P. Heider: Die Gesellschaft für Sport und Technik

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Titel
Die Gesellschaft für Sport und Technik. Vom Wehrsport zur "Schule des Soldaten für morgen"


Autor(en)
Heider, Paul
Reihe
Spurensicherung
Erschienen
Berlin 2002: Fides Verlag
Anzahl Seiten
469 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Th. Müller, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

In der publizistischen und historiographischen Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur bildet die Militarisierung der DDR-Gesellschaft und speziell die „sozialistische Wehrerziehung“ der Jugendlichen seit mehr als zwanzig Jahren einen der thematischen Schwerpunkte. Während frühe Arbeiten sich auf die Darstellung von formaler Programmatik und Strukturen der Wehrerziehung beschränkten 1, rückten nach 1989/90 deren gesellschaftliche Funktion und Wirkung in den Mittelpunkt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang nach wie vor die Dissertation von Heribert Seubert, der für die DDR eingehend die Transformation von „Formen militärischer Disziplinierung zum Modell gesellschaftlicher Disziplinierung“ einschließlich ihrer Grenzen beschrieben hatte.2

Demgegenüber wurden jedoch - abgesehen von einzelnen Arbeiten zur DDR-Volksbildung - die Trägerinstitutionen der „sozialistischen Wehrerziehung“ bislang nicht systematisch untersucht.3 Das betrifft auch die 1952 gegründete Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Bestand deren Aufgabe zunächst in der Wehrerziehung und vormilitärischen Ausbildung der gesamten Bevölkerung und insbesondere der Jugendlichen auf formal freiwilliger Basis, so wurden ab 1969 nahezu sämtliche männlichen Lehrlinge und Abiturienten im Rahmen der nun obligatorisch zur Berufs- bzw. Schulausbildung gehörenden vormilitärischen Ausbildung mit dieser Massenorganisation konfrontiert. Die GST ist daher - zumindest für den männlichen Teil – auch ein Element der kollektiven Erfahrung der in der DDR sozialisierten Generationen.

Paul Heider – Jahrgang 1931, in der Fachwelt bekannt durch seine 1987 im Militärverlag erschienene „Geschichte der Militärpolitik der KPD (1918-1945)“, 1989/90 Leiter des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR (MGI) – hat nun den Versuch unternommen, „einen ersten Beitrag“ zur Organisationsgeschichte der GST zu leisten. Dabei verfolgt er das Ziel, dass Spannungsfeld „zwischen den Forderungen der Partei- und Armeeführung und dem tatsächlichen Leistungsvermögen der GST als Wehrorganisation in ihren einzelnen Entwicklungsetappen“ zu untersuchen (S. 10).

Dazu hat er sein Buch chronologisch in sechs Kapitel gegliedert. Im ersten, von der Gründung 1952 bis zum I. GST-Kongress 1956 reichenden Kapitel, werden die bekannten Rahmenbedingungen von Kaltem Krieg und Remilitarisierung, die nicht zuletzt im politisch-ideologischen Bereich auftretenden Entwicklungsprobleme der GST vor und nach dem 17. Juni 1953 sowie den Mitte der fünfziger Jahre erreichten Entwicklungsstand der einzelnen Sparten und die 1956 neu formulierte Aufgabenstellung der GST skizziert.

Das zweite Kapitel mit der Überschrift „Die GST als Hauptträger der Werbung für die NVA“ umfasst die Entwicklung bis zum Wehrdienstgesetz Anfang 1962 unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zwischen GST und NVA. Dem folgen zwei Kapitel mit den vielsagenden Überschriften: „Erfordernisse der Landesverteidigung – Maßstab für die Entwicklung der GST (1961-1968)“ und „’Sozialistische Wehrorganisation’ – Schule der Soldaten von morgen (1968-1980)“; in denen die Erziehungs- und Ausbildungsprobleme nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Rolle der GST an Schulen und Hochschulen, ideologische Indoktrination sowie die Kontrolle und Anleitung der GST durch die „Gruppe GST-Arbeit beim Minister für Nationale Verteidigung“ thematisiert werden.

Den Abschluss der Darstellung bilden zwei mit „Zur Entwicklung der GST in den achtziger Jahren“ sowie „Das Ende der GST“ überschriebene Kapitel. Hier geht es aufs Neue um ideologische Probleme und die Beziehungen zur NVA sowie die Umwandlung der GST in eine „Vereinigung Technischer Sportverbände“ Anfang 1990, welche nach zwischenzeitlicher Umbenennung in „Bund Technischer Sportverbände“ am 03.11.1990 aufgelöst wurde.

Heiders Ausführungen enden ebenso sang- und klanglos, wie die Geschichte der GST selbst. Eine abschließende Bewertung in Form eines Resümees fehlt leider. Dabei bleibt die Frage nach der Rolle der GST für Herrschaftsstruktur und Herrschaftssicherung des SED-Regimes ebenso unbeantwortet wie die am Anfang des Buches aufgeworfene nach ihrem Leistungsvermögen bei der Vorbereitung der männlichen Jugend auf den Militärdienst.

Bei der Betrachtung der inhaltlichen Schwerpunkte des Buches stellt der DDR-sozialisierte Leser erstaunt fest, dass es in Heiders Darstellung praktisch keine Anknüpfungspunkte an eigene Erfahrungen in und mit der GST gibt. Ausbildungsinhalte werden, wenn überhaupt, nur in höchst allgemeiner Form benannt, so dass aus dem Text nicht hervorgeht, wie die vormilitärische Ausbildung in der GST praktisch aussah, was vermittelt wurde und welcher Grad an Befähigung erreicht werden konnte. Die zum Teil miserablen Lebensbedingungen in den Zentralen Ausbildungslagern (gravierende Mängel bei Essen, Sanitäranlagen und medizinischer Versorgung) und deren Auswirkungen auf die Stimmung der auszubildenden Lehrlinge und Abiturienten sind für Heider überhaupt kein Thema. Dabei hätte er dazu beispielsweise in den Berichten der Bezirksschulräte an das Ministerium für Volksbildung über die Durchführung der vormilitärischen Ausbildung aufschlussreiche und mitunter äußerst plastische Informationen finden können.

Statt dessen behandelt Heider fast ausschließlich die Tätigkeit des Zentralvorstandes der GST und dessen Beziehungen zum Ministerium für Nationale Verteidigung, wie sie sich anhand von formalisierten Berichten, Kongressbeschlüssen, Anordnungen und Direktiven darstellen. Zum Teil werden noch Beschlüsse des Politbüros bzw. des Zentralkomitees der SED oder Vereinbarungen mit dem Ministerium für Volksbildung in die Analyse miteinbezogen. Die Geschichte der GST wird so zu einer Aneinanderreihung von Parteibeschlüssen, Direktiven und Anweisungen, deren wenn nicht vollends gleichlautenden, so doch inhaltlich nahezu identischen Aussagen im wahrsten Sinne des Wortes erschöpfend und ohne Scheu vor Redundanz referiert werden. Trotz punktueller Bemühungen um eine kritische Sicht dominiert dabei eine Diktion, die frappierend an das geistige Klima des MGI erinnert, wie es von Jürgen Angelow charakterisiert worden ist.4

Die Tätigkeit der Organisation unterhalb des Zentralvorstandes bleibt hingegen fast völlig im Dunkeln. Was der Leser erfährt sind häufig Formalien und zumeist unkommentierte statistische Angaben - etwa wieviel Prozent der Mitglieder das Abzeichen „Für vormilitärische und technische Kenntnisse“ oder das Bestenabzeichen erhalten haben (S. 218). Die Tendenz zur bloß paraphrasierten Wiedergabe des Akteninhalts führt zur Anhäufung von Artefakten und zeitigt für den Leser nur geringen Erkenntnisgewinn. So erfährt man zum II. Kongress anhand des ausführlich referierten Berichts der Mandatsprüfungskommission zwar einiges über die Zusammensetzung der Delegierten, etwa wie viele der Delegierten sich mit Taubensport befassten oder wie viele der den Schießsport vertretenden Delegierten sich in der Diskussion zu Wort gemeldet hatten. Näheres über den Inhalt der Diskussion oder auch nur Ort und Datum des Kongresses bleiben jedoch unerwähnt (S. 54-60).

Die Probleme der GST stellen sich in Heiders Arbeit – wahrscheinlich sogar zu Recht - als fortlaufende Wiederkehr des Gleichen dar. Von den fünfziger bis in die achtziger Jahre gab es Kritik an der Praxis der „politisch-ideologischen Arbeit“ und „ungenügender politischer Führungsarbeit“ (S. 82) - Heider erklärt leider an keiner Stelle, was man sich darunter vorstellen solle - sowie Probleme bei der Rekrutierung von Reservisten als ehrenamtliche Ausbilder. Klar unterscheidbare Entwicklungsphasen der GST lassen sich daraus jedoch kaum ableiten.

Neben dem redundanten Charakter der Darstellung fällt vor allem die unkritische und unkommentierte Übernahme der zeitgenössischen Terminologie auf. Da ist von der „Linie“ oder von „Überspitzungen“ die Rede (S. 87f.). Das „sozialistische Wehrmotiv“ als Ziel der „politisch-ideologischen Arbeit“ bleibt ebenso wie der letztere Begriff nebulös (S. 134). Schließlich übernimmt er den allgemeinkonkreten Duktus, wie er aus Propagandaschriften und Funktionärsdeutsch bekannt ist. Da werden Beschlüsse „nach entsprechender Abstimmung“ gefasst (S. 97) oder man erfährt über die Freizeitgestaltung im GST-Lager, dass „Maßnahmen und Veranstaltungen unterschiedlichster Art“ stattfanden (S. 174). Das hätte man dann doch gern etwas genauer gewusst.

Nicht unproblematisch ist verschiedentlich auch die Beweisführung Heiders. So schlussfolgert er aus einer 1977 durchgeführten Befragung unter 30 – 45jährigen Männern über den Nutzen der vormilitärischen Ausbildung für die Wehrdienstvorbereitung, „daß die Akzeptanz der GST unter den männlichen Jugendlichen [also der Altersgruppe zwischen dem 14. und 25. Lebensjahr – C.T.M.] ziemlich hoch war“ (S. 176). Ähnlich fragwürdig ist seine These, dass die GST ab Mitte der fünfziger Jahre – obschon bis 1961 ganze 19 % der männlichen Jugendlichen GST-Mitglieder waren (S. 65) – zum „Hauptträger der Werbung für die NVA“ geworden sei (S. 34). Hier scheint die Rolle der FDJ und der Werbekommissionen doch wohl etwas unterschätzt worden zu sein.

Erhellendes vermag Heider jedoch beizutragen, wenn es um die anlässlich des Mauerbaus gebildeten GST-Einsatzgruppen geht, die – eingeschworen auf Walter Ulbricht – zur Sicherung von LPGs und zur Festnahme von oppositionellen Flugblattverteilern eingesetzt wurden (S. 67f.). Ausdrücklich ist ihm zuzustimmen, wenn er unterstreicht, dass Margot Honecker keineswegs, wie ihr z.B. von Werner Hübner angedichtet wird, eine Abneigung gegen die Wehrerziehung gehabt hätte. Die Auflösung der GST-Grundorganisationen an den Oberschulen war vielmehr eine Konsequenz aus der Mitte der sechziger Jahre als kontraproduktiv erkannten Konkurrenz zwischen FDJ und GST im schulischen Bereich. Positiv ist auch zu bewerten, dass die gleichsam direkte Unterstellung der GST unter das Ministerium für Nationale Verteidigung klar herausgearbeitet worden ist. Schließlich ist auf die 19 im Anhang abgedruckten Dokumente zu verweisen. Dabei handelt es sich um Aufgabenstellungen und Beschlüsse von Politbüro und Ministerrat, Anordnungen des Verteidigungsministeriums sowie Vereinbarungen zwischen GST, Verteidigungs- und Volksbildungsministerium, die es dem interessierten Leser ermöglichen, die im Text bereits ausgiebig referierten Quellen noch einmal im Wortlaut nachzulesen.

Insgesamt muss jedoch festgestellt werden, dass Paul Heider eine weitgehend blutleere Institutionsgeschichte vorgelegt hat, in der der Alltag des Ausbildungsbetriebes sowie die darin agierenden Menschen nicht vorkommen. Unabhängig von der inhaltlichen Gewichtung hätten dem Buch eine straffere Darstellung sowie ein wesentlich höheres Maß an kritischer Betrachtung der ausgewerteten Quellen gut getan. Angesichts der trotz zahlreicher Redundanzen letztlich unbeantworteten Kernfragen, hinsichtlich der mit der vormilitärischen Ausbildung erzielten Effekte für die Wehrdienstvorbereitung einerseits und ihrer Rolle zur sozialen Disziplinierung bzw. Herrschaftssicherung andererseits, wird man nicht umhin kommen, die Geschichte der GST als einer zentralen Trägerinstitution der „sozialistischen Wehrerziehung“ nach Heiders „erstem Beitrag“ noch einmal systematisch zu untersuchen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jürgen Hartwig; Albert Wimmel, Wehrerziehung und vormilitärische Ausbildung der Kinder und Jugendlichen in der DDR (Militärpolitische Schriftenreihe 14), Stuttgart 1979. Thomas Beck, Liebe zum Sozialismus – Hass auf den Klassenfeind. Sozialistisches Wehrmotiv und Wehrerziehung in der DDR, 3. Aufl. Lüneburg 1984.
2 Heribert Seubert, Zum Legitimitätsverfall des militarisierten Sozialismus in der DDR (Studien zu Konflikt und Kooperation im Osten Bd. 3), Münster Hamburg 1995. Weniger originell: Christian Sachse, Aktive Jugend – wohlerzogen und diszipliniert. Wehrerziehung als Sozialisations- und Herrschaftsinstrument 1960 – 1973 (Studien zur DDR-Gesellschaft Bd. 7), Münster 2001.
3 Vgl. In Linie angetreten. Die Volksbildung der DDR in ausgewählten Kapiteln (Geschichte der Strukturen und Funktionsweise der DDR-Volksbildung Bd. 2), hrsg. v. Ministerium für Bildung des Landes Brandenburg, Berlin 1996.
4 Jürgen Angelow, Forschung in ungelüfteten Räumen. Anmerkungen zur Militärgeschichtsschreibung der ehemaligen DDR, in: Thomas Kühne; Benjamin Ziemann (Hgg.), Was ist Militärgeschichte? (Krieg in der Geschichte, Bd. 6), Paderborn 2000, S. 73 – 89, S. 86.

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