U. Ackermann (Hrsg.): Im Sog des Internets

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Titel
Im Sog des Internets. Öffentlichkeit und Privatheit im digitalen Zeitalter


Herausgeber
Ackermann, Ulrike
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Humanities Online
Anzahl Seiten
198 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Püschel, DFG-Graduiertenkolleg 1681 "Privatheit", Universität Passau

Das Internet und seine soziokulturellen Folgen sind heute weithin ungeklärt. Die Fülle an Meinungsäußerungen und Forschungsbeiträgen zum Thema ist eher ein Indikator als eine Widerlegung dieser These. Die verschiedenen Wissenschaften ringen um ein adäquates, den komplexen Wechselwirkungen angemessenes Instrumentarium, mit dessen Hilfe die Effekte digitaler Technologien erfasst und analysiert werden könnten. In der Öffentlichkeit herrscht derweil eine Mischung aus Faszination und Unbehagen über das Internet. Beides resultiert aus der Verbindung von enormer Breitenwirkung, weitreichender lebensweltlicher Integration und fortbestehender Unklarheit über die genauen technischen und sozialen Zusammenhänge neuer Technologien. Dies lässt sich als Wahrnehmung eines unkontrollierbaren „Sogs“ beschreiben, in welchen alle überkommenen kulturellen und wirtschaftlichen Traditionen durch die Digitalisierung und speziell durch das Internet gezogen werden.

Der Sammelband „Im Sog des Internets“ enthält Forschungsergebnisse des Projekts „Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter“, einer Kooperation des John-Stuart-Mill-Instituts für Freiheitsforschung der (privaten) Hochschule Heidelberg mit der Universität Heidelberg. Gefragt wird nach den Veränderungen, denen das Verständnis von und der Umgang mit Privatheit in Zeiten des Internets unterliegen. Das übergreifende Ziel ist die sachliche Analyse und Einschätzung verschiedener technologischer Phänomene sowie daran anknüpfender gesellschaftlicher Debatten – eine Aufgabe, deren Bewältigung angesichts hitziger politischer Kontroversen sowie konträrer kulturpessimistischer und technikeuphorischer Positionen sowohl zwingend erforderlich als auch sehr schwierig ist.

Den umfangreichsten Beitrag liefert Max-Otto Baumann, der die erhellenden Ergebnisse einer Studie zum „politischen Diskurs über Privatsphäre in Sozialen Netzwerken“ präsentiert. Untersucht wurde, auf welche Weise Politiker in Deutschland über Soziale Netzwerke sprechen. Gesichtet wurden sämtliche parlamentarischen Dokumente, die seit 2009 zu einschlägigen Themen entstanden. Daraus resultiert eine umfassende Bestandsaufnahme politischer Rhetorik, wobei die verschiedenen Standpunkte gegenübergestellt sowie vorherrschende Narrative herausgearbeitet werden. Die eigene Position in der Tradition eines „staatsfreundliche[n]“ Liberalismus verortend (S. 44), legt Baumann anschaulich dar, warum paternalistische Bestrebungen heute vor allem auch von der Wirtschaft ausgehen und wo Probleme politischer Regulierungsmaßnahmen liegen. Dass die notwendige Kompetenz und Verfügungsgewalt für den Datenschutz weiterhin bei der Politik angesiedelt sei, betont Baumann energisch, auch wenn er die These vertritt, dass „die Bereitschaft zum Datenschutz negativ mit der politischen Rolle (im Sinne von Macht und Verantwortung) korreliert ist“ (S. 47). Besonders positiv ist hervorzuheben, dass der Autor selbst konkrete Datenschutz-Maßnahmen für das Web 2.0 nennt sowie deren Vor- und Nachteile diskutiert. Kritikwürdig erscheint an diesem Aufsatz jedoch die konsequente Verwendung des Begriffs „Privatsphäre“, welcher inzwischen als überholt bzw. als unterkomplex betrachtet werden kann und in einschlägigen Veröffentlichungen höchstens zu Distinktionszwecken genutzt wird. Auch der anschließende, von Göttrik Wewer verfasste Beitrag über die „Verschmelzung von privater und öffentlicher Sphäre im Internet“ verwendet die Ausdrücke „Privatsphäre“ und „Privatheit“ weitgehend synonym, ohne dass begrifflich genauer differenziert würde.

Dabei ließe sich anhand des aufschlussreichen Beitrags von Larry Frohman zeigen, warum das Privatsphärenmodell im wissenschaftlichen Diskurs kaum noch Verwendung findet. Frohman entwirft eine Genealogie jenes Privatheitskonzepts, das die Grundlage für das berühmte Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 bildete. Diese zentrale Wegmarke des deutschsprachigen Privatheitsdiskurses stellt für Frohman die augenscheinlichste Manifestation eines mentalitäts- und rechtsgeschichtlichen Wandels vom Modell der „Privatsphäre(n)“ hin zu einer Konzeption „informationeller Selbstbestimmung“ dar. Ebenso interessant sind die Ausführungen des Autors zu den klassenspezifischen Unterschieden im Interesse an Privatheit und ihren graduellen Abstufungen sowie zu bürokratisch-technologischen Eigendynamiken bei der Ausweitung des Zugriffs auf private Lebensbereiche. Von zentraler Bedeutung für Frohmans Argumentation ist die im Vorfeld des Bundesverfassungsgerichtsurteils vollzogene Umstellung der „Logic of Privacy“ (S. 82f.): Anstelle intrinsischer Qualitäten sei es der jeweilige Verwendungszusammenhang, der einer bestimmten Information „privaten“ Status zuweise.

Da aus der solcherart gesteigerten Komplexität des Konzepts von „Privatheit“ – etwa für die politische und juristische Abgrenzung zur „Öffentlichkeit“ – größere Probleme erwachsen, wird es wissenschaftlich notwendig, die verschiedenen privatheitsbezogenen Umgangs- und Diskursformen zu analysieren sowie ihren geschichtlichen Wandel nachzuvollziehen. Aus historischer Perspektive leistet dies Marcel Berlinghoff mit seinem Aufsatz über gesellschaftliche Debatten, die sich in der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre der zunehmenden Computerisierung des Alltagslebens widmeten. Der Autor zeichnet hierbei ein anschauliches Bild der damaligen, sowohl von Hoffnungen als auch von Ängsten geprägten Auseinandersetzungen und ihrer politischen Folgen. Dabei wird deutlich, dass bereits vor über 30 Jahren jene technologiekritischen Bedenken wirkten, die heute den Diskurs über das Internet und die damit verbundenen neuen Kommunikationsformen beeinflussen. So ist es besonders die Sorge vor einer umfassend kontrollierten, ja das Bewusstsein allgegenwärtiger Kontrolle internalisierenden und damit undemokratischen Gesellschaftsform, die in den von Berlinghoff dargestellten historischen Diskussionen wie auch in den Beiträgen des Sammelbandes selbst zum Tragen kommt. Wiederum ist es das Volkszählungsurteil von 1983, welches hier als Kulminationspunkt der gesellschaftlichen Debatten behandelt wird und anhand dessen sich der Wandel im Umgang mit technologisch bedingter „Verdatung und Erfassung“ (S. 95) aufzeigen lässt – selbst wenn die damaligen technischen Möglichkeiten bekanntlich weit hinter dem zurückblieben, was heute jeder „private“ Rechner leistet.

Um sich wandelnde Formen des Umgangs mit Privatheit geht es auch Carsten Ochs in seinem soziologischen Beitrag. Basierend auf dem gemeinsam mit Martina Löw durchgeführten acatech-Projekt „Internet Privacy“1 schildert Ochs die Widersprüche und Wechselbeziehungen zwischen den privatheitsbezogenen Vorstellungen von Internetnutzer/innen und den jeweiligen technischen Abläufen. Ausgehend vom Grundsatz, dass soziale Beziehungen heute weitgehend technisch erzeugt bzw. aufrechterhalten würden und technische Strukturen immer auch sozial geformt seien, wird zunächst die besondere Qualität internetbasierter Kommunikationsformen betrachtet. Diese liegt dem Autor zufolge in der gesteigerten Komplexität der aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bestehenden sozialen Operationsketten, welche die Kontrolle des Kommunikationsablaufs und seiner Folgen zunehmend erschwert. Hieraus erwächst in der Folge eine zeitgemäße und knappe neue Definition von Privatheit, die für das titelgebende „digitale Zeitalter“ angemessen erscheint: Privatheit wird dabei als Möglichkeit verstanden, „Operationsketten zu verknüpfen (soziale Beziehungen zu erzeugen) und zu generieren, ohne dabei die Kontrolle über Verknüpfung und Informationsfluss zu verlieren“ (S. 114). Im Folgenden beschreibt Ochs das dynamische Wechselspiel zwischen Internetnutzer/innen und Werbetreibenden bei der Handhabung so genannter Cookies, woran der Autor exemplarisch das „Wettrüsten“ verschiedener handlungsgestaltender Skripte darlegt. Er will verdeutlichen, dass sich der jeweilige empirische Status von Privatheit unter heutigen digitalen Bedingungen permanent im Wandel befinde und sich mit „jeder neuen Anwendung und jeder neuen Nutzungsweise“ verändere (S. 129).

Den Eigendynamiken soziotechnischer Gefüge widmet sich auch Philipp Aumann, der sich unter Rückgriff auf Foucault und Deleuze mit der bereits angeklungenen Frage nach der Selbstdisziplinierung des Individuums im Internet-Zeitalter beschäftigt. Inwiefern sich die „Zugriffsintensität“ (S. 148) vergrößert oder lediglich gewandelt habe, wird dabei ebenso diskutiert wie das dialektische Wechselspiel zwischen Kontrolltechniken und den Möglichkeiten ihrer effektiven Einschränkung. Aumann selbst tendiert zu der These, dass die Kontrollversuche heute stärker von der Wirtschaft als vom Staat ausgehen würden, dass ihr Ausmaß aber weitgehend unverändert sei (S. 148f.).

Der Sammelband stellt verschiedene Perspektiven nebeneinander und beleuchtet damit unterschiedliche Facetten des komplexen Problemfeldes. Er verbindet neue Ansätze und Definitionen mit der aktualisierenden Lektüre mittlerweile klassischer Texte. Ebenso kombiniert er theoretische Überlegungen mit den Ergebnissen empirischer Untersuchungen. Die größte Schwäche scheint das lückenhafte, zahlreiche zitierte Texte auslassende Literaturverzeichnis zu sein (etwas irreführend als „Forschungsbibliographie“ bezeichnet).

Anmerkung:
1 Siehe <http://www.acatech.de/privacy> (14.10.2013). „Acatech“ steht für „Deutsche Akademie der Technikwissenschaften“.