P. Josephson u.a.: An Environmental History of Russia

Cover
Titel
An Environmental History of Russia.


Autor(en)
Josephson, Paul; Dronin, Nicolai; Mnatsakanian, Ruben; Cherp, Aleh; Efremenko, Dmitry; Larin, Vladislav
Reihe
Cambridge Studies in Environment and History
Erschienen
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 80,04
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Elie, Centre d ’étude des mondes russe, caucasien et centre-européen Paris

Das Autorenkollektiv unter der Leitung von Paul Josephson legt mit „An Environmental History of Russia“ das erste Handbuch zur Umweltgeschichte Russlands und der Sowjetunion im 20. Jahrhundert vor. Diese Pionierarbeit ist ein nützliches Nachschlagewerk und eine gelungene Einführung in das Feld. Als erste Synthese verdient sie auch deshalb ein ausdrückliches Lob, weil die Wissenslage bislang dürftig war. Noch immer gibt es zu wenige Arbeiten über die russische Umweltgeschichte und die meisten dieser Publikationen befassen sich mit der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Hier gelingt es den Autoren hingegen, den Bogen von den „großen Reformen“ unter Alexander II. bis zu Putins Russland zu schlagen.

Die Autoren konnten sich dabei auf eigene Vorarbeiten stützen. Josephson gehört zu den produktivsten Umwelthistorikern: seine Arbeiten zur atomaren und arktischen Geschichte, zum Dammbau und zur Umweltbewegung sind wegweisend.1 Der Geograph Nicolai Dronin hat erheblich zur Geschichte des Klimas und der Getreideproduktion beigetragen.2 Ruben Mnatsakanian gehört zu den früheren Öko-Enthüllern, die Anfang der 1990er-Jahre die desolate Umweltlage der Sowjetunion schilderten.3 Gemeinsam mit Vladislav Larin war er 2003 an der Herausgabe eines umfangreichen Berichts über die Umweltbewegung und -politik in den 1970er-Jahren beteiligt, der einem Plädoyer zur Wiederherstellung des 2000 liquidierten Naturstaatskomitees gleichkommt.4 Aleh Cherp ist ein Spezialist für Energiesicherheit sowie für sowjetische und postsowjetische Umweltverträglichkeitsprüfung. Dmitry Efremenko beschäftigt sich mit russischer internationaler Umweltpolitik.

Die Erzählung folgt den großen Zäsuren der politischen Geschichte. In fünf Kapiteln werden das späte Zarenreich und Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew und Gorbatschow behandelt. Der Schluss befasst sich mit der postsowjetischen Phase unter Jelzin und Putin. In den ersten Kapiteln fassen die Autoren die wenigen gut erforschten Gebiete, wie etwa die Forstgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zusammen.5 So ist der forstgeschichtliche Absatz zum Stalinplan zur Umgestaltung der Natur von 1948 eine exzellente, kritische Synthese der Wissenslage (S. 121–128). Dem Milieu der Naturschützer und der Entstehungsgeschichte von streng reglementierten Naturschutzgebieten („zapovedniki“), die Douglas Weiner und Josephson selbst ausführlich behandelt haben, widmet das Buch ebenfalls erhellende Seiten (S. 56–69).

Für die späte Sowjetunion leisten die Autoren originelle Forschungsarbeit: Die historiographische Landschaft ist so lückenhaft, dass sie auf Primärliteratur zurückgreifen müssen, um die Umweltpolitik und -lage beleuchten zu können. Dafür werten sie sowohl sowjetische Spezialzeitschriften z. B. zur Forst- und Fischwirtschaft aus, als auch die allgemeine Presse. Zudem haben sie das Radio-Liberty-Archiv in Budapest genutzt, um relevante Informationen über Umweltkatastrophen zu erlangen. Die schleppende Implementierung der Gesetzgebung zum Naturschutz (darunter die Verfälschung der Statistik, welche die UdSSR an die internationale Walfangkommission lieferte, S. 194), die Institutionalisierung mancher Öko-Anliegen und die Positionierung der Sowjetunion zum internationalen „environmental turn“ der 1970er-Jahre werden sehr ausführlich behandelt. Die Autoren präsentieren eine Reihe bislang unbekannter Details; etwa über die Dnjestr-Katastrophe von 1983 oder den Widerstand des KGB gegen den Plan die nördlichen und sibirischen Flüsse umzuleiten (S. 202–203). Zudem führen sie konkrete, oft bezifferte, Angaben zu den Umweltzerstörungen in der Forst- und Wasserwirtschaft, zur niedrigen städtischen Luftqualität und zur Verschmutzung durch Schwefeldioxid an. Sie kommen zum Schluss, dass sich trotz neuer Gesetzgebung und deutlich verbesserter wissenschaftlicher und statistischer Erfassung der Umweltlage wenig am Ressourcen verschwendenden Erschließungsdrang der Stalinjahre geändert hatte.

Die Erzählung deckt sich größtenteils mit der Darstellung der politischen Ereignisse und den sozioökonomischen Veränderungen. Darunter fallen die stalinsche „Revolution von oben“, die großen Erschließungs- und Infrastrukturprojekte, der Gulag und der Krieg gegen die Bauern. Dabei wurde bislang zwar vermutet, dass diese gewaltsamen Transformationsprojekte erhebliche Konsequenzen für die Umwelt gehabt haben mussten, aber es fehlt an qualitativen und quantitativen Daten, um konkrete Auswirkungen auf die Natur genau zu bewerten. Die Landwirtschaft ist hierfür exemplarisch. Die Autoren beschreiben zwar, dass die Bolschewiki großen Wert auf die Mechanisierung der Landwirtschaft legten und beispielsweise hunderttausende Traktoren aus den USA importieren ließen, bevor die sowjetische Industrie selbst genug davon herstellen konnte (S. 94–97). Aber worin genau der ökologische Fußabdruck von Mechanisierung und Kollektivierung bestand, erklären sie leider nicht. War er schädlicher für Böden, Tiere, Gewässer und Pflanzen, als der nachlässige Umgang der Bauern mit den Böden, der laut den Autoren typisch für das späte Zarenreich war (S. 43)? Aus Mangel an quellennahen, datenreichen umwelthistorischen Arbeiten liefert der Band auf diese Fragen keine belastbaren Antworten.

Die Autoren führen den desolaten Zustand der Umwelt am Ende der Sowjetzeit auf ein Entwicklungsmodell zurück, das unter Stalin entstand und später nicht grundlegend in Frage gestellt wurde. Sie beschreiben jedoch keinen Sonderweg, sondern verorten den russisch-sowjetischen Umgang mit der natürlichen Welt in einem internationalen Kontext, in welchem das Bestreben nach totaler Unterwerfung der Natur letztlich immer die Oberhand über die Vorsicht der Naturschützer behielt. Eine Frage bleibt dabei jedoch offen: Ab wann begann das stalinsche Modell große Schäden anzurichten? In den Worten von Murray und Feshbach ausgedrückt: Wann setzte der „Ökozid“ ein?6 Denn die Mechanisierung der Landwirtschaft der 1930er-Jahre kann man kaum zum Sündenfall erklären, blieb sie doch bis spät in die 1950er-Jahre recht bescheiden (und in jedem Falle weit hinter derjenigen in anderen industriellen Nationen zurück). Sie erreichte ihr bedeutendstes Ausmaß erst in der Entwicklung der Weizenmonokultur in den Steppengebieten unter Chruschtschow und trug dann erheblich zur sowjetischen „Dust Bowl“-Katastrophe der 1960er-Jahre bei. Ob diese Neulandkampagne eine Fortsetzung oder einen Bruch mit dem stalinschen Entwicklungsmodell darstellte, bleibt fraglich. Jedenfalls war mit ihr eine komplette Umstellung der Agrarpolitik verbunden. Dasselbe gilt für die „Intensivierung“ der Landwirtschaft – ein Projekt, das der „extensiven“ Neulandkampagne entgegengesetzt war. Gilt dieses Projekt der Ära Breschnew, gekennzeichnet durch eine übertriebene „Chemikalisierung“ und einen Bewässerungswahn, ebenso als die Fortsetzung des Transformationsdrangs der 1930er–1940er-Jahre? Kurz gesagt: wenn man ein unter Stalin entstandenes, besonders umweltschädliches Erschließungsmodell voraussetzt, muss man erklären, woher diese politischen Schwankungen stammen, und warum sie zu unterschiedlichen Konsequenzen für die Umwelt führten.

Der Leser wünscht sich eine zweite, korrigierte Ausgabe des Buchs. Dem fehlenden redaktionellen Schliff kann man entnehmen, dass das Buch unter großem Zeitdruck und unter nachlässigem Lektorat des Cambridge-Verlags entstand. So fehlt eine Bibliographie, obwohl sie gerade für ein universitäres Lehrbuch unabdingbar ist. Wiederholungen und Tippfehler erschweren die Lektüre. Vielerorts fehlen Fußnoten, ansonsten sind sie nicht vollständig: die Autoren weisen häufig auf Online-Material hin, geben aber stets nur die URL an, Autoren, Titel und Zugangsdatum bleiben unbekannt. Das Bildmaterial ist dürftig: Es besteht aus den schon bekannten sowjetischen Plakaten in schlechter Bildqualität, ohne Angabe der Künstlernamen, des Datums und der Auflage. Es sollte ergänzt werden durch ausgewählte Fotografien und Gemäldereproduktionen.

Gleichwohl ist „An Environmental History of Russia“ eine wichtige Errungenschaft jüngster Forschung, die ihre Aufgabe als Handbuch für die Lehre und als allgemeines Vademekum bestens erfüllt. Es ist imponierend vollständig in der Darstellung des Wissensstandes. Gleichzeitig macht es dabei auf die lückenhafte Forschungslandschaft aufmerksam. Die uns noch bevorstehende Arbeit ist gewaltig!

Anmerkungen:
1 Kürzlich erschienen: Paul R. Josephson, The Conquest of the Russian Arctic, Cambridge, Massachusetts 2014.
2 Nikolai Dronin / Edward G. Bellinger, Climate Dependence and Food Problems in Russia, 1900–1990. The Interaction of Climate and Agricultural Policy and Their Effect on Food Problems, Budapest 2005.
3 Ruben A. Mnatsakanian, Environmental Legacy of the Former Soviet Republics, as Collated from Official Statistics, Edinburgh 1992.
4 V. Larin / R. Mnatsakanân / I. Čestin / E. Švarts, Ohrana prirody Rossii. Ot Gorbačeva do Putina, Moskau 2003.
5 Brian Bonhomme, Peasants, and Revolutionaries. Forest Conservation and Organization in Soviet Russia, 1917–1929, New York 2005; Stephen Brain, Song of the Forest. Russian Forestry and Stalinist Environmentalism, 1905–1953, Pittsburgh 2011.
6 Murray Feshbach / Alfred Friendly, Ecocide in the USSR. Health and Nature Under Siege, New York 1993.