R. Blänkner (Hrsg.): Heinrich von Kleists ‚Die Verlobung in St. Domingo‘

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Titel
Heinrich von Kleists Novelle ‚Die Verlobung in St. Domingo‘. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800


Herausgeber
Blänkner, Reinhard
Erschienen
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Pestel, Historisches Seminar, Albert-Ludwig-Universität Freiburg

Das Kleist-Jahr 2011 bot – endlich, ist man geneigt zu sagen – den Anlass, zwei durch Disziplingrenzen und Forschungstraditionen klassischerweise getrennte, aber inhaltlich eng verbundene Forschungsfelder miteinander in Dialog zu bringen: Auf der einen Seite steht die seit circa 30 Jahren vor allem in den USA prosperierende Geschichtsschreibung zur Haitianischen Revolution – also jener Sklavenrevolte, die 1791 in der französischen Kolonie Saint-Domingue ausbrach und 1804 zur Proklamation des unabhängigen Haiti als erster amerikanischer Staatsgründung ohne Fortbestand der Sklaverei führte. Auf der anderen Seite hat in den letzten 20 Jahren die postkolonial orientierte Kleist-Forschung die bis dato eher als randständig betrachtete ‚Verlobung‘ neu für sich entdeckt.

Welches Erkenntnis-, aber auch Irritationspotenzial der „haitianische Blick“ auf europäische Revolutionswahrnehmungen um 1800 in sich birgt, hat Susan Buck-Morss eindrücklich für „Hegel und Haiti“1 demonstriert. Daran anknüpfend stellt Reinhard Blänkner in der Einleitung dieses Bandes klar heraus, dass auch die Frage, was Kleist über Haiti überhaupt wissen konnte, im Kern eurozentrisch sei. Wenn der Schauplatz der Novelle heute exotisch anmuten mag, so sei die globale Bedeutung Saint-Domingues um 1800 „politisches Allgemeinwissen“ (S. 15) gewesen. Damit relativiert Blänkner einmal mehr Michel-Rolph Trouillots klassische These vom silencing der Haitianischen Revolution durch europäische Zeitgenossen.2

Die hier dokumentierten Ergebnisse einer Tagung in Frankfurt an der Oder verstehen koloniale Beziehungen im „Zeitalter der Revolutionen“ als Teil globaler Politik der Kolonialmächte, die auch Preußen näher an die Karibik rücken ließ. Für diesen Interpretationsrahmen bietet Kleists Novelle einen exemplarischen Fall, um die epistemische Herausforderung, welche die zerfallende „situation coloniale“ in Saint-Domingue mit ihren Ambivalenzen von Ethnizität, Herrschaftsverhältnissen und zwischenmenschlichen Beziehungen für europäische Zeitgenossen darstellte, auf die Darstellbarkeit fragmentierter und liminaler Erfahrungsräume dies- und jenseits des Atlantiks zu befragen. Augenfälliges und mehrfach aufgegriffenes Symptom dafür ist Kleists Gefangenschaft als vermeintlicher preußischer Spion 1807 im Fort de Joux, in dem vier Jahre zuvor der auf Napoléon Bonapartes Befehl internierte General Toussaint Louverture umgekommen war.

Diesen doppelten Zusammenhang zwischen dem Ort Haitis in Kleists Werk und Kleists Verortung von Haiti greifen die Beiträge in unterschiedlicher Form disziplinär oder disziplinübergreifend auf. Sie präsentieren bei großer Themenvielfalt textimmanente, diachron vergleichende und beziehungsgeschichtliche Betrachtungsweisen. Dem gegenüber dürfte allerdings eine eher geringe Zahl an Lesern stehen, die im polnischen Historienfilm und Herman Melvilles Romanen gleichermaßen bewandert sind. Mit Blick auf den Leserkreis dieser Rezension sind daher nachfolgend die geschichtswissenschaftlichen und disziplinübergreifenden Beiträge von besonderem Interesse. Dass Kleists Novelle aus zwei verschiedenen Ausgaben zitiert wird, erschwert zwar das Auffinden einzelner Passagen; Textkenntnis ist bei der Lektüre aber sowieso von Vorteil.

Eröffnend stellt der Doyen der Historiografie zur Haitianischen Revolution, David Geggus, die geopolitische Bedeutung und Radikalität der Ereignisse auf Saint-Domingue heraus: zunächst die erstmalige Repräsentation einer Kolonie in einer gesetzgebenden Körperschaft der Metropole, danach das gesetzlich verankerte Ende rassischer Diskriminierung, dann die Revolution als erfolgreichste Sklavenrevolte Amerikas und schließlich die haitianische Staatsgründung. Dabei führt er noch einmal eindrücklich vor Augen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach auch Kleist im heimischen Salon in einem indigogefärbten Anzug Kaffee mit Zucker aus Saint-Domingue und damit aus Sklavenarbeit trank. Allein ein Viertel der dortigen Zuckerproduktion wurde über Frankreich in die Hansestädte und nach Preußen exportiert.

Die zentrale Achse des Bandes bildet die angekündigte Entexotisierung der Novelle durch die Untersuchung der in ihr angelegten transnationalen Bezugsfelder, in erster Linie natürlich zur Schweiz, aus der die weißen Protagonisten der Verlobung stammen und wo die Erzählung endet. Die Ansatzpunkte variieren: Klaus Weber liest Alejo Carpentiers Roman ‚El siglo de las luces‘ von 1962 als dichte Beschreibung des transatlantischen Personen- und Warenverkehrs Ende des 18. Jahrhunderts, um daran eine umgekehrte Beweisführung über die Präsenz europäischer materieller Kultur in der Karibik anzuschließen. Aufschlussreich sind Beobachtungen zu den finanziellen Verflechtungen kolonialer Ökonomien, an denen eben auch Schweizer Aktien- und Plantagenbesitzer Anteil hatten – wie Familie Strömli in der ‚Verlobung‘ –, die sich aber ebenso ins Umfeld von Goethe und Schopenhauer verfolgen lassen. Dass der Sklavenhandel direkter oder indirekter Teil dieser Investitionen war, wirft einmal mehr Susan Buck-Morss’ Frage auf, wie „blind“ europäische Geisteseliten eigentlich gegenüber der kolonialen Praxis waren, wenn sie metaphorisch über Knechtschaft und Sklaverei schrieben, an der sie oder ihre Verwandten de facto verdienten.

Verbindungslinien zur Schweiz durchziehen die Novelle jedoch auch in ihren sprachlichen und motivischen Strukturen, von Flussmetaphern und Vornamen über den Naturraum bis hin zum Verhältnis zu Frankreich. Auf dieser Basis unternimmt Birthe Kristina Büttner eine systematische Analyse von Kleists Schweiz-Aufenthalten und Kontaktnetzwerken und identifiziert sowohl personelle Vorbilder für die Protagonisten der Novelle als auch mögliche Schweizer Informationsquellen. Neben der bekannten Freundschaft Kleists zu Heinrich Zschokke dürften diese auch Berichte Schweizer Offiziere in der französischen Invasionsarmee von 1802/03 umfasst haben. Mögen ihre Argumente teils eher Indizien oder Motivverwandtschaften sein, so liefert Büttner wichtige Impulse nicht nur für die Kleist-Forschung, sondern auch zu Verbindungslinien zwischen der Französischen, Haitianischen und Helvetischen Revolution, die weitere Vertiefung lohnen.

Die europäische Verfremdungsebene der napoleonischen (Kolonial-)Politik entwickelt Gregor Thum über den dominierenden westlichen Horizont der Geschichtsschreibung zum „Zeitalter der Revolutionen“ hinaus. Indem er sich den in der Endphase der Revolution auf französischer Seite kämpfenden polnischen Truppen widmet, löst er sich zwar von Kleists Text, nicht aber von dessen Kontext: Der Kampf der polnischen Legionen in ausländischen Diensten für die Wiederherstellung eines unabhängigen Polens machte sie im Lichte der haitianischen Unabhängigkeit gleichsam zu Opfern eines innereuropäischen Kolonialismus, sodass ein Teil der Überlebenden in der Verfassung von 1805, die sonst Weißen praktisch keine Rechte gewährte, als haitianische Staatsbürger naturalisiert wurde. In der polnischen Rezeption sorgte die unklare Beteiligung der Truppen an den Massakern gegen die Aufständischen jedoch für Kontroversen, die Thum erhellend in den franko-polnischen Beziehungen, im polnischen Kolonialdenken, in Zivilisierungsdiskursen und den Interessen der Nationalbewegung verortet. Als Pointe kann er für die polnische Erinnerung an den Nationalmythos der Legionen zeigen, wie die transatlantische Parallelisierung von Märtyrertum und Nationsbildung nach 1989 in eine Wiederentdeckung der „Schwarzen Polonia“ in Haiti mündete, als Symbol für ein global vernetztes Polen.

Iwan-Michelangelo D’Aprile wirft seinerseits ein Schlaglicht auf Kleists publizistisches Umfeld in Preußen und präsentiert mit Friedrich Buchholz einen frühen Experten für die geopolitischen und ökonomischen Dimensionen der Haitianischen Revolution. Mit Blick auf Buchholz erscheint der preußische Reformdiskurs um 1810 dann nicht mehr allein als frankreichfixiert und standeskonservativ, sondern reagierte auch auf Globalisierungsprozesse, die zur Positionsnahme aufforderten. Im Gegensatz zu Adam Müller und eben Kleist erteilte Buchholz deren Wende vom Kosmopolitismus zum Nationalismus eine Absage und plädierte für eine stärkere Westorientierung Preußens zur Überwindung einer Rückständigkeit, die sich auch in globalen Bezügen offenbarte.

Sowohl die skizzierten transnationalen Kontexte als auch stärker werkbezogene Analysen wie bei Barbara Gribnitz zu Kreuzungspunkten von Geschlechter- und Rassevorstellungen und Paul Michael Lützeler zur Palimpseststruktur religiöser Anspielungen führt Ottmar Ette in einer beeindruckenden Gesamtschau auf die Novelle zusammen, worin er deren semantische Verdichtungen und Täuschungsstrategien offenlegt: Kategorien wie Hautfarbe, Ort und Geschlecht oszillieren zwischen vermeintlich eindeutigen Zuschreibungen; die komplexen Erzähl- und Motivstrukturen entsprechen in ihrer Mikro- und Makrodimension den historischen Überkreuzungen in den kolonialen Inselwelten der Karibik. Er deutet die Novelle als eine Experimentieranordnung für zukünftige Formen des Zusammenlebens auf der Basis hybrider ethno-sozialer Kategorien, an dessen Unmöglichkeit die Figuren aber letztlich scheitern. Kleists Radikalität erweist sich, wie Ette demonstriert, nicht zuletzt darin, dass er am Beginn des Handlungskerns der Novelle ausgerechnet den Namen Toussaint Louvertures, in dessen Gefängnis er bekanntlich selbst eingesessen hatte, konstitutiv einwob: Auf Gustavs Anrufung „aller Heiligen“ („tous les saints“) öffnet ihm die alte Babekan die Tür („l’ouverture“).

Das wichtige Verdienst des Bandes besteht darin, die postkoloniale Kleist-Forschung in einer europäischen Rezeptionsgeschichte der Haitianischen Revolution zu verankern. Als Ergebnis dieser gelungenen Kontextualisierung Kleists steht aber auch seine teilweise Relativierung. Die angerissenen Fragen zur Repräsentativität bzw. zu nationalkulturellen Spezifika der Aneignungsmuster der Haitianischen Revolution (zum Beispiel S. 34) verdienen weiteres Interesse, gerade mit Blick auf die zeitgenössische französische, britische und spanische Rezeption. Hier geraten zum Teil disziplinäre Eigenlogiken an ihre Grenzen, und es bleibt zu diskutieren, ob gerade über die klassische autoren- bzw. werkbezogene Komparatistik hinaus nicht noch stärker verflechtungsgeschichtliche Untersuchungsverfahren zu erproben wären, wie an anderer Stelle bereits überzeugend geschehen.3

Eher am Anfang als am Ende ihres interdisziplinären Dialogs stehen auch die Kategorien des „Postkolonialen“, prominent gerade in den literaturwissenschaftlichen Beiträgen, und des „Globalen“, auf die vor allem die geschichtswissenschaftliche Seite abhebt. Während der Konstruktcharakter kolonialer Deutungsmuster konsequent demonstriert wird, bleibt der angekündigte „globale“ Blick auf Kleist mehr eine tour d’Horizon als ein konturiertes Untersuchungsprogramm, wie Reinhard Blänkner selbst einräumt (S. 18f.). Indem der Band eine reflexive europäische Wirkungsgeschichte der Haitianischen Revolution bietet, außereuropäische Akteure aber faktisch nicht anders vorkommen als in der Sicht europäischer Texte auf sie, könnten die Grenzen der hier präsentierten Perspektiven stärker problematisiert werden, um die Aufständischen nicht wieder unbeabsichtigt in eine reaktive Rolle zu drängen und damit einem historiografischen „silencing“ im Sinne Trouillots anheimfallen zu lassen.

Anmerkungen:
1 Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte (Edition Suhrkamp 2623), Berlin 2011.
2 Michel-Rolph Trouillot, Silencing the Past. Power and the Production of History, Boston 1995.
3 Gesine Müller, Die koloniale Karibik. Transferprozesse in hispanophonen und frankophonen Literaturen (Mimesis. Romanische Literaturen der Welt 53), Berlin 2012 und Alejandro E. Gómez, Le spectre de la Révolution noire. L’impact de la révolution haïtienne dans le monde atlantique: 1790–1886 (Des Amériques), Rennes 2013.

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