C.H. Church u.a.: A Concise History of Switzerland

Cover
Titel
A Concise History of Switzerland.


Autor(en)
Church, Clive H.; Head, Randolph C.
Reihe
Cambridge Concise Histories
Erschienen
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 22,50
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Philippe Rogger, Historisches Institut, Universität Bern

Das gesteigerte Interesse an Schweizer Nationalgeschichte ist inzwischen zum einträglichen Geschäft für Verlage und Historiker und Historikerinnen geworden. Zahlreiche Publikationen sind in den letzten Jahren erschienen und erreichten zuweilen mehrere Auflagen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der eidgenössischen Vergangenheit ist indessen eine schwergewichtig deutsch- und französischsprachige Angelegenheit. Da die wissenschaftlichen Diskurse – zumal diejenigen mit einer transnationalen Perspektive – immer häufiger auch von der Historikerzunft auf Englisch geführt werden, läuft die Schweizer Geschichte zunehmend Gefahr, gänzlich aus dem Blickfeld der internationalen scientific community zu fallen. Die auf Englisch verfasste solide Übersichtsdarstellung der beiden in Fachkreisen bekannten Spezialisten Clive H. Church, emeritierter Professor für Europäische Studien an der Universität von Kent, und Randolph C. Head, Professor für Europäische Geschichte an der Universität von Kalifornien Riverside, ist aus diesem Grund sehr zu begrüßen.

Über die Frage, weshalb der renommierte englische Verlag Cambridge University Press zum jetzigen Zeitpunkt einen Band über die Schweiz und ihre Geschichte in seiner Reihe Cambridge Concise Histories herausgibt, lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Nicht ganz abwegig dürfte die Vermutung sein, dass angesichts der aktuellen Probleme in der Europäischen Union ein vertieftes Nachdenken über die Schweizer Geschichte auch von einem nicht-schweizerischen Publikum vermehrt als gewinnbringend betrachtet wird. Die Antwort auf die von den Autoren im Einleitungskapitel aufgeworfene Frage, warum eine Beschäftigung mit der Geschichte der Schweiz für moderne Leser lohnend sein kann, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: „One reason might be that for thinkers from Jean-Jacques Rousseau in the eighteenth century to various political theorists in the twentieth, Switzerland seemed to provide a useful model for the political organization of an often violent Europe […] More modestly, we can say that in addition to appealing to those interested in understanding the – often ignored and misconstructed – Swiss of today through their past, Switzerland’s history also helps us to broaden our understanding of the full range of political possibilities available to Europeans through centuries.“ (S. 3f.)

Der aufklärerische Impetus der Studie ist evident, doch ist Aufklärung hier im besten Sinn zu verstehen. Denn Church und Head geht es mitnichten darum, die Geschichte der Schweiz als harmonische Erfolgsgeschichte ohne größere Zwischenfälle zu erzählen. In der pluralen schweizerischen Gesellschaft sind ohne Frage genügend Bruchlinien auszumachen, um die häufig überbetonte Kontinuität der Schweizer Geschichte von den ersten Bündnisschlüssen 1291 bis zur Gründung des Bundesstaats 1848 zu relativieren. Folglich ziehen sich die mitunter gewaltsam ausgetragenen Konflikte zwischen Stadt und Land, den verschiedenen Kultur- und Sprachregionen, den Konfessionen, Obrigkeiten und Untertanen, Patriziern und Stadtbürgern, Liberalen und Konservativen, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, linken und rechten Parteien, neuen sozialen Bewegungen und institutioneller Politik etc. um Macht, Einfluss und ökonomische Ressourcen wie ein Leitfaden durch die Erzählung. Church und Head belassen es aber nicht dabei, lediglich die Folgen dieser Brüche auf Politik und Gesellschaft zu benennen. Gleichermaßen stellen sie auch die Frage nach dem Kitt dieser in mehrfacher Hinsicht gespaltenen Gesellschaft. Ein Augenmerk der Studie liegt deshalb auf dem eidgenössischen Mythenrepertoire (Befreiungstradition), das insbesondere in Zeiten der äusseren Bedrohungen vom Spätmittelalter bis ins 21. Jahrhundert (Habsburg, Nazi-Deutschland, EU) seine Wirkung immer wieder entfaltete. Den Autoren ist zuzustimmen, wenn sie konstatieren: „Understanding the modern nation-state of Switzerland therefore requires considering both the empirical history of events and institutions and the culturally embedded stories and myths that the Swiss themselves accepted, and which thus shaped their options and choices through the centuries.“ (S. 2) Auch wenn Tell nie existiert hat, hat er den Lauf der schweizerischen Politik in der Tat massgeblich beeinflusst – und er tut es auch heute noch.

Church und Head haben es sich zur Aufgabe gemacht, den eidgenössischen Integrationsprozess vom lockeren Bündnisgeflecht souveräner Städte- und Länderorte des Spätmittelalters hin zum mehrsprachigen, multireligiösen Föderalstaat der Moderne nachzuzeichnen. Die Ausführungen über die Schweiz, aufgefasst als „political entity“ (S. 4) und nicht als Region, beschränken sich deshalb schwergewichtig auf die Zeit nach 1300. Kritisch ließe sich hier einwenden, dass mit dem Verweis auf die „political entity“ die Ansetzung der „Schweizer Geschichte“ im 15. Jahrhundert erfolgen müsste. Obwohl die Autoren diese Frage reflektieren (S. 11), gehören der Bundesbrief von 1291, die Schlacht am Morgarten 1315 und die Schlacht bei Sempach 1386 auch in dieser Nationalgeschichte zum festen Kanon der Erzählung.

Chronologisch zeichnen Church und Head die wichtigsten historischen Stationen der schweizerischen Politikgeschichte in neun Hauptkapiteln nach. Die Darstellung ist zwar politikgeschichtlich strukturiert, doch kommen in den zahlreichen Unterkapiteln auch Wirtschaft, Bevölkerung, Gesellschaft und Kultur ausführlich zu Wort. Eine Stärke der Darstellung ist es, dass die politischen Entscheidungen und Ereignisse in der Schweiz nicht isoliert, sondern immer auch vor dem Hintergrund der transnationalen Verflechtung der Schweiz mit den europäischen Mächten betrachtet werden. Denn die Akzeptanz dieses aus Sicht der umliegenden Großmächte mitunter sonderbar anmutenden politischen Gebildes war für die Existenz der Schweiz mindestens ebenso entscheidend wie die Fähigkeit seiner Bewohner, politische Institutionen auszubilden und Verfahren zu entwickeln, die einen Interessensausgleich herzustellen vermochten. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch der reflektierte und kritische Umgang mit den Säulen des schweizerischen „Sonderfalls“: Föderalismus, direkte Demokratie, Neutralität. Gleich in zwei Kapiteln (7 und 8) wird der „Sonderfall Schweiz“ (S. 227) als politisch instrumentalisiertes Konstrukt entlarvt, das seit dem Ende des Kalten Krieges und der Diskussion um eine Öffnung der Schweiz zunehmend Risse aufweist.

Wie bei jeder Studie haben sich auch in der vorliegenden Darstellung kleinere sachliche Fehler eingeschlichen, über die sich jedoch aufgrund ihrer geringen Anzahl hinwegsehen lässt. Und wie bei jeder Übersichtsdarstellung zur Schweizer Geschichte könnte man nun inhaltliche Lücken anmahnen oder die vorgenommene thematische Gewichtung kritisieren. Die Fülle des zu verarbeitenden Stoffes und die Notwendigkeit, sich in einer für ein breites Publikum konzipierten „Schweizer Geschichte“ kurz zu fassen, machen eine inhaltliche Straffung der Erzählung jedoch unausweichlich. Sofern die vorgenommene Schwerpunktsetzung wie in der vorliegenden Darstellung der Übersichtlichkeit des Stoffes und einer kohärenten Argumentation dient, ist dagegen nichts einzuwenden. Entschärft wird das Problem von Church und Head überdies auch dadurch, dass sie die Leser und Leserinnen mit einer kommentierten Bibliographie auf weiterführende Literatur zur Schweizer Geschichte – mit dem Schwergewicht englischsprachige Literatur – aufmerksam machen. Insgesamt gestaltet sich der Band ausgesprochen leserfreundlich. Davon zeugen die zahlreichen Abbildungen und Grafiken sowie eine ereignisgeschichtliche Chronologie, ein Glossar und ein umfangreicher Index.

Dem Buch ist eine breite nationale und internationale Leserschaft zu wünschen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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