U. Lamparter u. a. (Hrsg.): Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms

Titel
Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre Familien. Forschungsprojekt zur Weitergabe von Kriegserfahrungen


Herausgeber
Lamparter, Ulrich; Wiegand-Grefe, Silke; Wierling, Dorothee
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lu Seegers, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Kaum ein anderes Ereignis hat sich in das lokale Gedächtnis der Stadt Hamburg so „eingebrannt“ wie die Luftangriffe im Rahmen der „Operation Gomorrha“ zwischen dem 25. Juli und dem 3. August 1943. Zum 70. Jahrestag des „Feuersturms“ sind nun die Ergebnisse eines interdisziplinär angelegten Forschungsprojekts von Historikern der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg sowie Psychoanalytikern und Psychologen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf erschienen.1 Die Forschergruppe hat die individuellen und familiären Nachwirkungen des „Feuersturms“ untersucht. Damit leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag zu der in den Psycho- und Geisteswissenschaften diskutierten Frage der transgenerationalen Weitergabe traumatisierender Kriegserfahrungen.2

Die Aussagen des Forschungsprojekts beruhen auf einem komplexen Sample. Ausgangspunkt bildete ein Zeitzeugenaufruf des „Hamburger Abendblatts“ im Februar 2003, dessen Zuschriften in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg archiviert sind. Die Zeitzeugen und ihre Familien wurden erneut kontaktiert. Sie beantworteten psychoanalytische Fragebögen, bevor Psychoanalytiker mit ihnen Interviews führten, die durch lebensgeschichtliche Zweitinterviews von Historikern ergänzt wurden. Insgesamt liegen 243 Einzel- und Familiengespräche vor. Der Ergebnisband ist in vier Sektionen unterteilt. Im ersten Teil werden die angewandten Methoden dargestellt und die interdisziplinäre Zusammenarbeit erörtert. Im zweiten, dritten und vierten Teil werden die „Generation der Zeitzeugen“, „Die zweite Generation“ und „Die dritte Generation und ihre Familien“ vorgestellt.

Im ersten Teil zeigt der Psychoanalytiker Ulrich Lamparter die zentralen Frageperspektiven des Projekts auf: Erstens die Untersuchung der mittel- und langfristigen individuellen Verarbeitung des „Feuersturms“, zweitens die familiäre Verarbeitung und transgenerationale Tradierung und drittens die Bedeutung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und öffentlichen Deutungsangeboten bei der Verarbeitung. Lamparter betont die fruchtbare Kooperation beider Disziplinen, um den ahistorischen Ansatz der Psychoanalyse zu überwinden und die Interdependenz von individueller und historischer Realität zu erhellen.

Ausführlich reflektiert die Historikerin Dorothee Wierling die Chancen und Probleme der interdisziplinären Zusammenarbeit. Gemeinsam sei Historikern und Psychoanalytikern die Kompetenz des „Sich-Hinein-Versetzen-Könnens als Mittel des Verstehens“ (S. 48). Dabei sei es den Psychoanalytikern mehr darum gegangen, die emotionale Qualität des „Feuersturms“ in ihren Tiefendimensionen auszuloten, während bei den Historikern die zeitspezifischen Rahmungen der Erinnerung im Vordergrund standen. Als kompliziert erweise sich der unterschiedliche Umgang mit dem Konzept des Traumas. Während die beteiligten Historiker dem Begriff aus geschichtspolitischen und erkenntnistheoretischen Gründen kritisch gegenüber stehen, diagnostizierten die Psychoanalytiker schneller ein individuelles Trauma, das an künftige Generationen weiter gegeben werde. Als größte Herausforderung beschreibt Wierling jedoch die fachspezifischen Publikationspraxen und benennt damit ein Manko, das angesichts von Autorenmehrfachnennungen und gelegentlicher Redundanzen dem Buch anzumerken ist.

Den zweiten Teil eröffnen die Psychoanalytiker Birgit Möller und Ulrich Lamparter, indem sie anhand der 64 geführten Interviews mit Zeitzeugen des „Feuersturms“ 13 unterschiedliche narrative Verarbeitungstypen klassifizieren. Fast alle Zeitzeugen schilderten den „Feuersturm“ als einschneidendes biographisches Ereignis, das allerdings auf ganz unterschiedliche Weise in die lebensgeschichtliche Erzählung integriert wird. So kann der „Feuersturm“ als Ausgangspunkt für Narrative von beruflichem Wohlstand und materiellem Wohlstand dienen, als Beleg für gesellschaftlichen Zusammenhalt im Krieg oder als starting point für eine lebensprägende Selbstständigkeit. Für die langfristige Verarbeitung waren die Teilhabe am Wiederaufbau, beruflicher Erfolg, Partnerwahl und Familiengründung, sowie Identifikationsmöglichkeiten und Gespräche positiv. Insgesamt stellten sich die Zeitzeugen – ob männlich oder weiblich – als überwiegend psychisch gesund dar.

In weiteren Aufsätzen präsentieren Psychoanalytiker verschiedene quantitative Verfahren für die Analyse der Fragebögen und Interviews, deren Erkenntnisgewinn von Fachfremden jedoch nur bedingt nachvollzogen werden kann. So erläutert etwa der Psychotherapeut Erhard Mergenthaler seine Theorie der ‚Resonating Minds‘, um psychische und mentale Veränderungsprozesse auf der Grundlage computergestützter linguistischer Textanalysen von Therapiesitzungen empirisch zu erforschen. Leider erscheinen die Ergebnisse wenig überraschend, wenn festgestellt wird, dass sich die Interviewpartner weniger emotional äußern als Patienten.

Der Historiker Malte Thießen fragt instruktiv, welche Erkenntnisse das Forschungsprojekt zum individuellen und familiären Umgang mit dem Nationalsozialismus geben kann. Dazu untersucht er die Medien und Rahmen der Erinnerung, die für den Luftkrieg als Lebens- und Familiengeschichte bedeutsam sind. Neben der Bedeutung der lokalen Erinnerungskultur betont er die Topographie der Stadt selbst (Bunker, Bombenlücken, neue Gebäude) als „Ankerplatz für Erinnerungen“ und als Gesprächsanlass. Darüber hinaus werde die persönliche Kriegserfahrung durch aktuelle Kriegsberichterstattung fortlaufend aktualisiert. Gleiches gelte für familiäre Praktiken wie Spaziergänge, Geburtstagsfeiern, die der Selbstvergewisserung der Familiengeschichte und der gemeinsamen Erinnerung dienen. Dabei betont Thießen, dass das Familiengedächtnis keineswegs nur konsensual ausgerichtet ist. So könne das Gespräch über den Nationalsozialismus eine Platzhalter-Funktion einnehmen, um gegenwärtige Konflikte auszutragen. Vor diesem Hintergrund plädiert Thießen überzeugend für eine „Erinnerungsgeschichte in der Erweiterung“, um der Komplexität retrospektiver Sinnbildungen gerecht zu werden (S. 120).

Einen anderen Zugang wählt die Historikerin Linde Apel. Sie untersucht die Zeitzeugen des „Feuersturms“ als „ganz normale Deutsche“, die mit dem NS-System konform gingen und deren Lebensgeschichten bislang kaum untersucht worden sind. Aus dieser Perspektive ermöglichen die erhobenen Interviews, so Apel, wichtige Einblicke in den „unspektakulären Alltag einer durch Ausgrenzung gekennzeichneten Gesellschaft“ und in die Attraktivität des Nationalsozialismus (S. 148).

Im dritten und vierten Teil des Bandes werden die Interviews mit den Kindern und Enkeln der Zeitzeugen ausgewertet. Dabei handelt es sich ausnahmslos um Aufsätze von psychoanalytischer bzw. -therapeutischer Seite, obgleich es spannend gewesen wäre, die Frage der transgenerationalen Weitergabe von Kriegserfahrungen auch aus historischer Perspektive zu untersuchen.

Christa Holstein und Ulrich Lamparter werten die 45 durchgeführten Interviews mit Kindern der Zeitzeugen aus. Die meisten Kinder, so das Fazit der Einzelfallanalysen und quantitativen Auswertungen, könnten sich gut in das Erleben ihrer Eltern einfühlen, ohne viel konkretes Wissen über die Luftangriffe zu besitzen. Interessanterweise schildern die Hälfte der Frauen und ein Drittel der Männer zwar keine eigenen psychischen oder psychosomatischen Krankheiten, aber doch diverse Zukunftsängste. Weiterhin verweisen die Interviews auf Delegationen: So waren für alle Kinder Familiengründung und sozialer Aufstieg im Sinne der Eltern wichtig. Die eventuelle Weitergabe von Kriegstraumata untersucht der Psychotherapeut Philipp von Issendorff mit Hilfe eines psychometrischen Verfahrens. Dabei konzediert er, dass eine diesbezügliche Weitergabe von vielen anderen biographischen und psychischen Faktoren überlagert wird und daher kaum zu ermitteln ist.

Die Aufsätze, die sich mit den Enkeln der Zeitzeugen beschäftigen, fallen eher schwach aus. Silke Wiegand-Grefe und Birgit Möller stellen eine familientherapeutische Mehrgenerationenperspektive vor. Störungen der Kindergeneration ergeben sich demnach aus unbewussten Konflikten und weitergegebenen Traumata zwischen Eltern und Großeltern. Bei dieser Sichtweise bleiben allerdings gesellschaftliche und soziale Rahmenbedingungen ebenso ausgeblendet wie die Rolle von Betreuungs- und Erziehungsinstitutionen oder kulturelle Einflüsse. Hella Hofer und Silke Wiegand-Grefe berichten über qualitative Befunde aus der Generation der Enkel, die wegen der großen Altersvarianz (zwischen neun und 45 Jahren) allerdings nur schwer zu vergleichen sind. Insgesamt erscheinen die befragten Enkel weniger belastet zu sein als ihre Eltern. Sie fühlen sich aber auch verpflichtet, sich mit dem Thema „Feuersturm“ und seiner familiären Bedeutung intensiver auseinanderzusetzen.

Der Historiker Jürgen Reulecke würdigt das Forschungsprojekt abschließend als ein „Experiment besonderer Art“ angesichts der transdisziplinären Vorgehensweise und der selbstkritischen Reflexion der Ergebnisse (S. 361). In der Tat liegt hier die Stärke, aber auch die Schwäche des Sammelbands. Leider gibt es keine gemeinsamen Beiträge von Historikern und Psychoanalytikern. Dies hätte die Chance geboten, gerade im Hinblick auf die transgenerationale Weitergabe systematischer nach dem Einfluss medialer Rahmen und Erinnerungskulturen, zeithistorischer Ereignisse und gesellschaftlicher Entwicklungen zu fragen. Diese Faktoren sind für einen anzustrebenden internationalen Vergleich der Verarbeitung von Kriegserfahrungen relevant – das vorliegende Buch wirkt hierfür inspirierend!

Anmerkungen:
1 Vgl. Tagungsbericht Zeitzeugen des Hamburger ‚Feuersturms‘ und ihre Familien. 11.11.2011–12.11.2011, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 23.01.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4020> (07.10.2013).
2 Z.B. Hartmut Radebold / Werner Bohleber / Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen, Weinheim 2008.

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