Cover
Titel
1989 und wir. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall


Autor(en)
Klinge, Sebastian
Reihe
Histoire 61
Anzahl Seiten
435 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Stach, Deutsches Historisches Institut Warschau

Ein Gespenst geht um in Europa. Nein, eigentlich nicht ein Gespenst, sondern viele Gespenster – nämlich die Gespenster von 1989. Anstelle des Marx’schen Kommunismus spuken die „Friedliche Revolution“ und der „Mauerfall“ durch das Jahr 2009 und bringen damit den modernen Zeitstrahl gehörig durcheinander. So ließe sich das vorliegende Buch von Sebastian Klinge über Geschichtspolitik und Erinnerungskultur seit 1989 zusammenfassen. Was nach einem Wortspiel am Rande klingt, ist weit mehr als das. In der Metapher des Gespenstes verdichtet sich eine der Grundthesen der Dissertation – nämlich, dass es sich bei Geschichtspolitik um ein „hantologisches“ (ein Kompositum aus „hanter“ [frz. heimsuchen] und „ontologie“) Verfahren (S. 50) handle, das die Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in spezifischer Weise aufzuheben imstande ist. Unzufrieden mit bisherigen Definitionen und Analyseansätzen zur Geschichtspolitik denkt Klinge damit eine Begriffsbildung von Jacques Derrida weiter und wendet sie systematisch auf seinen Untersuchungsgegenstand, die Präsentation von 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ (S. 11), an. Er unternimmt damit den anspruchsvollen Versuch einer Neukonzeptionalisierung von Geschichtspolitik, der sich – dies sei vorweggenommen – zwar sehr anregend liest, allerdings nur bedingt überzeugt.

Der hohe Theoretisierungsanspruch und das Anliegen Klinges, Theorie und Empirie hierfür eng zu verzahnen, spiegeln sich im Aufbau des Bandes wider. Im ersten Teil widmet er sich dem theoretischen Konzept und steckt den Rahmen seiner Untersuchung ab, indem er die Historisierung der DDR bis 2008 skizziert und einen gleichsam archäologischen Blick auf das Jahr 2009 im globalen Kontext wirft. Im zweiten Teil arbeitet er die konkreten Vergegenwärtigungen von 1989 anhand verschiedener Jubiläumsaktivitäten heraus. Die einzelnen Modi der Vermittlung analysiert er mit Hilfe der bislang eher in den Sozialwissenschaften anzutreffenden Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und verbindet sie immer wieder mit theoretischen Reflexionen etwa zur Postdemokratie (Colin Crouch) oder zur Posthistoire (Jean Baudrillard). Zusammen mit dem Bestreben, gemäß Bruno Latours methodischem Konzept keine A-priori-Ordnung des Gegenstandes vorzunehmen, bedingt dieses Vorgehen freilich eine gewisse Unordnung – die Leitmotive der Erinnerung finden sich in den einzelnen Kapiteln verstreut. Hinsichtlich der von Klinge favorisierten Perspektive ist dies jedoch nur folgerichtig: In Unterscheidung dreier Epistomologien – einer objektivistischen („1989“), einer sozialkonstruktivistischen („Wir“) und einer relationalen („Und“) – legt er seinen Hauptfokus auf letztere. Es sind somit in erster Linie die Techniken der Vermittlung selbst, die den Autor interessieren.

Mit diesem „Dazwischen“ (S. 12) nimmt Sebastian Klinge eine Fragestellung auf, die bereits Norbert Frei unter dem Titel „1989 und wir?“1 aufgeworfen hat. Das Fragezeichen in Freis Titel beseitigt Klinge im eigenen zwar, allerdings entstehen mit der Lektüre seiner Studie eine Reihe neuer Fragezeichen. Als Geschichtspolitik begreift der Autor die „Operation der Umwandlung von Latenz in Präsenz“ (S. 28). 1989 ist demnach eine Zeitschicht, die als Archiv latent existiert und in der Gegenwart erschlossen und damit im Wortsinn re-präsentiert (also wieder der Präsenz zugeführt) werden kann. Mit dieser schlichten Grundannahme wendet sich Klinge gegen die „merkwürdige Ambivalenz“ (S. 41) und „doppelte Redundanz“ (S. 45) bisheriger Definitionen von Edgar Wolfrum bis Heinrich August Winkler.2 Diese, so Klinge, gingen nicht nur von einem elitären Politikverständnis und festen Top-Down-Machtgefügen aus, sie setzten auch häufig Explanans und Explanandum in eins. Als Ausweg schlägt er vor, Politik – sehr weit – als „Sache der polis“ (S. 23) zu begreifen und Geschichtspolitik als „riskantes Unterfangen“ (S. 47), das darauf abziele, die Stimmen der darin Lebenden (des demos) zu vermehren. Politisierung meint demnach die Mobilisierung von Interessen, Geschichtspolitik das Schaffen neuer Verbindungen und Interaktionen, die ihren Gültigkeitsanspruch bis in die Zukunft ausweiten. Geschichtspolitikanalyse müsse daher vor allem auf die Prozesshaftigkeit all dessen abheben. Eine zentrale Rolle spiele dabei seit Beginn des 21. Jahrhundert die moderne Informationstechnologie. „Akteure“ könnten, gemäß der ANT, sowohl Menschen als auch Institutionen oder Dinge sein – im hier untersuchten Fall also Politiker/innen, Historiker/innen und Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ebenso wie Websites, Smartphones, Mauerstückchen oder Günter Schabowskis berühmter Zettel.

Die beiden Haupterzählungen, die Klinge im Jahr 2009 identifiziert, sind diejenigen der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls. Während erstere als „klassisch moderne Erzählung von Emanzipation und Souveränität“ (S. 170) daherkommt, die den demokratischen Aufbruch von 1989 als wiederholbares Projekt inszeniert, sei letztere vor allem von der Semantik des einmaligen Ereignisses geprägt. Seinem methodischen Ansatz folgend analysiert Klinge die geschichtspolitische Wirkungsweise anhand einiger Knotenpunkte, die er in Latours Terminologie als „Blackboxes“ bezeichnet, die es zu öffnen gelte. In ihnen, so die Grundannahme, findet die zentrale Operation Latenz/Präsenz statt. Als Beispiele für solche Blackboxes zieht er etwa die mehrmonatige Berliner Ausstellung „Friedliche Revolution“, das Leipziger „Lichtfest“ am 9. Oktober 2009, das „Fest der Freiheit“ am 9. November 2009 in Berlin sowie einzelne Filme, Onlineprojekte, aber auch die übergreifende jubiläumsbezogene Arbeit von Institutionen wie der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur heran.

Als zentrales Charakteristikum der 2009er Geschichtspolitik beschreibt Klinge solche Repräsentationsstrategien, die sich durch eine spezifische Verdoppelung der Lehren von 1989 auszeichnen. So fand sich die Erzählung über die mutigen Leipziger Bürger/innen, die am 9. Oktober das „Wunder“ der Gewaltfreiheit erfuhren, in solchen Vermittlungsformen vergegenwärtigt, die ebenfalls „von unten“ kamen, die Vielstimmigkeit betonten und auf eine Partizipation des „Mannes von der Straße“ abzielten. Als Meistererzählung habe hier die (Auto-)Biografie fungiert – nicht nur bekannter Oppositioneller, sondern auch weniger heldenhafter Zeitgenossen. Auch hinsichtlich des Mauerfalls am 9. November habe eine Verdoppelung stattgefunden: Indem Klinge die verschiedenen Kommunikationspannen, die mit der live übertragenen Pressekonferenz und Schabowskis Stottern begannen, als grundlegende Erzählbausteine herausstellt, definiert er den Fall der Mauer vor allem als Medienereignis, das im – ebenfalls live übertragenen – „Fest der Freiheit“ 20 Jahre später sein Äquivalent als neues „Geschichte machendes Ereignis“ (S. 381) fand. Diese Überlagerung von erinnertem Ereignis und Ereignis des Erinnerns ist für Klinge wiederum ein Beleg für die geisterhafte Verfahrensweise der Geschichtspolitik. Ebenso wie die 2009 eingeweihte Leipziger „Freiheitsglocke“, die unvorhersehbar einmal am Tag schlägt, um auf zukünftige Demokratien zu verweisen, lasse die Geschichtspolitik die Rufe von 1989 durch Gegenwart und Zukunft spuken.

Klinge gelingt es, Theorie und Empirie auf beeindruckende Weise zu verflechten. Was überzeugt, ist – ungeachtet der dadurch bedingten Redundanzen – seine konsequente Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie für die Analyse seiner geschichtskulturellen Fragestellung. Faszinierend lesen sich auch die Passagen, in denen er poststrukturalistische Konzepte und Zeitdiagnosen in einen Dialog mit seinen eigenen Quellen setzt. Fast beiläufig zeigt er etwa Parallelen auf, die sich zwischen dem verbissenen Kampf Hubertus Knabes, dem Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, gegen das Erbe der SED und Baudrillards Gedanken zur Posthistoire ergeben, wenn man ihre jeweiligen Metaphern vom „Müllhaufen der Geschichte“ ernstnimmt und weiterdenkt. Zwar erweise sich Knabes Versuch, „Honeckers Erben“ eben dorthin zu befördern, im Angesicht von Baudrillards Behauptung, die „Geschichte selber [sei] zum Mülleimer geworden“3, als paradoxes Unterfangen. Gerade deshalb stehe er aber paradigmatisch für die geschichtspolitische Strategie einer „einschließenden Ausschließung“ (S. 152) durch kritische Erinnerung.

So unterhaltsam diese Ausführungen sind, lassen sie die Leserin doch verwirrt zurück. Wovon handelt Klinges Studie eigentlich? Im Titel ist die Rede von „Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall“ – das Konzept der Erinnerungskultur jedoch findet sich an keiner Stelle ausgeführt oder zum Begriff der Geschichtspolitik in Bezug gesetzt, die konkurrierende Terminologie der „Geschichtskultur“ wird gar nicht erwähnt. Politisierung verschmilzt in Klinges Argumentation mit Demokratisierung bzw. Mobilisierung. Indem der Autor vehement – und durchaus zu Recht – gegen die Kampfmetaphorik bisheriger Geschichtspolitikanalysen anschreibt, übersieht er, dass man all das, was er als geschichtspolitische Verfahren beschreibt, ebenso gut als Entpolitisierung beschreiben könnte. Auf eine stetige Verbreiterung des Adressatenkreises zielen nämlich nicht nur (geschichts)politische Projekte ab, sondern auch – und ganz besonders – Stadtmarketing und Eventmanagement.

Anmerkungen:
1 Norbert Frei, 1989 und wir? Eine Vergangenheit zwischen „Erinnerungskultur“ und Geschichtsbewusstsein, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, erweiterte Taschenbuchausgabe, München 2009, S. 7–21.
2 Heinrich August Winkler, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Der Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004; Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999.
3 Jean Baudrillard, Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin 1994.

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