht nur Quellen aus der Hand von Kindern rar sind, sondern auch das Thema selbst mit besonderen Schweigeregeln belegt war. Erst als sich seit dem 18. Jahrhundert die Vorstellung kindlicher Unschuld verbreitete, so Bailey, wurde die Konfrontation von Kindern mit Sexualität als Problem betrachtet, und es setzten verstärkte Bemühungen ein, diese zu verhindern.

Zentral für die Beiträge zur Schule (S. Lassonde), zu Pfadfindern (J. Mechling), zum Verhältnis des Staates zu Kindern (J. Schmidt) und zu Räumen der Kindheit sind die Widersprüche zwischen einem immer mächtiger werdenden Ideal der freien Selbstentfaltung einerseits und dem Streben der Erwachsenenwelt, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu normieren und zu kontrollieren andererseits. Während andere soziale Gruppen mehr und mehr Teilhabe erlangten, wurden Kinder immer weiter vom öffentlichen und politischen Leben ausgeschlossen. Für den Staat sei dadurch eine paradoxe Situation entstanden, weil er einerseits die Kinder beispielsweise mit der Schulpflicht in ihren Freiheiten beschränkte, er sie andererseits gerade dadurch auf die staatliche Teilhabe vorzubereiten versuchte, so der Aufsatz von Lassonde.

Als Gründe für den starken Rückgang von Kinderarbeit nennt Colin Heywood neben staatlichen Regulierungsversuchen die Rolle aufklärerischer Erziehungsideale sowie die abnehmende wirtschaftliche Not, welche das zusätzliche Einkommen von Kindern für viele Eltern entbehrlich machte. Unter Historikern, so Heywood, bleibt die Bewertung der Kinderarbeit allerdings umstritten. Gegner staatlicher Wohlfahrt und staatlicher Intervention ins Wirtschaftsleben sehen das Verbot von Kinderarbeit kritisch, da es einen in ihren Augen schädlichen Eingriff in die Selbstregulierung des ökonomischen Marktes dargestellt, das Einkommen von Arbeiterfamilien reduziert und die Möglichkeiten zur praxisnahen Berufsausbildung eingeschränkt habe.

Die Beiträge zur Kindheit im Krieg (J. Marten), im Nationalsozialismus (D. Schumann) und in der „Great Depression“ (K. Lindemeyer) ebenso wie derjenige zu internationalen humanitären Bemühungen zum Wohl von Kindern (D. Marshall) betonen, dass Kriegs- und Krisenzeiten für Kinder teilweise ambivalenter Natur waren. Brachten sie einerseits vielfach Leid und Not, konnten sie andererseits auch neue Chancen und Handlungsspielräume eröffnen. Die gezwungene und freiwillige Teilnahme von Kindern an den Kriegsanstrengungen, ob als Kombattanten oder als Helfer in der Armee oder der Heimat, erweiterte ihre Teilhabe an der Erwachsenenwelt, was viele von ihnen anstrebten und schätzten. Wie für Kriegszeiten war auch für die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur die Vielfalt verschiedener Kindheitsverläufe gleichermaßen charakteristisch wie die Doppelgesichtigkeit des Erziehungssystems, das einerseits auf Exklusivität und Zwang beruhte, andererseits eine hohe Attraktivität auf viele Kinder und Jugendliche ausübte.

Ebenso wie auch die während Kriegszeiten oftmals verstärkten Wohlfahrtseinrichtungen für Kinder vielfach nach Kriegsende fortgeführt wurden, brachte die Weltwirtschaftskrise in den USA zahlreiche sozialstaatliche Verbesserungen für Kinder mit sich. Die Angst, in der Krisenzeit könne eine „verlorene Generation“ heranwachsen, führte hier außerdem dazu, dass Ausbildungsmöglichkeiten erweitert wurden und sich das Bildungssystem sozial öffnete.

Der Band bemüht sich allgemein, die „westliche Welt“ im Ganzen zu betrachten, doch bei vielen Autoren liegt ein eindeutiger Schwerpunkt auf der US-amerikanischen Geschichte. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass zahlreiche Beiträge zu sehr aktuellen Themen Stellung beziehen – so etwa derjenige zu Kindsmord und Abtreibung in Schweden (I. Jablonka) oder der stark auf die Fotografie konzentrierte Aufsatz zu bildlichen Darstellungen von Kindern (A. Higonnet), der unter anderem danach fragt, inwiefern sich die Praxis, Embryos bereits in der Schwangerschaft per Ultraschall abzubilden, auf die Definition menschlichen Lebens auswirkt.

Die Beiträge erfüllen den von der Herausgeberin Paula Fass erhobenen Anspruch, gleichzeitig als selbstständige Forschungsbeiträge wie auch als Überblicksartikel gelesen werden zu können. Hilfreich sind auch die kommentierten Bibliographien, mit denen alle Beiträge ausgestattet sind. In vielen Fällen führen sie allerdings nur oder fast nur englisch-sprachige Titel auf. Alles in allem liefert der Band ein umfassendes Bild der aktuellen Forschung zur Geschichte der Kindheit in Nordamerika und Europa. Ihm ist eine große Leserschaft zu wünschen.

Anmerkung:
1 Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, 10. Aufl., München 1992.

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