A. Burdumy: Sozialpolitik und Repression in der DDR

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Titel
Sozialpolitik und Repression in der DDR. Ost-Berlin 1971–1989


Autor(en)
Burdumy, Alexander
Erschienen
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Die Sozialpolitik stellt einen zentralen Parameter staatlichen Handelns dar. Das Volumen der eingesetzten Finanzmittel lässt erkennen, inwieweit eine Regierung sich dem Prinzip der materiellen Umverteilung verpflichtet fühlt; die geförderten Segmente der Sozialpolitik geben Auskunft darüber, auf welche Bevölkerungsgruppen sich die staatliche Aufmerksamkeit konzentriert. Für die DDR mit ihrem egalitären Anspruch spielte die Sozialpolitik eine herausragende Rolle, allerdings unterlag sie Wandlungen. In der Gründungsphase wurde sie stark von dem Bestreben diktiert, die Nachkriegsnot zu überwinden. Im Kalten Krieg wurde sie zunehmend durch die Konkurrenz zur Bundesrepublik überlagert, ehe der Mauerbau diesen Aspekt in den Hintergrund treten ließ. Ab 1971 unter Erich Honecker propagierte die Partei- und Staatsführung die „Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ und baute die staatlichen Leistungen deutlich aus, ein Konzept, das bis zum Zusammenbruch der DDR beibehalten wurde.

Mit der deutschen Vereinigung setzte ein Forschungsboom auf nahezu allen Feldern der Sozialpolitik ein, so dass die Sicherungssysteme der DDR en détail vermessen wurden. Höhepunkt der Aufarbeitungsbemühungen dürfte das von Bundesarbeitsministerium und Bundesarchiv lancierte, interdisziplinäre Großprojekt „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ sein. Drei seiner elf Bände sind allein der DDR gewidmet.1

Angesichts der komplexen und intensiv untersuchten Thematik tut Alexander Burdumy in seiner Birminghamer Dissertation gut daran, sich auf die Familien-, Alten-, Gesundheits- und Wohnungspolitik Berlins in der Ära Honecker zu fokussieren. Die räumliche Beschränkung begründet er jedoch wenig überzeugend: „Der Ostteil der Stadt besaß als eigenständiger Bezirk feste Grenzen und war territorial begrenzt, wodurch er sich besonders für eine Untersuchung eignet.“ (S. 40) Zentrales Anliegen des Autors ist es, herauszuarbeiten, „welchen Beitrag die Sozialpolitik Honeckers zur Stabilisierung der DDR leisten konnte und welchen Effekt sie im Bezirk Berlin auf die Bevölkerung hatte“ (S. 31). Als mikrohistorische Studie angelegt, stützt sich das Werk auf Bestände des Bundesarchivs, des Landesarchivs Berlin und der Stasi-Unterlagen-Behörde des Bundes (BStU). In den ersten drei Kapiteln gibt Burdumy einen Überblick über die einschlägige Fachliteratur, erörtert die theoretischen Grundlagen der Wohlfahrtsstaatsforschung und legt die sozialpolitischen Prämissen der SED-Politik von der Staatsgründung bis zum Mauerfall dar. Nach diesen eher allgemein gehaltenen Ausführungen, wendet er sich im vierten Kapitel konkret der Ost-Berliner Sozialpolitik zu.

In der Familienpolitik war ab 1971 zunächst ein sehr starker Ausbau der Kinderkrippenplätze zu verzeichnen. Dieser sollte einen hohen Beschäftigungsstand von Frauen ermöglichen. Im Rahmen einer pro-natalistischen Familienpolitik wurden, je nach Kinderzahl, die Urlaubstage erhöht, großzügige Freistellungen in der Schwangerschaft, nach der Geburt sowie zur Pflege kranker Kinder gewährt und besonders günstige Teilzeitmodelle für Mütter vorgesehen. Trotz Lockerung der Regelungen für Schwangerschaftsabbruch stiegen die Geburtenzahlen in den 1980er-Jahren auf etwa 1,9 Kinder pro Frau über das Niveau der Bundesrepublik (ca. 1,5 Kinder pro Frau). Die Säuglingssterblichkeit war beeindruckend niedrig. Insgesamt konstatiert Burdumy, dass die Gleichberechtigung der Frau im beruflichen Alltag in der DDR sehr weit fortgeschritten war und „es klar mehr Frauen in traditionellen ‚Männerberufen’ gab als vergleichsweise im Westen“ (S.113). Auch seien die familienpolitischen Ziele der SED „mit den Wünschen der Bürger kongruent“ gewesen (S. 118).

Sehr viel schlechter war es um die Rentenpolitik bestellt, da viele alte Menschen wegen des niedrigen Rentenniveaus „unmittelbar an der Armutsgrenze“ lebten (S. 123). Nur privilegierte Gruppen, wie die Verfolgten des Naziregimes oder Angehörige der Intelligenz, erhielten ungleich höhere Altersbezüge. Zwar gelang unter der Regie Honeckers eine Verdreifachung der Bettenzahl in den sog. „Feierabendheimen“. Doch waren die Zustände dort (mit Blick auf die Bausubstanz, Ausstattung, Hygiene und Betreuung) teilweise menschenunwürdig. In Ost-Berlin war der Versorgungsgrad mit Heimplätzen höher als in den übrigen Bezirken. Dennoch hätten die Rentner zu den „Verlierern“ des DDR-Wohlfahrtsstaates gehört, (S. 134) da sie – ähnlich wie die schwer behinderten Kinder – „in den Augen der Wirtschaftsplaner keinen Nutzen besaßen und nur Kosten verursachten“ (S. 143). Die Möglichkeit zu Westreisen sei als zynisches Signal der SED an die Senioren zu verstehen: „Wir brauchen euch nicht, wir wollen euch nicht, ihr seid uns nur eine Last.“ (S. 137)

Das Gesundheitssystem der DDR war durch arbeitsmedizinische Prävention, ein ambulantes Hausarztsystem sowie moderne Polykliniken gekennzeichnet. Ost-Berlin nahm dabei eine zentrale Position ein. Neben der international renommierten Charité ist das städtische Klinikum Buch zu erwähnen, das 1974 mit 3.600 Mitarbeitern die größte Krankenhauseinrichtung Europas darstellte. Mit der Konzentration von Klinika sollten Synergieeffekte erzielt werden, da die Anschaffung von hochwertiger Medizintechnik teuer war und meist den Einsatz von Divisen erforderte. Sparzwänge und Versorgungsengpässe prägten den Alltag. Hinzu traten Fluktuation, schlechte Ausbildung und geringe Motivation des Klinikpersonals sowie eine Ärzteschaft, die dem Sozialismus überwiegend skeptisch gegenüberstand. Dennoch war die Bettenversorgung in etwa mit der der Bundesrepublik vergleichbar, an Effizienz – so Burdumy – sei das DDR-Gesundheitswesen sogar überlegen gewesen (S. 177).

Der Wohnungsbau bildete das Kernstück der Sozialpolitik in der Ära Honecker und wurde stark forciert, sodass eine „Aufbruchstimmung“ entstand (S. 196). Dies galt insbesondere für Berlin als „Lieblingskind“ des Parteichefs und „Fenster zum Westen“ mit vielen Prestigeprojekten wie dem „Palast der Republik“ oder der Restaurierung des Nikolaiviertels. Trabantenstädte im Plattenbaustil mit extrem niedrigen Mieten entstanden, die bei den Bewohnern überwiegend Anklang fanden (S. 248). Problemen, die durch Misswirtschaft oder fehlende Materialien auftraten, wollte man durch Prämien, den Einsatz von FDJ-Brigaden oder den extra ins Leben gerufenen „Tag des Bauarbeiters“ begegnen. Insgesamt resümiert Burdumy nach differenzierter Erörterung: „Das Wohnungsbauprogramm der DDR hatte seine Schwächen und erreichte die sich selbst gesetzten Produktionszahlen nie, war aber […] doch in der Lage, die Bürger in Ost-Berlin, mit adäquatem Wohnraum zu versorgen.“ (S. 250)

In den Kapiteln 5 bis 7 wendet sich die Studie ökonomischen Problemen der Makroebene zu, die nachfolgend thesenartig zusammengefasst werden sollen. Demnach hätte die umfangreiche Sozialpolitik Honeckers in den 1970er-Jahren große Akzeptanz in der Bevölkerung genossen, ehe die jüngere Generation in den 1980er-Jahren durch immer höher geschraubte Ansprüche, die sich am Lebensstandard der Bundesrepublik orientierten, eine Fortsetzung der „erkauften“ Erfolge quasi unbezahlbar machten. Neben der Ineffektivität der Planwirtschaft und gewaltigen Subventionsausgaben sei auch der Rüstungsetat für Verschuldung und wirtschaftlichen Kollaps der DDR verantwortlich. Die Sozialpolitik habe zwar das System stabilisiert, für den Zusammenbruch insgesamt aber eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Zudem werde die Allmacht der Stasi überschätzt, da sie in der Endphase der DDR personell aufgebläht und nur noch eingeschränkt handlungsfähig gewesen sei. Die Untersuchung endet mit einer Auswahlbibliographie und einem Abbildungsverzeichnis.

Sieht man von einigen Ungenauigkeiten ab2, so fällt auf, dass das Titelthema „Repression“ – von gelegentlichen Ausführungen zum MfS abgesehen – nicht behandelt wird. Außerdem werden wichtige Akteure der DDR-Sozialpolitik mit keinem Wort erwähnt, obwohl Caritas, Innere Mission, Volkssolidarität und Deutsches Rotes Kreuz wesentliche Beiträge zur Versorgung der Menschen leisteten. Zu kurz kommt die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in der DDR. Auch wird man nicht allen Einschätzungen des Autors vorbehaltlos zustimmen können, zum Beispiel „dass die Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung für viele Frauen in der DDR wesentlich größer waren als beispielsweise in der BRD“ (S. 336). Doch gehört die Formulierung von anregenden, mitunter provokanten Thesen zu den Stärken der Studie, der das Verdienst zukommt, die Wechselwirkung von staatlichem Handeln, sozialistischer Ökonomie und DDR-Bevölkerung anhand von Bürgereingaben und Stimmungsberichten des MfS stärker in den Fokus gerückt zu haben.

Anmerkungen:
1 Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Hrsg. vom Bundesarbeitsministerium und Bundesarchiv. 11 Bde., Baden-Baden 2001–2008.
2 Honecker lenkte die Politik der DDR nicht „bis kurz nach dem Mauerfall“ (S. 8), sondern nur bis zum 18. Oktober 1989. Groß-Berlin bestand 1949 nicht aus 8 (S. 40), sondern aus 20 Bezirken. Der wiederholt als „Hockert“ titulierte Historiker (S. 227, 315, 353) heißt Hockerts. Wenn explizit vor Werken „PDS- und Marxismus-naher Historiker“ gewarnt wird (S. 28), sollten diese in Fußnoten und Literaturverzeichnis vollständig ausgewiesen werden.

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