T. Zimmermann: Der Balkan zwischen Ost und West

Cover
Titel
Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen


Autor(en)
Zimmermann, Tanja
Reihe
Osteuropa medial
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad Petrovszky, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

In ihrer 1997 mit dem Goldenen Löwen der Biennale in Venedig ausgezeichneten Performance Balkan Baroque bediente sich Marina Abramović überaus wirkungsvoll der bedeutungsschweren Ikonographie des Klageweibs auf dem leichenübersäten Schlachtfeld. Zwischen dem Gestank des Knochenberges und der Volkslieder singenden Künstlerin, zwischen überzeichnender Zurschaustellung von Blut-und-Boden-Mythologie und durchaus ernst gemeinter Totentrauer wurde so ein verstörender, quasi mytho-historischer Kommentar zu den Gräueln der jugoslawischen Zerfallskriege geliefert. Diese in Abramovićs Inszenierung provokant verdichteten Bedeutungsschichten abzutragen und das Zusammenspiel von „balkanischer“ Fremd- und Selbstzuschreibung nachzuvollziehen ist eine Aufgabe, der sich im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte jenseits der Kunst eine zunehmende Zahl an Forschungsarbeiten verschrieben hat.

Mit Tanja Zimmermanns Buch liegt nun eine sehr umfangreiche Untersuchung vor, und es stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich diese von der mittlerweile beträchtlichen Zahl an Publikationen zum Themenkomplex Balkanbilder abzuheben vermag. Der in der Reihe „Osteuropa medial“ aufgenommene Band basiert auf der an der Universität Konstanz angenommenen Habilitationsschrift in den Fächern Slawistik und Kunstgeschichte und baut auf einer großen Zahl von Einzelstudien der Verfasserin zu Kunst, Film und Literatur auf. Abgesehen von dem genuin multimedialen Zugang lässt vor allem die Berücksichtigung russischer Quellen ein erweitertes und komplexeres Verständnis der Geschichte von Balkanprojektionen erwarten, die, wie Tanja Zimmermann zurecht anmerkt, vornehmlich entlang einer Ost-West-Achse erzählt worden ist. Konzeptionell neu und vielversprechend ist ferner der Ansatz, den Balkan „als Dispositiv für mediale Einschreibungen in verschiedenen mediengeschichtlichen Etappen, insbesondere in Phasen medialer Umbrüche“ zu untersuchen, das heißt „zu Zeiten der Verbreitung der graphischen Illustration, der Photographie, der Psychoanalyse und ihren medialen Verschriftlichungen, der neuen Kriegstechnologien in den Medien und der postmodernen virtuellen Simulakren, begleitet von postmodernen Text- und Bildnarrativen“ (S. 20–21). Der Aufbau des Buches in sechs Analysekapiteln (II–VII) erhebt den Anspruch, vor dem Hintergrund zentraler mediengeschichtlicher Einschnitte die maßgeblichen Phasen des Balkandiskurses seit dem frühen 19. Jahrhundert nachzuzeichnen, wobei zeiträumliche Exkurse und die Diskussion kunst- und kulturtheoretischer Positionen die Chronologie gelegentlich aufbrechen.

Die ersten drei Kapitel (II–IV) behandeln vornehmlich anhand literarischer Texte und Reiseberichte die Epochen des Philhellenismus des frühen 19. Jahrhunderts, des Panslawismus der zweiten Jahrhunderthälfte sowie die Balkanimagologie im geistigen Klima der Jahrhundertwende. Dies alles geschieht in einer höchst anregenden, wenn auch nicht immer überzeugenden Verschränkung von Einzelanalysen. Denn die sehr geraffte Abhandlung des immensen Materials auf 125 Seiten hat ihren Preis: Gerade in dem in kulturtheoretischer Hinsicht spannendsten Kapitel IV („Vom Stereotyp zum Phantasma“) bleibt vieles nur angerissen und rudimentär kontextualisiert. So werden etwa im Abschnitt IV.3 („Phantasmen des Unverständlichen und Unsichtbaren“) kurze Stellen aus den Werken des Slawophilen Alexandr Popov, des Korrespondent Granville Fortescue, des Nationalsozialisten Lutz Koch sowie der Schriftsteller Karl May, Juli Zeh und Peter Handke (um nur einige zu nennen) rhapsodisch aneinandergereiht, so als ob die These einer verstörenden balkanischen Sprachsituation schon von selbst aus den Zitaten hervorginge. „Positive Balkan-Stereotypen“ sollen schließlich der Gegenstand des abschließenden Abschnitts IV.3 sein. Tatsächlich lassen aber die hierzu gebotenen anderthalb Seiten den Bezug zur Überschrift vermissen und zeugen eher davon, dass der Balkan-Diskurs auch in der Region selbst eifrig mitgeschrieben wurde – eine Fährte, die von Zimmermann bis auf die kursorische Erwähnung einiger Vertreter der Völkerpsychologie leider nicht weiterverfolgt wird.

Der eindeutige Schwerpunkt des Buchs liegt indes in den Kapitel V–VII, die dem Jugoslawien der Tito-Ära, den Re-Mythisierungstendenzen der 1980er-Jahre sowie den medialen Repräsentationen des Bosnienkriegs gewidmet sind – alles in allem über zwei Drittel der Analyse. Verglichen mit den ersten Kapiteln fällt die imagologische Untersuchung in diesen Teilen verfeinerter, belegdichter und insgesamt überzeugender aus. Kapitel V („Titos ‚dritter Weg‘“) soll hier herausgegriffen werden, denn es ist mit seinen fast 150 Seiten nicht nur das umfangreichste, sondern auch hinsichtlich des Grades der Durcharbeitung das zentrale Kapitel des Buchs: Der zu einem Auszeichnungstopos erhobene jugoslawische Dritte Weg wird zunächst in literatur- und religionstheoretischer Hinsicht als „Häresie“ ausgedeutet, die laut Zimmermann in einem Verhältnis der doppelten Negation zum westchristlich-kapitalistischen Westen und dem ostkirchlich-kommunistischen Osten stand und ferner den Rückgriff auf angebliche Vorläufererscheinungen ermöglichte (hier besonders das mittelalterliche Bogumilentum). In Aneignung der „hegemonialen Blickregime und Projektionen aus Ost und West“ (S. 219) wurden dabei negative Rückständigkeitstopoi ins Positive gewendet und dienten der Überschreibung eigener traumatischer Kriegserfahrungen und der Integration widerstrebender nationaler Narrative. In mehreren Fallstudien macht Zimmermann die politisch-ästhetischen Spielarten des Dritten Wegs greifbar. In der Tat wird die von ihr verfolgte Absicht an dieser Stelle am überzeugendsten umgesetzt; wohl auch, weil ihre eigenen Vorarbeiten zu diesem Themenkomplex besonders zahlreich sind. Es entsteht so eine dichte Analyse der jugoslawischen Kulturpolitik in allen Untertönen und mittransportierten Widersprüchlichkeiten – wie dies jedoch in Beziehung zum ersten Teil des Buchs steht, das der Imagologie des Balkans in westeuropäischer, aber auch russischer Sichtweise gewidmet ist, bleibt allerdings nur angedeutet. Überhaupt wird der osteuropäische Diskurspartner in den letzten beiden Kapiteln zur (serbischen) Mythenproduktion und den medialen Exzessen der frühen 1990er-Jahre überhaupt nicht mehr berücksichtigt.

Die mehrfache Verlagerung des Fokus und sehr ungleiche Durchdringung der behandelten Epochen und Materialien gehören zu den Schwächen des Buchs. So fällt in der Gesamtökonomie der Untersuchung auf, dass die ersten drei Kapitel gemäß der angekündigten Zielsetzung die multipolare Produktion des Balkan-Diskurses mit unterschiedlichen Sprecherpositionen und räumlichen Bezugspunkten nachzeichnen. Demgegenüber sind die Kapitel V–VII ausschließlich Jugoslawien und den jugoslawischen Zerfallskriegen gewidmet, die zwar weitaus intensiver und sachkundiger behandelt werden, dafür aber gänzlich differierende Schwerpunkte und Interessen erkennen lassen, deren Bezug zum Hauptthema noch klarer herausgearbeitet werden müsste. So stellt sich in Anbetracht dieser beeindruckend materialreichen Studie letztlich ein ein Eindruck des Additiven und von Inkonsistenzen ein.

Die begrüßenswerte Heterogenität des herangezogenen Quellenmaterials (Romane, Reiseberichte, Ärzteaufzeichnungen, Plastiken, Ausstellungstexte, Touristenprospekte, Fotos, Filme, Comics et cetera) gehören zweifellos zu den Stärken des Buchs, deren kaum näher erläuterte Auswahl und oft recht assoziative Verschränkung jedoch nicht. Gewiss wäre es ungerecht, bei einer primär literaturwissenschaftlichen Untersuchung die Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge zum alleinigen Bewertungsmaßstab zu erheben und auf der mangelnden Einordnung oder dem Fehlen gewisser Akteure und Schriften, die das Balkanbild zeitweilig oder nachhaltig mitgestaltet haben, zu insistieren. Bedauerlicher ist vielmehr, dass in Anbetracht der eigentlich interessanten Ankündigung Tanja Zimmermanns, nämlich „das Werden des Balkans zum ‚Bild‘“ (S. 29) vor dem Hintergrund medialer Umbrüche nachzuvollziehen, Grundlegendes nicht erwähnt wird: So findet etwa eine Auseinandersetzung mit dem Medium der Bildreportage im Kontext der Balkankriege von 1912–1913 überhaupt nicht statt, obwohl aus diesen Konflikten zahlreiche Schlüsselbilder des 20. Jahrhunderts hervorgingen, während andererseits die Aneignung und Umdeutung sowjetischer Leitvorgaben in der jugoslawischen Kunst und Literatur mit fast 40 Seiten bedacht werden. Ebenso wenig ist nachzuvollziehen, weshalb alle noch so entlegenen Bezugnahmen auf Ron Havivs Fotografie serbischer Paramilizionäre nachgegangen und die bildtheoretische Literatur an dieser Stelle in extenso entfaltet wird, dafür aber politisch wie medial markante Ereignisse der letzten 25 Jahren, die sich gerade in medientheoretischer und -geschichtlicher Sicht geradezu aufdrängen, nicht einmal erwähnt werden: die albanische Staatskrise Anfang der 1990er-Jahre, die rumänische Revolution (die im Übrigen ein nicht minder reiches und prominent bestücktes medientheoretisches Dossier hervorgebracht hat), die Repräsentationen der Roma-Migration aus den zentralen und östlichen Balkanstaaten nach Westeuropa oder etwa die griechische Finanzkrise – in all diesen Kontexten wurden und werden Balkandiskurse von allen involvierten wie nicht-involvierten Akteuren aufgegriffen, aktualisiert und weiterentwickelt.

Dass diese Momente und Schauplätze nicht einmal erwähnt werden, sondern über weite Strecken des Buches wie selbstverständlich nur Tito-Jugoslawien und die jugoslawischen Zerfallskriege im Fokus stehen, verweist überhaupt auf einen problematischen Zug der Beschäftigung mit Balkanbildern der letzten zweieinhalb Jahrzehnte: Zum einen wird auf „den“ Balkan Bezug genommen, zum anderen wird dieser Intention zum Trotz die Vielfalt des Raums geradezu ausgeblendet. Problematisch ist hier gewiss nicht das selektive Arbeiten, sondern die Tatsache, dass die Wahl nicht motiviert wird, sondern einer pars pro toto-Logik folgt. Doch kann gefragt werden: Warum ist jedes Bosnien-Stereotyp auch gleich Balkan-Stereotyp? Wieso handelt es sich bei den Konflikten in Bosnien und Kosovo um „Balkan-Kriege“, wie es im Titel des Kapitel VII ohne Anführungszeichen heißt? Oder aber: Inwiefern müssen wir Marina Abramović’ obsessives Heraufbeschwören „des“ Balkans beim Wort nehmen?

Zweifellos besticht Tanja Zimmermanns Buch durch die Vielfalt des durchgearbeiteten Materials sowie die Menge aufschlussreicher Einzelanalysen, auf die hier einzugehen nicht möglich ist. Es bietet ferner eine höchst anregende topologische Lektüre wiederkehrender Figuren des Balkanismus-Diskurses, eine umfassende Analyse der axiomatischen Umwertung eines negativen Balkanstereotyps zu einem positiven „Dritten“ im jugoslawischen Nachkriegskontext sowie schließlich eine scharfsinnige Kritik der medialen Kriegsführung der frühen 1990er-Jahre. Mit Blick auf den formulierten Anspruch, den Zusammenhang von Medienentwicklung und Balkanimagologie über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten aufzuzeigen, können diese spannenden Einlassungen jedoch nur als Zwischenschritt gewertet werden.

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