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Titel
Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten


Autor(en)
Bacia, Jürgen; Wenzel, Cornelia
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Department of English, Germanics and Romance Studies, Universität Kopenhagen

Zu Recht ist immer wieder einmal die Frage aufgeworfen worden, inwieweit eigentlich staatliche und kommunale Archive Auskunft über Lebenswirklichkeiten jenseits verwaltungsbürokratischer Abläufe geben können. In jedem Falle repräsentieren sie in erster Linie die Perspektive von oben auf Vorgänge, die in der Gesellschaft vonstatten gehen – und damit eine sehr begrenzte Sicht. Zahlreiche historiografisch relevante Entwicklungen lassen sich mit den dort vorhandenen Quellen überhaupt nicht oder nur sehr begrenzt rekonstruieren. Das gilt etwa für die Intellektuellengeschichte, die Wirtschafts- oder die Kulturgeschichte und vieles mehr. Selbst für die politische Geschichte gilt, dass etwa Parteien- und Gewerkschaftsarchive mehr zu bieten haben, weil sie näher an den Akteuren „von unten” operieren, deren Diskussionen und Aktivitäten sich hier stärker niederschlagen als in der Verwaltungsüberlieferung. Allerdings hat der gesellschaftliche und politische Wandel der vergangenen Dekaden eine Lücke entstehen lassen. Denn je stärker die repräsentative Demokratie durch partizipatorische Elemente ergänzt wurde und je mehr Mitglieder die Parteien verlieren, je stärker sich also politische Aktivität auf Akteure und Felder außerhalb der Parlamente und Parteien verlegt, desto drängender wird die Frage, wie systematisch sie eigentlich dokumentiert wird. Während der Bestand der Parteienarchive durch staatliche Zuschüsse langfristig gesichert ist, ist dies im politischen Feld jenseits der Parlamente und Parteien keineswegs der Fall. Ein wachsender Teil des politischen Geschehens wird also nicht durch öffentliche Mittel archivarisch gesichert und für die Forschung aufbereitet, was potenziell die historiografische Perspektive auf den politischen Wandel verzerrt.

Dieser Erkenntnis kann sich kaum entziehen, wer das von Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel herausgegebene Buch zur Situation der „freien Archive” studiert. Wobei ihre Bestandsaufnahme weit mehr ist als eine Klage über die in der Tat skandalös dilatorische Behandlung der Dokumentationsleistung dieser Archive durch die öffentliche Hand. Den Begriff „freie Archive” haben die Herausgeber gewählt zur Bezeichnung jenes bunten Spektrums politischer Sammlungen, die unter den unterschiedlichsten Bezeichnungen zumeist aus den neuen sozialen Bewegungen entstanden sind. Zur groben Orientierung unterscheiden sie dabei linksalternative bzw. autonome Archive wie das ID-Archiv, das in Freiburg ansässige Archiv sozialer Bewegungen in Baden, das Berliner „Papiertiger”-Archiv oder das afas-Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg, Archive der Frauenbewegung wie das „Spinnboden Lesbenarchiv” in Berlin oder der „FrauenMediaTurm” in Köln, Archive der Schwulenbewegung wie das Archiv des Schwulen Museums in Berlin, die Archive der Umweltschutzbewegung, die als „Umweltbibliotheken” vor allem in der DDR entstanden waren. Darüber hinaus gibt es weitere Archive der DDR-Opposition, Archive zu Internationalismus, Dritte Welt, Zwei-Drittel-Welt, Eine Welt, Archive der Friedensbewegung, Archive zu Jugendbewegungen und -kulturen und Archive der Geschichtswerkstätten.

„Frei” sind diese Archive im dialektischen Sinne, ganz ähnlich wie der „doppelt freie Lohnarbeiter” bei Karl Marx – frei von den Fesseln der Leibeigenschaft, aber auch frei von Produktionsmitteln. Die Freiheit der Archive von Zwängen beruht auf der Entscheidung, ihre Materialien nicht staatlichen Archiven anzuvertrauen (die daran anfangs allerdings auch nicht besonders interessiert waren). Sie resultiert aus der Geschichte der Bewegungen, denen sie entstammten, die insofern mit guten Gründen den Staat als Feind betrachteten, als er sie häufig auszuspähen und zu unterdrücken trachtete. Wollte man Akten zunächst als Arbeitsmaterial, dann als Dokumentation der eigenen Geschichte und Basis historischer Identitätsstiftung aufbewahren, dann musste das daher in eigener Regie geschehen. Gleichzeitig entsprach die Entscheidung gegen staatliche Archive dem in diesen Milieus vorherrschenden anti-institutionellen Selbstverständnis: Man arbeitete freiwillig, egalitär, anfangs durchweg unbezahlt und eignete sich kollektiv und autodidaktisch jene Kenntnisse an, die professionellen Archivaren in staatlichen Ausbildungsgängen beigebracht werden. Zumeist in der Hochzeit der neuen sozialen Bewegungen in den 1980er-Jahren entstanden, haben sich so einige dieser Sammelinitiativen über die Jahre zu professionell geführten Archiven entwickelt, die den Benutzern erstklassig aufbereitetes und verzeichnetes Material vorlegen, während zahlreiche andere jener Fluktuation zum Opfer fielen, die generell von unten betriebene und auf Altruismus und Freiwilligkeit beruhende Initiativen kennzeichnet. Eine frühe Bestandsaufnahme von 1990 kam auf 278 „andere Archive”, während Bacia und Wenzel gegenwärtig eine Zahl von etwa 100 für realistisch halten.1

Ihre Schätzung beruht auf einer 2011 und 2012 veranstalteten umfassenden Befragung der „freien Archive”, die zahlreiche aufschlussreiche Informationen zutage gebracht hat und in vorliegendem Buch ausgewertet wird. Neben diesem ersten Teil und einem Blick auf diejenigen an Institutionen gebundenen, also „nicht-freien” Archive, die vergleichbare Sammlungen akquiriert haben, werden die Geschichte der alternativen Archivbewegung skizziert sowie eine Reihe von Beispielen in ihrer gegenwärtigen Form vorgestellt. Ein Blick in die Zukunft und ein knappes Verzeichnis der bestehenden Institutionen dieser Art schließen den Band ab.2

Die Bestandsaufnahme ergibt ein gemischtes Bild. Etwa zwei Dutzend „freie Archive” haben ihre Arbeit so professionalisiert, dass sie langfristig existenzfähig sind, allerdings zumeist lediglich über jeweils zeitlich befristete Projektmittel. Nur ausnahmsweise – hier ist allen voran das nicht aus Bewegungskontexten entstandene Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu nennen – ist eine ausreichende Finanzierung gesichert, ohne dass nebenher Bildungsarbeit oder andere archivfremde Dienstleistungen ausgeführt werden müssten. In den 90 in diese Untersuchung einbezogenen Archiven arbeiten insgesamt 449 Personen, davon allerdings nur etwa 40 Prozent bezahlt – und wenn, dann zumeist in Teilzeitstellung. Nur zehn Archive verfügen über fünf oder mehr bezahlte Stellen. Generell am besten ausgestattet im Hinblick auf (entlohntes) Personal sind die Archive der Frauen- bzw. Lesbenbewegung, die gleichzeitig auch zu den ältesten gehören.

Mitunter fällt eine Neigung auf, die Bewegungen der 1960er- bis 1980er-Jahre als alleinigen Nukleus einer angemessen kritischen Reflexion der Industriegesellschaft zu betrachten, wobei beispielsweise vorgängige Umwelt- und Naturschutzbewegungen, anders als die Herausgeber meinen (S. 73), nicht auf reaktionäre Motive zu reduzieren sind. Auch könnten Zuordnungsfragen diskutiert werden – etwa diejenige, ob das Berliner Archiv der Jugendbewegungen, das kaum als „politisches Archiv” (S. 9) bezeichnet werden kann, hier angemessen verortet ist. Aber das sind Petitessen angesichts der insgesamt bemerkenswert reflektierten Darstellung und Diskussion, die in diesem Band vorherrscht. Er ist nicht nur überaus nützlich als Handbuch für Praktiker, die sich für die Geschichte der außerparlamentarischen Bewegungen in der Bundesrepublik interessieren und auf der Suche nach Quellen sind. Darüber hinaus birgt er wichtige Informationen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft – insbesondere jener Geschichtsbewegung der 1980er-Jahre, die als „Geschichte von unten” der deutschen Historiografie einen Erneuerungsschub verpasste und seither, wie viele der parallelen Bewegungen, zwischen Niedergang, Transformation und Institutionalisierung changierte. Und das Buch bietet ein Lehrstück zur interessengeleiteten Behandlung früherer antistaatlicher Opposition durch die Politik der Gegenwart. Während es Archiven der DDR-Opposition gelang, sich unter dem Signum der „Aufarbeitung der DDR-Diktatur” staatliche Mittel und damit eine langfristige Existenz zu sichern, kann von einer systematischen Förderung der „freien Archive” in Westdeutschland keine Rede sein. Es ist zu hoffen, dass auch hier, wenn schon nicht aus politischen, so doch wenigstens aus Gründen der Bestandssicherung, die Einsicht Platz greift, dass Förderung dringend nötig ist, um auch weiterhin Forschung zu einem zunehmend bedeutsamen Aspekt der politischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen.

Anmerkungen:
1 ID-Archiv im IISG (Hrsg.), Reader der „anderen” Archive. Erarbeitet v. Axel Diederich u. Waldemar Schindowski, Berlin 1990.
2 Ein ausführlicheres und aktualisiertes Verzeichnis findet sich unter <www.afas-archiv.de/vda.html> (17.12.2013).

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