J. Johrendt (Hrsg.): Rom – Nabel der Welt

Cover
Titel
Rom - Nabel der Welt. Macht, Glaube, Kultur von der Antike bis heute


Herausgeber
Johrendt, Jochen; Schmitz-Esser, Romedio
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinz-Jürgen Schulz-Koppe, Köln

Die elf Beiträge dieses Buches gehen auf eine Vortragsreihe am Historischen Seminar der Ludwigs-Maximilians-Universität München zurück, die im Sommersemester 2009 stattfand. Die Aufsätze spannen „einen chronologischen Bogen vom antiken Zentrum des imperium Romanum bis zum Rom unserer Tage“ (S. 7). Da Rom eine „besondere“ Stadt mit „Entwicklungen von allgemeiner Tragweite“ ist, kann es sich nicht „um eine klassische Stadtgeschichte“ handeln (S. 7). Das Buch widmet sich dem Thema auf ganz unterschiedlichen Ebenen: die Bedeutung Roms als Hauptstadt des Imperium in der Antike; die Plünderung Roms 410 n.Chr. „als sichtbarster Ausdruck dieses Niedergangs“ in der Spätantike (S. 8) und die neue Bedeutung Roms als Sitz des Kaisertums; der Aufstieg von St. Peter durch „die Rolle der Peterskanoniker“ (S. 9); Rom als Sitz des Papsttums; die Verbindung der beiden Universalgewalten Papsttum und Kaisertum mit der Stadt; die Erfassung der Stadt Rom durch die kommunale Bewegung der norditalienischen Städte; der Einzug der Renaissance und Rom als „Zentrum humanistischer Bildung“ (S. 11); Rom als Zentrum „der europäischen Kunstgeschichte“ (S. 11) im 16./17. Jahrhundert; das Verhältnis der Deutschen zur Stadt Rom in der frühen Neuzeit und im 18./19. Jahrhundert; die „Instrumentalisierung ihrer Geschichte“ (S. 12) durch den Faschismus; Rom als herausragender Pilgerort; die Schattenseiten Roms, die als eine wilde, „grausame Stadt“ verstanden wird – so der Titel des letzten Aufsatzes, in dem ein Bogen von der dritten Satire des Juvenal bis zu zwei modernen romkritischen Romanen geschlagen wird. Diese Themenbereiche sind allerdings nicht mit den einzelnen Aufsätzen identisch.

Das Buch richtet sich an „ein breiteres Publikum“; gleichzeitig soll „ein Einblick in Aspekte der aktuellen Romforschung ermöglicht werden“ (S. 13). Zudem soll auch der „Charakter eines Lesebuchs“ (S. 13) beibehalten werden, wobei die Aufsätze unterschiedlich interessant und anspruchsvoll sind. Am Ende eines jeden Beitrags werden einige Hinweise zu den Quellen und zur wissenschaftlichen Literatur gegeben. Außerdem enthält das Buch 18 Schwarz-weiß-Abbildungen. Manch ein Leser wird wahrscheinlich eine nähere Thematisierung bestimmter Bereiche vermissen. So sagen die Herausgeber selbst bedauernd, dass „von den kunsthistorischen Beiträgen zur Vortragsreihe kein Aufsatz seinen Weg in diesen Band geschafft“ (S. 14) hat. Dass auf kunstgeschichtliche Aspekte nicht eingegangen wird, ist für ein Rombuch tatsächlich sträflich. Aber Rom und seine Bedeutung sind so gewaltig, dass auch eine größere Anzahl von Beiträgen und ein umfangreicheres Buch wahrscheinlich nicht alle Aspekte hätten abdecken können.

Der erste Aufsatz von Martin Zimmermann („Das antike Rom – Zentrum und Spiegel der Welt“, S. 7–32) widmet sich dem antiken Rom, das noch im 2. vorchristlichen Jahrhundert „alles andere als beeindruckend“ (S. 19) war, in der Kaiserzeit dann zwar mit „großartigen öffentlichen Bauten“ (S. 21) ausgestattet war, andererseits aber chaotische Wohnviertel aufwies. Auch auf die Frage, inwiefern es „so etwas wie eine multikulturelle Gesellschaft“ (S. 23) gab, wird eingegangen. Zimmermann untersucht, wie groß der Anteil der Fremden war, wie Integration funktionierte, in welchen Formen sich die „Staatsideologie“ (S. 29) artikuliert hat und welche „Spektakel römischer Macht“ (S. 30) es gab. Ausdrücklich wird der „beißende Spott, mit dem Juvenal die gesellschaftliche Realität in der Stadt Rom überschüttet“ (S. 28), erwähnt und mit einigen Beispielen aufgezeigt.

Juvenal ist auch der Ausgangspunkt des letzten, schon erwähnten Aufsatzes „Die grausame Stadt. Ein Motiv der Rombeschreibung von der Antike bis zum 21. Jahrhundert“ von Claudia Märtl (S. 191–206): „In Juvenals dritter Satire vermischt sich die Kritik an sozialen Entwicklungen im Rom der frühen Kaiserzeit mit einer Schilderung der Probleme des Großstadtlebens; Wohnverhältnisse, Lärm, Schmutz, Verkehr, Unsicherheit geraten so in den Blick“ (S. 193). Allerdings ist der Titel „Die grausame Stadt“ nicht ganz zutreffend – Märtl bezieht sich damit wohl auf saevae urbis (sat. 3,8–9), was auch anders übersetzt werden könnte. Die von Märtl vorgestellten Besucher der Stadt bestätigen dieses Bild nicht unmittelbar, denn aus „der Großstadtsatire Juvenals ist bei dem englischen Kleriker Alexander Neckam eine moralisch-religiös aufgeladene Kritik der Kurie geworden“ (S. 195), während Magister Gregorius im späten 13. Jahrhundert der erste war, „der den nachmals so verbreiteten selektiven, auf die Antike beschränkten Blick auf Rom praktizierte“ (S. 196). Als wirkmächtigsten „Vertreter einer selektiven Wahrnehmung Roms“ (S. 196) nennt sie dann Petrarca, wobei sie allerdings keinen Stellenhinweis gibt. Mit zwei Kriminalromanen moderner italienischer Autoren, nämlich von Carlo Emilio Gadda (1957) und M. G. Mazzucco (2005) „kehrt die Betrachtung gewissermaßen wieder zu dem Großstadtliteraten Juvenal und zu Schauplätzen zurück, von denen bei ihm schon die Rede war“ (S. 199) – ein vielleicht etwas überraschender, aber zumindest interessanter Bogenschlag über fast zwei Jahrtausende hinüber. Der Roman von Gadda, „Quer pasticciaccio brutto de via Merulana“ (übersetzt unter dem Titel „Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana“ von Toni Kienlechner), spielt 1927, also zur Zeit des Faschismus, und ist voll von Anspielungen auf Mussolini und seine Herrschaft und „kann überhaupt als sarkastischer Kommentar zur faschistischen Romideologie gelesen werden“ (S. 200).

„Rom unter dem Faschismus“ ist der zweite Teil des Titels „Eine Hauptstadt für ein Imperium“ (S. 173–189) von Martin Baumeister, wobei Rom „zunächst keinen positiven Bezugspunkt“ (S. 175) für Mussolini und seine Bewegung darstellte, die 1919 in Mailand gegründet worden war. Aber nach dem „Marsch auf Rom“ 1922 wurde die Stadt „zum zentralen Ort der Selbstinszenierung des Regimes und des faschistischen ‚Liktorenkultes‘, zur Aufmarsch- und Paradebühne“ (S. 174). „Der Natale di Roma am 21. April“ (S. 176) wurde der zentrale faschistische Festtag, Rom wurde „vom faschistischen Baufieber erfasst“ (S. 178), der Duce wurde „zum Inbegriff des Römers stilisiert“ (S. 178); es kam sogar zu einer „Erhöhung Mussolinis zu einem neuen Augustus“ (S. 182). Baumeister stellt fest, dass eine „Verschränkung von Archäologie und Politik nach dem Prinzip der Simultanität von klassischer Antike und faschistischer Gegenwart“ (S. 181) stattfand. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die ‚Ewige Stadt‘ „in ihrem gegenwärtigen Erscheinungsbild wesentlich durch die Eingriffe und baulichen Aktivitäten aus faschistischer Zeit geprägt“ (S. 187) ist und dass „faschistische Symbole wie Liktorenbündel“ auch heute noch erkennbare „Spuren an manchen Fassaden“ (S. 186) hinterlassen haben.

Fünf Aufsätze und damit fast die Hälfte der Beiträge zu diesem Buch beschäftigen sich mit dem weiten Feld des Papsttums, der Kurie und der Päpste, die zwar den Anspruch hatten, die oberste Instanz der Christenheit zu sein, die aber auch im Spannungsfeld zwischen Klerus, dem Adel Roms mit seinen mächtigen Familien und den Kaisern, die sowohl Gegner als auch Schutzherren sein konnten, standen. Dass Religion und Politik immer zusammengehören, ist eine triviale Feststellung. So war der Papst auch Stadtherr von Rom und sah sich, wie es in der Stadtgeschichte ganz Europas der Fall war, einer städtischen Bewegung gegenüber, die „sich von dem Bischof des Abendlandes schlechthin, dem Papst emanzipieren“ musste, „wollte sie ein eigenständiges Regime errichten“, wie Romedio Schmitz-Esser in seinem Aufsatz „Erneuerung aus eigener Kraft? Die Entstehung der Römischen Kommune im 12. Jahrhundert“ (S. 67–85) schreibt (S. 67). Dass es bei diesen Auseinandersetzungen nicht zimperlich zuging, zeigt eine Episode aus der Zeit Ottos III., der wie viele andere Kaiser vor und nach ihm als Schutzherr der römischen Kirche in innerrömische Verhältnisse eingriff. Otto hatte seinen Vetter, der erst 24 Jahre alt war, nach Rom schicken und ihn als Gregor V. zum Papst erheben lassen (er war der erste deutsche Papst), der dann seinerseits Otto zum Imperator Romanorum gekrönt hatte. Gleichzeitig war in Rom die Familie der Crescentier, die kaiserfeindlich eingestellt war, zur Stadtherrschaft gelangt und hatte im 10. und 11. Jahrhundert großen Einfluss auf das Papsttum, nachdem vorher die adlige Familie der Colonna eine führende Rolle in der Stadt gespielt hatte. Crescentius, „der Exponent der römischen Führungsschicht“, so Knut Görich (S. 54) in seinem Beitrag „Aurea Roma: Kaiser, Papst und Rom um das Jahr 1000“ (S. 49–66), vertrieb aber diesen vom Kaiser eingesetzten Papst und setzte einen eigenen Kandidaten Johannes XVI. als Gegenpapst ein, denn die „Mächtigen Roms wollten sich den Einfluss nicht nehmen lassen, den sie traditionell auf die Besetzung des Papstamtes ausübten“ (S. 54). Otto fühlte sich herausgefordert und kehrte nach Rom zurück. Bei seiner Ankunft verschanzte sich Crescentius in der Engelsburg. Johannes XVI. wurde geblendet und verstümmelt, förmlich abgesetzt, der Schandstrafe eines Eselsrittes ausgesetzt und bis zu seinem Tod in einem römischen Kloster inhaftiert. Die Engelsburg wurde erstürmt, Crescentius gefangen genommen und später decollatus suspensus (S. 56). Aber auch damit war die Ruhe in Rom noch nicht wiederhergestellt: der Sohn des Hingerichteten, Johannes, beherrschte Rom. Er bestimmte die nachfolgenden Päpste: Johannes XVII. (1003), Johannes XVIII. (1003/04–1009) und Sergius IV. (1009–1012). Als Johannes Crescentius 1012 starb, konnten die Crescentier ihre seitherige Machtstellung in Rom nicht mehr behaupten. Ihr Platz blieb jedoch nicht unbesetzt: er wurde von den Tusculanern eingenommen, die nacheinander drei Angehörige ihres Hauses zu Päpsten machten.1

Der spannendste und interessanteste Aufsatz, zumindest für den Rezensenten, stellt Jochen Johrendts „Alle Wege führen nach Rom. Zur Erfindung des Ersten Heiligen Jahres (1300)“ (S. 86–101) dar, der auf die Habilitationsschrift des Autors zurückgeht.2 Johrendt stellt fest, dass der „Ursprung des Heiligen Jahres […] im Jahre 1300 zu suchen“ (S. 88) ist und fragt, wie es zu seiner Einführung gekommen ist, ob es tatsächlich auf den Papst Bonifaz VIII., der es verkündete, zurückzuführen ist und „wer die eigentlichen Nutznießer“ (S. 89) waren. Es ist interessant zu sehen, dass die Konstituierung von etwas „Heiligem“ auf bestimmte Interessen, auf Konkurrenzdenken und Taktiken zurückzuführen ist und konstruiert worden ist, wie ja auch das Wort „Erfindung“ im Titel des Aufsatzes ausdrückt. Dabei spielte auch der „Druck der Straße“ (S. 94) und die „vox populi“ (S. 92) eine große Rolle, denn zahlreiche Pilger strömten in die Stadt; im „13. Jahrhundert wurde dann auch zunehmend der Ablass, den man in Rom erwerben konnte, zu einem Motiv für die Rompilgerfahrt“ (S. 88). Es ging aber auch darum, „welche der römischen Kirchen sich als Mutter und Haupt aller Kirchen, als mater et caput ecclesiarum“ (S. 98) bezeichnen konnte. Letztlich setzten sich S. Giovanni und die Peterskirche im Vatikan um die Vorrangstellung auseinander. Das „eigentliche Argument für die Vorrangstellung der Peterskirche war das Bibelwort aus Matthäus 16,18: ‚Du bist Petrus und auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen‘“ (S. 99). Hierbei spielten die Peterskanoniker eine entscheidende Rolle, so dass allmählich die beherrschende Stellung der Lateranbasilika aufgebrochen wurde und sich die Gewichte zugunsten von St. Peter verschoben. Diese Bibelstelle war das kräftigste Argument, das es überhaupt nur geben konnte. „Nicht verwaltungstechnisch, aufgrund von Reliquienerwerb durch Menschenhand oder durch kaiserlichen Willen war man die Kirche aller Kirchen, sondern durch Gottes Willen, durch sein Wort an den Apostelfürsten.“ (S. 99)3

Der letzte Absatz des Aufsatzes fasst diese „Erfindung“ sehr prägnant zusammen: Trennt man die Entstehung des Jubeljahres von seiner Wahrnehmung und Deutung, so stellt sich das Jubeljahr vor allem als ein Triumph des Peterskapitels über das Laterankapitel dar, mit dem es bereits seit Beginn des 13. Jahrhunderts um Ablässe und die Vorrangstellung in urbs und orbis konkurrierte. Im Konflikt der römischen Kapitel um die Vorrangstellung in der Ewigen Stadt dürfte das Epoche machende Ereignis seinen Ursprung haben. Das Konzept eines Plenarablasses kannten die Peterskanoniker aus S. Maria in Collemaggio bestens und setzten es für ihre eigene Kirche ein. Scheinbar päpstliche Weltpolitik ist durch lokale Interessenlagen zu erklären, wobei die ökonomischen Aspekte sicherlich nicht zu vernachlässigen sind. Dabei ist nicht zu klären, ob es sich von vornherein um eine Idee der Peterskanoniker handelte, ob sie ein ihnen aus S. Maria in Collemaggio bekanntes Modell für ihre eigene Kirche einsetzen wollten und die aufkommenden Gerüchte darüber selbst streuten oder diese nur geschickt für ihre eigene Sache zu nutzen wussten. Doch sind sie ohne Frage die treibende Kraft gewesen. Durch das Jubeljahr war es den Dienern des Apostelfürsten, den servitores ecclesiae beati Petri gelungen, sich deutlich vom Laterankapitel abzusetzen und sich – zumindest auf Zeit – unangefochten an die Spitze der römischen Sakraltopographie zu setzen. Die Pilgermassen des orbis stellten die Peterskirche über alle anderen Kirchen der urbs. Die lokalen Ansprüche des Peterskapitels waren durch die globale Wirkung des Jubeljahres erfüllt worden (S. 100). Die „Erfindung“ war so erfolgreich, dass neue niedere Klerikerstellen geschaffen wurden, um der Pilgerscharen Herr zu werden, liturgische Dienste zu gewährleisten und die Spendeneinnahmen zu verwalten. Wenn man so will, handelte es sich bei der „Erfindung“ des Heiligen Jahres also auch um eine Art Arbeitsplatzpolitik und Wirtschaftsförderung.

Der Leser erfährt in diesem Buch einiges Weitere über Rom, das etwa auch durch Wissenschaft und Bildung herausragte („Roma docta“, S. 117), über „Szenen einer schwierigen Beziehung“ zwischen Rom und den Deutschen und über eine „deutsch-römische Idylle des späten 19. Jahrhunderts“ (S. 155) mit Franz Liszt und Nadine Helbigs Musiksalon; es ist auf jeden Fall ein Lesebuch, aber das ultimative Rombuch ist es sicherlich nicht. Dennoch hat man Lust, darin zu stöbern.

Anmerkungen:
1 Vgl. Rudolf Fischer-Wollpert, Lexikon der Päpste, Wiesbaden 2003, S. 178.
2 Jochen Johrendt, Die Diener des Apostelfürsten, Berlin 2011.
3 In dem lesenswerten Aufsatz „Rom. Hort des wahren Glaubens“ von Sebastian Scholz (S. 33–47) wird diese Bibelstelle mit ihren Konsequenzen näher untersucht.

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