S. Brakensiek u.a.: Herrschaft an der Grenze

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Titel
Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Vári, András; Pál, Judit; Brakensiek, Stefan
Reihe
Adelswelten 2
Erschienen
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Spannenberger, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die vorliegende Monographie ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts unter dem Titel „Frühneuzeitliche Institutionen in ihrem sozialen Kontext – Praktiken lokaler Politik, Justiz und Verwaltung im internationalen Vergleich“. Internationale Zusammenarbeit lässt sich in diesem Fall nicht allein damit belegen, dass eine Autorin aus dem rumänischen Siebenbürgen, der zweite Autor aus Ungarn und der dritte aus Deutschland stammen, sondern auch mit dem Transfer des theoretischen Gerüsts, wofür sich Stefan Brakensiek verantwortlich zeigt. Die reiche Theorieernte der deutschen frühneuzeitlichen Klientelismusforschung sollte an einem ostmitteleuropäischen Beispiel „erprobt“ werden, zumal dieses Forschungsfeld in Ungarn bislang tatsächlich nahezu unentdeckt blieb (S. 33). Um es gleich vorauszuschicken: Es war eine selten gelungene Kooperation, und die Resultate sind fulminant. Sie machen deutlich, welche Inhalte die ‚zur Sprache gebrachten‘ Quellen des gewaltigen Bestands des Familienarchivs Károlyi in sich bergen.

Denn dieses von der Forschung in toto sträflich vernachlässigte Juwel wurde bislang in erster Linie in Bezug auf den Kuruzzenaufstand des Fürsten Franz II. Rákóczy (1703–1711) herangezogen, sozio-ökonomische Fragestellungen waren von eher untergeordneter Relevanz. Die Autoren dagegen wollen anhand dieser Sammlung „Mikrogeschichten der Macht“ mithilfe von „biografischen Miniaturen“ (S. 345) erstellen – entlang der Frage, „wie personale Verflechtungen zwischen Akteuren auf deren politisches, administratives und rechtliches Handeln einwirkten“ (S. 9). Die zentrale Ausgangsthese – die sich übrigens auch bestätigen ließ – lautet, dass viele Entscheidungen nicht allein aufgrund formaler Verfahren, sondern durch familiäre bzw. klientelare Beziehungen getroffen wurden. In einem chronologischen Querschnitt von 1711 bis zum frühen 19. Jahrhundert gelingt es den Autoren in akribischer Quellenarbeit, den Wandel der Loyalitätsbeziehungen im 18. Jahrhundert am Beispiel der Grafenfamilie Károlyi im Komitat Sathmar im historischen Partium nachzuzeichnen. Insofern täuscht allerdings der Titel, denn es handelt sich um eine Fallstudie der Dominien der Károlyis und keineswegs um eine komparative Untersuchung ostungarischer Herrschaftsverhältnisse. Der global anmutende Titel dürfte vermarktungsstrategischen Überlegungen geschuldet sein, was aber nur am Anfang Irritationen auslöst und beim Lesen zunehmend in den Hintergrund gerät.

Das Buch gliedert sich in elf Kapitel: Nach Klärung des theoretischen, begrifflichen und konzeptionellen Rahmens wird in Kapitel 2 ein Überblick über die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Ungarns sowie über die Familien- und Domänengeschichte der Károlyis gegeben. So gelungen die Behandlung des ersteren Themenkomplexes einzustufen ist (vor allem S. 60–67), der besonders für Nichtungarischsprachige mit enormem Gewinn zu lesen ist, so fragwürdig sind Aussagen aus dem zweiten. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Rekapitulierung des Kuruzzenaufstands unter Rákóczy, der bis heute einen integralen Bestandteil der nationalen Identität der Magyaren bildet, spiegelt Konstrukte der Nationalromantik wider. Während die Verwüstungen der Türkenkriege in dunklen Tönen geschildert werden, wird nicht deutlich, dass das Gros der Zerstörungen in Sathmar während dieser Kuruzzenkriege stattfand (S. 38–41). Nicht anders ist einzustufen, wenn vom „gegenreformatorischen Terror“ der Habsburger (S. 44) oder von einer konsequenten Umsetzung des „cuius regio-Prinzips“ (S. 45) die Rede ist. Kritische Distanz wäre hier notwendig gewesen, denn gerade die Károlyis gingen keineswegs zimperlich gegen Protestanten vor und stärkten mithilfe von Kolonisationen die Katholiken. Allein: Das hing mit dem Loyalitätseifer eines Alexander Károlyi zusammen, der vom kaisertreuen Adeligen zum charismatischen Kuruzzengeneral wurde, um 1711 erneut die Fronten zu wechseln und seine Ergebenheit gegenüber dem Kaiserhaus erneut unter Beweis zu stellen. Zugleich aber versuchte ausgerechnet er calvinistische und griechisch-katholische Untertanen in seinen Dominien anzusiedeln, die aber weder quantitativ noch qualitativ seinen Erwartungen entsprachen. Auch das führte zur forcierten Ansiedlung von katholischen Deutschen, die die ethnische und konfessionelle Landkarte nachhaltig veränderten.

Für ebenso widersprüchliche wie fragwürdige Thesen zeichnet der 2011 gestorbene András Vári verantwortlich, der den Großteil der Monographie verfasst hat. Gekonnt überträgt er seine reichen Forschungsergebnisse in dieses Projekt, geht routiniert und eloquent mit dem Forschungsstand um, verweist auf Desiderate und stellt immer wieder seine eigenen Meriten heraus. In einer ungewöhnlichen Nonchalance geht er mit dem Übervater der deutschen Südosteuropageschichtsschreibung, Holm Sundhaussen, ins Gericht, dem er die Vertretung der „in der marxistischen Tradition stehende[n] Historiografie“ attestiert und dessen zum Dogma versteinerte These einer „zweiten Leibeigenschaft“ er kritisiert (S. 216).

Doch seine Souveränität entgleitet nicht selten in Überheblichkeit, die zu saloppen und mitunter falschen Formulierungen verführt. Pauschal und unzutreffend ist beispielsweise die Aussage, wonach die ungarischen Dominien lediglich in der Armee und den Bergbaustädten Absatzmärkte gefunden hätten (S. 216). Sehr wohl wurden in den Neoacquistica-Gebieten Transporte für andere Märkte organisiert, die Donauhafenstädte dienten zur Weiterbeförderung, und in großen Städten wie Ofen (ungarisch Buda) oder Raab (ungarisch Győr) wurde Getreide verkauft. Es liegt nicht im Bereich der Vermutungen, wonach im Ungarn des 18. Jahrhunderts „Kriege wachstumsfördernd waren“ (S. 41). Karl-Peter Krauss etwa wies in seinen Arbeiten genau dies akribisch nach und machte auch den Zusammenhang mit den Kolonisationen deutlich. Warum keine Neusiedler aus Oberungarn geholt wurden (S. 46), ist in der Forschung ebenfalls längst geklärt. Übrigens, die deutschen Siedler waren keine Hörigen (S. 124), sondern stets libera migrationes gewesen, genau wie auch ungarische oder ruthenische Neusiedler, was aus der Sicht der Herrschaft der Ursprung vieler Probleme in der Konsolidierungszeit war. Der Sinn der Flussregulierung und ähnlicher Maßnahmen bestand nicht allein darin, Gelder zu verpulvern (S. 292), vielmehr erschien die Kultivierung des Lacus Ecsediensis aus ökonomischen wie aus infrastrukturellen Gründen notwendig – von Hygiene gar nicht zu reden.

Solide und feinfühlig nachgezeichnete Fallbeispiele liefert Judit Pál mit den Klienten Gabriel Erős und Josef Zanathy bzw. der Stadt Sathmar in den Kapiteln 5, 6 und 8. Besonders am Fall Erős wird deutlich, welche Wirkmacht eine Klientelbeziehung zu entfalten vermochte, wenn zwar eine „asymmetrische“, aber zugleich reziproke Abhängigkeit vorherrschte und handlungsbestimmend war. Überzeugend werden zudem die fluiden Übergänge von der postkriegerischen Konsolidierungsphase in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Josephinismus und zur Bürokratisierung der Domänenverwaltung Anfang des 19. Jahrhunderts rekonstruiert. Während anfangs der patrimoniale Herrschaftsverband – den Autoren zufolge – alternativlos war, zumal Staatsferne als prägendes Charakteristikum galt, musste es zu qualitativen Veränderungen ob der Dauerpräsenz der Grundherren in Wien und/oder Pressburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommen. Perfektionierung der Funktionstüchtigkeit der Herrschaftsverwaltung und Vertiefung des Klientelnetzwerks werden als komplementäre Prozesse beschrieben, die durchaus im Sinne des Patrons wie der Klienten waren und zugleich als Motoren dieser Entwicklung galten. Verschriftlichung und Versachlichung der Domänenverwaltung machten klientelare Strukturen also keineswegs überflüssig, vielmehr generierten diese qualitativen Wandel (S. 339). Vertrauensbeweise waren dabei ebenso auf der Agenda wie forcierte Strategien des Konnubiums, um Integration, aber auch Kontrollinstrumentarien seitens der Herrschaft aufzubauen. So verkörperte in der Entwicklung von der traditionellen zur frühmodernen Domänenverwaltung an der Wende zum 19. Jahrhundert Ignaz Klobusiczky den Idealtypus einer „intermediären Herrschaft“. Die „Unentbehrlichkeit“ eines solchen Klienten bestand nicht allein in seiner persönlichen Bindung an den Patron, sondern auch in seinen Fachkenntnissen, seiner hervorragenden Bildung und seiner sozialen Rolle in der örtlichen Elite.

Allein die Ergebnisse aus dieser Fallstudie würden ausreichen, Anerkennung zu zollen. Die Autoren wollen aber zu weiterführenden Forschungen ermuntern. Weitere Fallstudien würden höchstwahrscheinlich so manche Erkenntnisse erhärten: Die Károlyis waren keine Einzelgänger, sondern Kinder ihrer Zeit, wenn auch in mancherlei Hinsicht ihrer Zeit voraus oder einfach nur konsequenter als viele Zeitgenossen. Staatsferne und Abwesenheit des Grundherrn waren im ungarischen Hochadel eher die Regel als die Ausnahme; dementsprechend gab es auch bei der Herrschaftsverwaltung keine Alternative zum Klientelismus. In welchem Maße Entwicklungsschritte tatsächlich synchron verliefen, belegt etwa das Beispiel der mächtigsten Magnatenfamilie, der Esterházys, die ungefähr zeitgleich aus pragmatischen Gründen ebenfalls ein Güterarchiv errichtete und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einen Regenten oder Bonorum Regens als Spitzenbeamten einsetzte, womit die pyramidenförmige Zentralisation der Herrschaftsverwaltung ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Die Residenzstadt Wien war für den Hochadel nicht allein das Zentrum der Machtrepräsentation, sondern eine Ideenbörse, derer er sich mit allen Mitteln bediente und die er als Reservoir der Modernisierung betrachtete. Und eine enorme Verschuldung machte die aggressive Güterexpansion erst möglich, wobei die Parallelen zwischen den Károlyis und den Esterházys, um nur die beiden reichsten Adelssippen zu nennen, offensichtlich werden.

Auch in einer weiteren komparativen Hinsicht machen die Ergebnisse dieser Monographie nachdenklich: Die Autoren rekurrieren auf Überlegungen aus dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig, das „Abschied von der üblichen Vorstellung [nimmt], dass die Geschichte dieser europäischen Großregion eine Geschichte der Mängel gewesen sei“ (S. 347). Doch lässt sich dieses hypothetische Postulat wirklich mit den Erkenntnissen aus diesem Buch untermauern?

Selbst für die Zeit nach 1867 – also mit dem Ausbau des zentralisierten Nationalstaats – bescheinigen die Autoren der ungarischen Verwaltung und Rechtsprechung auf lokaler Ebene treffend „Staatsferne“, die wiederum Herrschaftsbeamte „bei vielen Gelegenheiten zu Richtern in eigener Sache“ machte (S. 341) und Untertanen „Ohnmachtserfahrungen“ in Rechtsstreitigkeiten mit dem Dominium bescherte. Alternative Konfliktlösungsstrategien wie Bestechungsgelder und die Inanspruchnahme asymmetrischer Abhängigkeitsbeziehungen (S. 344) stellten selbst in der Moderne ein unentbehrliches Instrument der Untertanen dar – trotz Verrechtlichung durch den Staat (S. 343). Somit wurde tatsächlich die „Pflege von Klientelbeziehungen […] Teil der Verhaltenskulturen breitester Schichten“ (S. 344). Doch während dies für die Länder der Stephanskrone prägend blieb, trat in den österreichischen Erbländern oder in den Ländern der böhmischen Krone eine andere Entwicklung ein. Tatsächlich bleibt daher die als letzter Satz aufgeworfene Frage spannend, ob dies eine Besonderheit Ungarns darstellte oder aber „sich nicht ähnliche Phänomene auch in anderen Teilen Ostmitteleuropas beobachten ließen – und möglicherweise auch darüber hinaus?“ (S. 360).

Diese Frage zu beantworten ist wahrlich nicht die Aufgabe dieses Buchs. Es inspiriert aber zu weiterführenden Forschungen, was die zahlreichen Meriten dieser hervorragend geschriebenen, akribisch recherchierten und fesselnd zu lesenden Monographie abrundet.

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