J. Guckes: Konstruktionen bürgerlicher Identität

Titel
Konstruktionen bürgerlicher Identität. Städtische Selbstbilder in Freiburg, Dresden und Dortmund 1900–1960


Autor(en)
Guckes, Jochen
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte Bd. 67
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XVI, 651 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Werner, Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches Institut

Ein junges Untersuchungsfeld der historischen Stadtforschung ist die Entstehung, Konstruktion und Wandelbarkeit von Stadtbildern und Stadtimages. Die bisherigen Erträge dieser Neufokussierung haben sich schon in einigen innovativen Publikationen niedergeschlagen. Zu nennen wären zum Beispiel die von Adelheid von Saldern herausgegebenen Sammelbände „Inszenierte Einigkeit“ und „Inszenierter Stolz“, die methodisch anregend sind und der DDR-Forschung neue Felder erschlossen1, oder Sandra Schürmanns Arbeit zur kulturellen Urbanisierung und bürgerlichen Repräsentation in Recklinghausen, die in ihrer Studie dem Verhältnis von Stadt und Weiblichkeit einen prominenten Platz eingeräumt hat2, oder auch der Tagungsband „Selling Berlin“, der in einer longue durée beginnend im 18. Jahrhundert die Imageproduktion in der preußisch/deutschen Hauptstadt vor Augen führt.3 Jochen Guckes Band zur Konstruktion bürgerlicher Identität schließt an diese stadthistorischen Studien an. Das mit mehr als 650 Seiten sehr gewichtige Werk geht auf eine 2010 an der Berliner Humboldt-Universität eingereichte Dissertation zurück. Bedingt wird der Umfang durch das ambitionierte Vorhaben des Autors, drei unterschiedliche Städte in einen Vergleich zu setzen und so über das Lokale hinaus zu generellen Schlussfolgerungen zu gelangen. Zudem wählt er unter der Prämisse, ein kulturhistorisches Phänomen unter den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten, einen langen und an Brüchen reichen Untersuchungszeitraum. Nicht nur diese analytische Breite ist begrüßenswert, sondern auch der Ansatz, die Forschungsfelder Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert aneinanderzubinden, was noch viel zu selten geschieht.

Mit Freiburg, Dresden und Dortmund hat Guckes für seine Studie drei Städte ausgewählt, die sich in Lage, Größe, Erscheinung und Geschichte deutlich unterscheiden. Gerade in der Verschiedenartigkeit sieht er die Möglichkeit, generalisierbare Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Konstruktion der städtischen Selbstbilder herauszuarbeiten. Dieses Unterfangen gelingt, obgleich auch die analytischen Grenzen der Auswahl sichtbar werden. Bereits Hartmut Kaelble hat auf die methodischen Schwierigkeiten der Auswahl allzu divergenter Vergleichsobjekte hingewiesen.4 Obwohl dies von Guckes nachweislich rezipiert wird (S. 4, FN 8), und er die Problematik hin und wieder selbst konstatiert (z.B. S. 504), lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass eine andere Auswahl nicht nur eine stärkere Nuancierung bei der Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten ermöglicht, sondern womöglich auch einige Ergebnisse relativiert hätte. So bleibt fraglich, ob Dresden als Beispiel für die Wandlung eines städtischen Selbstbildes insbesondere unter den Bedingungen der SED-Herrschaft innerhalb des vorliegenden Vergleichstableaus die beste Wahl war. In Bezug auf ihre „Eigengeschichte“ und „Mythenbildung“ handelt es sich bei Dresden um eine „besondere Stadt“, wie der Soziologie Karl-Siegfried Rehberg betont, und diese Besonderheit dürfte sich vor allem nach 1945 bemerkbar machen.5 In Guckes Arbeit fehlt allerdings der passende Gegenpart, der eine solche Sicht bestärken oder entkräften könnte. Insofern erweist es sich eben nicht als Vorteil, dass Guckes zu allen drei Städten einen persönlichen Bezug hat (S. XV). Seiner Heimatstadt Dortmund widmet er überdies nicht nur den meisten Raum, hin und wieder gewinnt man zudem den Eindruck, er wolle helfen, das Selbstwertgefühl der Stadt zu stärken.

Methodisch umkreist die Arbeit drei Untersuchungsfelder: erstens die Konstruktion und Wandelbarkeit von städtischen Selbstbildern und zweitens das städtische Bürgertum als maßgeblichen Konstrukteur dieser Selbstbilder. Verklammert bzw. ergänzt werden diese beiden Felder drittens durch eine Reihe um den Forschungskomplex Bürgertum-Nation-Staat kreisende Fragen, so zum Beispiel zum Aussagegehalt von städtischen Selbstbildern über die Fragmentierung der deutschen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg, über das Verhältnis von NS-Ideologie und Bürgerlichkeit oder den diktatorischen Charakter der DDR (S. 5f.). Den Dreh- und Angelpunkt der Analyse bildet der Begriff des Selbstbildes, den Guckes sehr weit fasst, bezieht er doch „alle öffentlich geäußerten Vorstellungen“ ein, „die verschiedene Gruppen oder Personen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihrer Stadt sowie von der Verortung im Raum und in der Region haben“ (S. 11). Die diesbezüglichen Quellen umfassen Schriftzeugnisse, insbesondere publizistisches Material, sodann Akten und Veröffentlichungen zu besonderen städtischen Ereignissen, aber auch einzelne Bauwerke sowie die städtische Architektur und Raumgestaltung. Es geht also nicht nur um das Image einer Stadt, also die nach außen gerichteten Bilder, sondern auch um die „wirkmächtigen Ideen“ (S. 11) von der Stadt, die innerhalb des lokalen Kontextes entstehen. Indem Guckes in diesen Selbstbildern zwar keinen „unmittelbaren Ausdruck der Lebenswirklichkeit in einer Stadt“ sieht, sondern sie im Sinne Roger Chartiers als Repräsentationen ihrer Produzenten versteht, erhofft er sich Rückschlüsse auf die soziale Konstruktion dieser Akteursgruppen. Maßgeblich sind für ihn dabei vor allem die Äußerungen von Experten aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Kultur und Medien, die er als „Deutungselite“ zusammenfasst (S. 23ff.). Er operiert zudem mit dem „stadtethnologischen Konzept“ eines „Habitus der Stadt“, das sowohl von der Einzigartigkeit der jeweiligen Städte ausgeht als auch von der These, dass sich aus der städtischen Vergangenheit Dispositionen für die weitere kommunale Entwicklung ergeben (S. 11ff.). Diese kulturwissenschaftlichen und soziologischen Herangehensweisen unterfüttert Guckes mit einer breiten empirischen Basis aus wirtschafts- und sozialstrukturellen Daten sowie Statistiken zum Wahlverhalten. Die Analyse erfolgt in sechs Schritten: Nach einer alle relevanten Konzepte und Ideen vorstellenden Einleitung werden jeweils separat die drei Städte porträtiert, die „Selbstbildkerne“ herauspräpariert, die lokalen Deutungseliten eruiert und insbesondere ihr Verhältnis zu anderen sozialen Gruppen und zum politischen und gesellschaftlichen Wandel untersucht. In einem fünften Kapitel werden diese Befunde auf vergleichender Ebene nochmals zusammengeführt, bevor abschließend ein Fazit gezogen wird. Dieser Aufbau erweist sich einerseits als stringent, anderseits hätte eine deutliche Straffung Redundanzen verhindert und einen besseren Lesefluss ermöglicht.

Am Ende der Lektüre bleibt beim Rezensenten jedoch ein zwiespältiger Eindruck zurück. Einerseits belegt und argumentiert Guckes nachvollziehbar, worauf und wodurch sich städtische Selbstbilder begründeten, wer an deren Bildung maßgeblich beteiligt war, welche Dauerhaftigkeit und Ausstrahlung sie hatten und welche Faktoren für ihre Veränderungen verantwortlich waren. Bei allen Unterschieden zeigt sich so, dass bis 1945 die städtischen Selbstbilder bürgerlich verortet blieben. Waren sie in Freiburg und Dresden stärker bildungsbürgerlich geprägt, folgten sie in Dortmund hingegen stärker wirtschaftsbürgerlichen Vorstellungen. Dabei wird insbesondere die kulturelle Integrationskraft für die bürgerlichen Milieus in den drei Städten nachvollziehbar. Die Wirkmacht bürgerlichen Denkens blieb auch noch unter bundesrepublikanischen Bedingungen hoch, freilich mit immer weniger Rückkopplung an das Bürgertum als soziale Formation und unter Anpassungen an die gesellschaftlichen Veränderungen. Selbst in Dresden überdauerten kulturbürgerliche Ansichten – wenn auch im Korsett einer neuen politischen Ideologie – die DDR-Zeit, obgleich sich hier die Deutungselite erzwungenermaßen viel stärker entbürgerlichte als in Freiburg und Dortmund. Dabei waren die Stadtbilder bei aller Konsistenz nie statisch, vielmehr erweist sich ihr bürgerlicher Deutungshorizont als so flexibel, dass er selbst mit nationalsozialistischen und sozialistischen Vorstellungen in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Bei alldem macht Guckes deutlich, dass die Wandlungen innerhalb der städtischen Selbstbilder in erster Linie auf politische Veränderungen zurückzuführen sind. Neben diesen vielfältigen und einleuchtenden Befunden können andererseits die sozialstrukturellen Interpretationen leider nicht überzeugen. Weder schält sich ein tiefergehendes Bild der von ihm so bezeichneten bürgerlichen Deutungselite heraus – was nicht zuletzt daran liegt, dass ganz bewusst eine „nähere Untersuchung der Deutungselite als solcher […] für die Analyse städtischer Selbstbilder [als] nicht nötig“ erachtet wird (S. 25) –, noch lassen sich die Aussagen über den sozialen Zusammenhalt bzw. die Segmentierung des Bürgertums und der städtischen Gesellschaft aus seinen Darlegungen wirklich ableiten, wie er vermeint zu erkennen (S. 523). Gerade die Positionen der Mitglieder der Deutungselite in und zur städtischen Gesellschaft wird – trotz aller Statistiken – viel zu wenig erhellt. Somit zeigt die Untersuchung zwar plausibel, wie städtische Selbstbilder auf kulturellem Wege auf die soziale Basis einer Stadt einwirken, welche Rückwirkungen der Habitus einer Stadt auf ihre gesellschaftlichen Strukturen hat, bleibt hingegen eine offene Frage.

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas Wolfes, Rezension zu: Adelheid von Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städte, Stuttgart 2003, in: H-Soz-u-Kult, 29.04.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-071>; Philipp Springer, Rezension zu: Adelheid von Saldern / Lu Seegers (Hrsg.), Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975), Stuttgart 2005, in: H-Soz-u-Kult, 30.11.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-132> (25.11.2013).
2 Sandra Schürmann, Dornröschen und König Bergbau. Kulturelle Urbanisierung und bürgerliche Repräsentation in der Stadt Recklinghausen (1930–1960), Paderborn 2005.
3 Thomas Biskup / Marc Schalenberg (Hrsg.), Selling Berlin. Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt, Stuttgart 2008.
4 Vgl. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999, S. 136.
5 Karl-Siegfried Rehberg, Dresden als Raum des Imaginären. „Eigengeschichte“ und „Mythenbildung als Quelle städtischer Identitätskonstruktionen, in: Dresdner Hefte 84, 2005, S.88–99, hier S. 88.

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