M. Osmers: Vergangenheitsbezüge in der polisübergreifenden Kommunikation

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Titel
„Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“. Vergangenheitsbezüge in der polisübergreifenden Kommunikation der klassischen Zeit


Autor(en)
Osmers, Maria
Reihe
Historia Einzelschriften 226
Erschienen
Stuttgart 2013: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Herrmann, Institut für Klassische Altertumskunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Fragen danach, wie sich im antiken Griechenland der Umgang mit der Vergangenheit gestaltete, wurden in den letzten Jahren vielfach gestellt. Einer davon geht nun auch die hier zu besprechende Arbeit von Maria Osmers nach, die eine geringfügige Überarbeitung ihrer 2012 in Bielefeld eingereichten Dissertation darstellt. Denn in ihr kommt allein der Bereich der zwischenstaatlichen Interaktion in den Blick. Erklärtes Ziel ist es, „mit Hilfe eines kommunikationshistorischen Ansatzes systematisch“ zu erschließen, „in welcher Weise sich die Griechen in der Außenpolitik auf Vergangenes bezogen, mit welcher Intention sie dieses taten und welche Wirkung auf das Gegenüber und das Verhältnis zueinander sie diesen Verweisen zuschrieben“ (S. 13). Als die wichtigsten theoretischen und methodischen Grundlagen dienen Osmers die Arbeiten von Egon Flaig und Hans-Joachim Gehrke.1

Der Aufbau ist folgendermaßen gestaltet: Nach einer Einleitung (S. 11–28) schließen sich zunächst umfangreiche theoretische und methodische Vorbemerkungen an (S. 29–96). Im dritten und größten Kapitel folgt dann der eigentliche Kern, der analytische Teil (S. 97–334). Dieses wiederum ist unterteilt anhand im Vorfeld erörterter Kategorien: verwandtschaftliche Beziehungen, Abstammung, ruhmreiche Taten, frühere Bündnisse und Feindschaften sowie gegnerische Frevel. Separat behandelt werden in einer akteursbezogenen Analyse noch die Spartaner (S. 315–334), wobei dieser Fokus dazu führt, dass sich vieles von dem, was vorher schon besprochen wurde, wiederholt. Den Schluss bilden ein Fazit (S. 335–342), ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 343–380) sowie hilfreiche Quellen-, Orts-, Personen- und Sachregister (S. 381–407).

Der analytische Teil ist argumentativ solide und nachvollziehbar aufgebaut, wodurch es Osmers gelingt, der bereits oft traktierten „griechischen Außenpolitik“ interessante Aspekte abzugewinnen. So kann sie mit Blick auf die verwandtschaftlichen Beziehungen (S. 100–142) deren „flexible[n], diskursive[n] und dynamische[n] Charakter“ (S. 134) verdeutlichen. Klar wird dies nicht nur an den Genealogien, mit denen Bezüge zu einem gemeinsamen mythischen Stammvater oder anderen Heroen gezogen wurden. Auch an der Konzeption von Dorier- und Ioniertum kann sie nachweisen, wie im 5. Jahrhundert, im wachsenden Spannungsfeld zwischen Athen und Sparta, zunehmend Differenzen in den Charaktereigenschaften konstruiert wurden, um „die Spaltung ideologisch zu unterfüttern“ (S. 132). Dass analog dazu auch die Bezüge auf die Abstammung und etwaige Vorfahren zu verstehen sind, zeigt Osmers im nächsten Abschnitt (S. 143–190) auf. Hier wird ersichtlich, dass das Motiv der Autochthonie „ein flexibles Gebilde“ (S. 158) darstellte, mit dem Territorialansprüche erhoben sowie besondere Charakterzüge wie Ursprünglichkeit und Bodenständigkeit postuliert werden konnten, und dass auch Verweise auf Heroen ganz ähnlich funktionierten. In umfangreichsten Abschnitt untersucht Osmers dann die Bezugnahmen auf ruhmreiche Taten und Leistungen (S. 190–288). Hier steht, neben kulturellen und zivilisatorischen Leistungen, vor allem die Erinnerung an die Perserkriege im Zentrum. Überzeugend kann hier dargelegt werden, wie die Athener im Verlauf des 5. und 4. Jahrhunderts ihre Version der Schlacht von Marathon erfolgreich im griechischen Raum durchsetzen und sie somit „in den Komplex der griechischen Freiheitskriege […] als deren fester Bestandteil“ (S. 206) integrieren konnten. Ihre Stadt erschien somit als „Vorkämpferin Griechenlands“ (S. 209), aber demonstriert wurden dadurch auch ihre Opferbereitschaft und Tatkraft für ganz Griechenland. Wie für ähnliche Zwecke auch die Schlachten bei Salamis, den Thermopylen und Plataiai sowohl von athenischer als auch von spartanischer Seite vereinnahmt wurden, wird im Folgenden gezeigt. Gerade die Spartaner konnten so ihre Opferbereitschaft beweisen und sich zugleich erfolgreich „als Befreier Griechenlands“ (S. 249) präsentieren. Dass Versionen anderer Poleis – näher betrachtet werden Theben, Kerkyra, Kreta, Argos, Syrakus, Korinth – hingegen marginalisiert wurden, wird ebenfalls deutlich. Um eine Anerkennung ihrer Forderungen zu erreichen, konnten zwar auch sie ihre jeweiligen Verdienste herausstellen. Ihre beste Option bestand aber vor allem darin, die beiden Führungsmächte an ihren eigenen Deutungen zu messen, indem sie in der Kommunikation wiederum deren Parolen von „Autonomie, Freiheit und […] Gewährung von Schutz für kleinere Poleis“ (S. 276) bemühten. Kurz beleuchtet werden schließlich noch weitere Vergangenheitsbezüge (S. 288–314): einerseits die Anspielung auf frühere Bündnisse und andererseits die Konstruktion von Erzfeindschaften, häufig durch die Projektion von gegnerischen Freveln in die Vergangenheit.

Für einen Gesamteindruck dürfen aber auch die Mängel der Arbeit nicht unerwähnt bleiben. Da ist zum einen eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Durchführung zu kritisieren, etwa dann, wenn Osmers gleich eingangs „gemeinsame moralische Werte“ (S. 38) als Grundlage der außenpolitischen Kommunikation ausschließt, diese aber im Verlauf der Argumentation wieder heranzieht. Wenn nämlich behauptet wird, dass durch bestimmte Vergangenheitsbezüge eine „traditionelle Tugendhaftigkeit“ (S. 197) betont werden sollte, kann das doch nur greifen, wenn diese als Gut auch von anderen anerkannt, mithin also eine gemeinsame moralische Basis zugrunde gelegt werden konnte. Und so überrascht es auch nicht, dass im Verlauf der Arbeit immer wieder mit diesen gemeinsamen Werten operiert wird.2 Zum anderen bleiben die theoretischen Überlegungen zu Beginn teilweise eher verwirrend, insbesondere die dort gelieferte Differenzierung nach den Formen der polisübergreifenden Kommunikation in „ergebnisorientiert“, „anlassgebunden“ und „diskursiv“. Dass es nämlich vor allem mit Blick auf die beiden ersten Formen an Trennschärfe fehlt, offenbart schon ihre Definition.3 Und in der Durchführung führt das zu irritierenden, einander gar widersprechenden Bestimmungen.4 Überhaupt aber wird der Erkenntnismehrwert einer solchen Differenzierung nicht recht ersichtlich. Hier drängt sich der Eindruck auf, es werde allein um der Theorie willen unnötiger Staub aufgewirbelt. Stilistisch schließlich fällt die stellenweise fast schon gebetsmühlenartige Wiederholung bestimmter Wörter unangenehm auf – vor allem „Aushandlungsprozesse“ (wahlweise als polisübergreifende, anlassgebundene, außenpolitische, innenpolitische oder nur politische),5 aber auch „kodieren“ bzw. „chiffrieren“ –, die damit zu regelrechten Worthülsen ausgehöhlt werden. Und obgleich sich nur wenige Orthographiefehler zeigen, stört doch der wiederholt falsche Gebrauch bestimmter Wörter.6

Für ein abschließendes Urteil wiegen diese Kritikpunkte allerdings nicht sehr schwer. Denn obgleich freilich manche Deutungen im Detail fraglich bleiben, überzeugen kann vor allem die solide Quellenarbeit, durch die interessante Einsichten und plausible Antworten auf die eingangs gestellte Frage geliefert werden können. Schließlich sind somit zwei Verdienste der Arbeit hervorzuheben. Sie bietet einen geeigneten Einstieg in ihr Thema. Und sie regt dazu an, den Umgang der Griechen mit ihrer Vergangenheit weiter zu durchdenken: insbesondere das offenbar gewordene Spannungsverhältnis zwischen der einerseits (nur fingierten) Kontinuität und Stabilität – siehe Obertitel der Arbeit – und der andererseits immer wieder zu konstatierenden Flexibilität.

Anmerkungen:
1 Vgl. Egon Flaig, Der mythogene Vergangenheitsbezug bei den Griechen, in: Jan Assmann, Klaus E. Müller (Hrsg.), Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das alte Ägypten und das Frühe Griechenland, Stuttgart 2005, 215–248; Lin Foxhall / Hans-Joachim Gehrke / Nino Luraghi (Hrsg.), Intentional History. Spinning Time in Ancient Greece, Stuttgart 2010.
2 Man beachte etwa die Aussagen zur Chorlyrik (S. 56, Anm. 163) und den Historikern (S. 66). Die Rede ist zudem von einem gemeinsamen religiösen Wertesystem (vgl. S. 33; S. 299), später auch von „gemeinsamen Werte[n] aller Griechen“ (S. 227; vgl. S. 308) und einem „gemeinsame[n] Wertesystem“ (S. 309; S. 313), „gemeinsamen Wertevorstellungen“ (S. 311) und dann sogar von „allgemein gültige[n] Werte[n]“ (S. 339) sowie einer „geltenden normativen Ordnung“ (S. 311 und ff.) in der Außenpolitik.
3 Vgl. S. 44–46.
4 So wird die Bitte eines Atheners an die Spartaner um Beistand (Hdt. 6,106,2) als „anlassgebunden[e]“ (S. 154) Kommunikation bezeichnet, die Bitte der Spartaner an die Athener um dasselbe aber (Xen. Hell. 6,5,43) als „ergebnisorientiert“ (S. 236). Wenn die Arkader nach ihrer Vereinigung im Arkadischen Bund selbstbewusst nach der Vorherrschaft auf der Peloponnes greifen (Xen. Hell. 7,1,23), dann verlaufe die „Argumentation […] anlassgebunden und zeigt sich zugleich ergebnisorientiert“ (S. 168). Verwirrend ist auch: „Der Streit zwischen Tegeaten und Athenern zeigt sich vielmehr als anlassgebunden und zielte auf eine Neustrukturierung bzw. eine Hinterfragung und damit eine einhergehende Festsetzung bestimmter Machtkonstellationen […]“ (S. 191). Für weitere Beispiele vgl. S. 274; S. 314f.
5 Ein sicher unvollständiger Blick zeigt folgende Verteilung: 2 x S. 12, S. 13, 2 x S. 17, S. 18, S. 19, S. 24, S. 25, S. 26, 2 x S. 28, S. 32, 2 x S. 94, S. 96, S. 97, 2 x S. 100, S. 108, S. 124, S. 141, S. 142, S. 147, S. 153, 2 x S. 165, S. 166, S. 184, S. 185, S. 191, S. 195, S. 225, 2 x S. 274, S. 275, 2 x S. 276, S. 284, S. 285, S. 294, S. 295, S. 309, S. 323, 2 x S. 335, S. 337, S. 340, S. 341.
6 So wird mehrfach „der Verdienst“ geschrieben, wo eigentlich „das Verdienst“ gemeint ist. Auf S. 218 heißt es „athenischer Verdienst“, auf S. 226, S. 251, S. 338 liest man „den Hauptverdienst“, obwohl es auf S. 235 richtig gebraucht wird. Auf S. 226, S. 236, Anm. 758 sowie S. 286 ist „der Hellenika“ zu lesen, obwohl der Plural auf S. 333 richtig erscheint.

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