A. Cartellieri: Tagebücher eines deutschen Historikers

Cover
Titel
Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit 1899–1953, hrsg. v. Matthias Steinbach u. Uwe Dathe


Autor(en)
Cartellieri, Alexander
Reihe
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 69
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
980 S.
Preis
€ 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard A. Ritter, Berlin

Alexander Cartellieri war ein stark national ausgerichteter konservativer Repräsentant des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Als Historiker war er als Spezialist für die französische Geschichte des Mittelalters und Verfasser einer fünfbändigen Weltgeschichte für die Zeit von 382 bis 11901 eher ein Außenseiter der Zunft, der nach seiner frühen Berufung nach Jena 1902 zuerst als außerordentlicher Professor und 1904 als Ordinarius zu seiner großen Enttäuschung – er verachtete die schlecht ausgestattete Universität des „popeligen“ Jena als Produkt der von ihm verurteilten deutschen Kleinstaaterei – keinen weiteren Ruf erhielt.

Die bewusst mit Blick auf die Nachwelt geschriebenen Tagebücher sind als Spiegel der Mentalität aber auch der sozialen Probleme deutscher Geisteswissenschaftler, als Einblick in das innere Leben einer kleinen Universitätsstadt, als Arbeitsjournal für Cartellieris wissenschaftliche Pläne vor allem aber als laufender Kommentar zu den politischen Entwicklungen vom Kaiserreich über den Ersten Weltkrieg bis zu den ersten Jahren der DDR eine hervorragende Quelle. Cartellieri führte das Tagebuch vom 1. Januar 1878 bis zum Herbst 1954 zunächst fast täglich, ab 1903 als Sonntagstagebuch seit 1902 mit Schreibmaschine. Von den insgesamt 12.000 Seiten wurden im vorliegenden Band nur ein kleiner Teil veröffentlicht, beginnend mit Cartellieris Lehrtätigkeit in Heidelberg 1899. Das Schwergewicht der Edition bildet der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik und die NS-Zeit.

Cartellieri stammte aus einer Ende des 18. Jahrhunderts aus Mailand ausgewanderten Musikantenfamilie. In Deutschland wurden aus den Musikanten Kaufleute. Sein Großvater väterlicherseits war Stadtkämmerer in Pillau, sein Vater für das jüdisch-armenische Bankhaus Ephrussi & Co. zunächst in Odessa und Paris tätig, danach war er selbstständiger Unternehmer. Cartellieri wurde in Odessa 1867 geboren, kam 1872 nach Paris und besuchte seit 1883 ein Gymnasium in Gütersloh. Er wurde von seinem Vater – einem Bismarckverehrer – deutsch-national erzogen, beherrschte Französisch als zweite Muttersprache und war der französischen wie italienischen Kultur eng verbunden. In seinen Gymnasialjahren und während des Geschichtsstudiums in Tübingen, Leipzig und Berlin faszinierte ihn Ranke, der „größte Geschichtsschreiber aller Völker und Zeiten“ (S. 889), an dessen Konzept der Einheit der germanisch-romanischen Kultur er zeitlebens festhielt. In seiner 1893 in der „Revue Historique“ veröffentlichten Dissertation befasste er sich mit der Jugend des französischen Königs Philipp II. August (1165–1223), der im Zentrum seiner Forschungen in den nächsten drei Jahrzehnten stand. Seine vierbändige Biographie2 schilderte diesen König wegen der Durchsetzung der königlichen Macht gegen die Feudalherren und der Erweiterung seiner Herrschaft als wohl bedeutendsten Monarchen seiner Zeit, der die Grundlage für den französischen Durchbruch zur Großmacht legte. Dabei zeichnete er ihn vor allem als Kämpfer gegen die Machtstellung Englands auf dem europäischen Kontinent. Cartellieris Biographie wurde in Frankreich, wo der König mit deutlich antideutschem Akzent als Symbol für die Größe des eigenen Landes angesehen wurde, aber auch in Belgien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten insgesamt positiv gewürdigt, in Deutschland aber nur wenig beachtet. Die weitgehende Abschottung der deutschen Wissenschaft von der des westlichen Auslands seit dem Ersten Weltkrieg war für Cartellieri nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine persönliche Tragödie, da seine kollegialen Kontakte, vor allem mit französischen Gelehrten abrissen, seine Freundschaft mit dem großen belgischen Historiker Henri Pirenne zerbrach und die Anschaffung ausländischer Quellen und Literatur schwierig wurde. Seine Arbeiten zur französischen Geschichte blieben nun fast ohne Echo.

Cartellieri wandte sich seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend seinem zweiten großen Thema zu, der Weltgeschichte als Machtgeschichte, wobei er Wirtschafts-, Verfassungs- und Geistesgeschichte bei aller Bedeutung, die er ihnen für den Staat zumaß, bewusst ausgeklammerte. 1919 und 1922 in erheblich erweiterter zweiter Auflage legte er die „Grundzüge der Weltgeschichte“ vor, die von den altorientalischen Weltreichen bis zum Ersten Weltkrieg als einer auf großen Männern beruhenden Geschichte von Ereignissen und ihren Wirkungen reichen. Das Konzept einer auf Machtgewinn und -erhalt und damit auf den Primat der Außenpolitik ausgerichteten Geschichte vor allem der Beziehungen der Staaten zueinander liegt auch seinem fünfbändigen Werk „Weltgeschichte als Machtgeschichte“ zu Grunde. Der erste Band erschien 1927 und behandelte die germanisch-arabischen Reichsgründungen von 382–911, der letzte, „Das Zeitalter Barbarossas. 1150–1190“, wurde 1972 postum herausgegeben. Die Entwicklung des Werks und seiner Grundkonzeptionen ist aus den Tagebüchern gut zu verfolgen. Dabei stand dieses Projekt zunächst im Wettstreit mit seinem schließlich aufgegebenen Plan, eine Geschichte des alten deutschen Kaisertums zu schreiben, das aber vor allem in den späteren Bänden seiner Weltgeschichte in Konkurrenz mit dem Aufstieg des Papsttums immer mehr in den Mittelpunkt der Darstellung rückt. Neben der abendländischen Welt werden Ostrom und die islamischen Weltreiche und deren Zurückdrängung und damit auch das Mittelmeer als wichtiger Raum der Geschichte in die Darstellung einbezogen. Afrika, der Rest Asiens und der amerikanische Kontinent kommen nicht vor. Trotz dieser thematischen Begrenzung des Buchs und seiner weitgehend positivistischen Beschränkung auf die Rekonstruktion von Ereignissen und ihren Wirkungen, stellt das Werk eine erhebliche Forschungsleistung dar, die aber von Historikern seiner Zeit im In- und Ausland kaum gewürdigt wurde. Cartellieri hat mit diesem Werk auch dazu beitragen wollen, die Weltgeltung der deutschen Wissenschaft zu fördern und die geistige Grundlage für den späteren Aufstieg Deutschlands zu einer europäischen Groß- und Weltmacht zu legen.

Cartellieri war ein ausgesprochen politischer Mensch, der aber im Unterschied zu anderen Historikern – wie etwa Friedrich Meinecke und Hans Delbrück – auch wegen seiner mangelnden journalistischen Begabung kaum publizistisch tätig war. Er teilte die politischen Grundüberzeugungen und Vorurteile vieler konservativ-national geprägter Historiker, war ein Verächter des Parteiwesens, des Parlamentarismus und des Liberalismus und verurteilte den Sozialismus und die deutsche Sozialdemokratie scharf, deren Entwicklung zum Revisionismus er in einer scharfsinnigen Analyse einer Rede Bebels zur Marokko-Krise sehr klar registrierte (S. 121). Er war, wie auch Meinecke, ein Anhänger von Friedrich Naumann und dessen Versuchen, dem Kaisertum eine breite soziale Basis zu geben und die Arbeiter für eine zugleich nationale und soziale Politik zu gewinnen.

Im Ersten Weltkrieg vertrat er ein ausuferndes Kriegszielprogramm und wurde zum Verehrer Ludendorffs und vor allem Hindenburgs. Er hoffte bis zum Kriegsende auf einen deutschen Sieg und lehnte einen Frieden ab, der auf Verständigung und auf einem Gleichgewicht der Kräfte beruhte. Während der Weimarer Republik war er ein radikaler Anhänger der Dolchstoßlegende. Der 9. November 1918 war für ihn „ein Tag unauslöslicher Schande für Deutschland“, die nur „durch Blut abgewaschen werden“ könnte (S. 389). Er räsonierte ständig über den nächsten Krieg, der Deutschland seine Großmachtstellung wiederbringen würde und verfolgte mit Interesse den Sieg des italienischen Faschismus, nach seiner Auffassung wohl „die erste grosse gegensozialistische Bewegung seit der französischen Revolution“ (S. 466).

In der Weimarer Republik zeigte sich Cartellieri als verfassungsloyal und beteiligte sich nicht an Putschen gegen sie. Politisch war er schon wegen seiner engen Bekanntschaft mit dem früheren Staatssekretär im Reichsamt des Inneren, Clemens von Delbrück, ein Anhänger der DNVP. Er hoffte auf den deutschen Einheitsstaat und darauf, dass ein Mann aus dem Volk – wie Jeanne d’Arc Anfang des 15. Jahrhunderts in Frankreich, – Deutschland innerlich einigen und zu neuer Größe führen würde. Diesen „Führer“ fand er in Hitler (S. 743), den er trotz einer gewissen elitär-konservativen Distanz zur NSDAP und zum radikalen Antisemitismus – als großen Deutschen verehrte. Dabei hielt er auch in der NS-Zeit daran fest, dass das Kaisertum „die für Deutschland gegebene Lebensform“ wäre und trotz seiner Verachtung für Wilhelm II. ein Hohenzoller Kaiser werden müsse (S. 758). Hitler folgte er bis zum bitteren Ende und erwartete völlig realitätsblind noch am 25. März 1945 den Sieg durch deutsche Wunderwaffen. In den Nachkriegsjahren litt er im russisch besetzten Jena an der deutschen Spaltung, glaubte aber weiter „an den Wiederaufbau Deutschlands“ (S. 874).

Die Tagebücher geben interessante Einblicke in die soziale Stellung des gebildeten, professoralen Mittelstands. Vor allem durch die Heirat mit der Tochter eines erfolgreichen Berliner Anwalts konnte er den Weg über die Habilitation zu Privatdozentur und Professur bestreiten und seine große Fachbibliothek aufbauen, die am Ende des Weltkrieges etwa 18.000 Bände umfasste. Diese machte ihn von den kargen Beständen der Jenaer Universitätsbibliothek weitgehend unabhängig und kam auch seinen vielen Schülern zu Gute. Wie viele seiner Kollegen registrierte er in der Inflation die Proletarisierung des Mittelstands und konnte seinen relativ hohen Lebensstandard der Vorkriegszeit nicht weiter aufrechterhalten. Immerhin erlaubte ihm aber der Verkauf von Teilen seiner Bibliothek einen bescheidenen Wohlstand in der Weimarer Republik und verhinderte zusammen mit Einnahmen aus der Vermietung eine völlige Verelendung in der DDR. Die Tagebücher enthalten viele interessante Einschätzungen von Kollegen, wie etwa Otto Brunner, Karl Hampe, Otto und Hedwig Hintze, Paul Fridolin Kehr, Erich Marcks, Friedrich Meinecke, Henri Pirenne und Heinrich von Sybel. Es handelt sich um Quellen, die bewusst für eine spätere Dissertation über sein Leben und Werk, die seit 2001 vorliegt3, aber auch als Steinbruch für spätere wissenschaftliche Arbeiten zur Universitätsgeschichte, zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte von Teilen des deutschen Bildungsbürgertums und nicht nur als Aufzeichnungen für den eigenen Gebrauch geschrieben wurden.

Die Herausgeber haben eine ausgezeichnete Edition vorgelegt. Die Auswahl der Texte ist gut begründet, wenn man auch noch einen Satz über das Verhältnis der Tagebücher zu den mehrfach zitierten, unveröffentlichten Erinnerungen Cartellieris gewünscht hätte. Die Anspielungen im Text, die Hinweise auf Ereignisse, Personen und Literatur, werden in den Anmerkungen gut erklärt; das Verzeichnis der archivalischen, der veröffentlichten Quellen und der benutzten Literatur wie auch ein ausführliches, gutes Personen- und Körperschaftsregister erleichtern die Benutzung des Bandes. Man möchte wünschen, dass ähnliche Quellen – wie etwa die des Historikers Hans Delbrück (1848–1929), der als langjähriger Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“ auch eine Schlüsselfigur der Publizistik seiner Zeit war, von der Historischen Kommission in Zukunft ediert werden.

Anmerkungen:
1 Alexander Cartellieri, Weltgeschichte als Machtgeschichte, 5 Bde., Bd. 1–4, München 1927–1941; Bd. 5, Aalen 1972.
2 Alexander Cartellieri, Philipp II. August, König von Frankreich, 4 Bde., Bd. 1–3, Leipzig 1899/1900–1910; Bd. 4/1 und 4/2, Leipzig 1921–1922.
3 Matthias Steinbach, Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland, Frankfurt am Main 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch