J. Potthast: Im Netzwerk der Täter

Cover
Titel
Im Netzwerk der Täter. Eine Juristenkarriere im Reichssicherheitshauptamt


Autor(en)
Potthast, Joachim
Erschienen
Bielefeld 2014: Lorbeer-Verlag
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Weitkamp, Stiftung Gedenkstätte Esterwegen

Wenn man eine Biographie schreibt, ist es eigentlich keine gute Idee, den Namen des Biographierten im Titel ganz auszulassen. Um wen es in dieser Monographie eigentlich geht, verrät erst der Klappentext. Es ist der Jurist und ehemalige SS-Sturmbannführer Jobst Thiemann: Beamter im Reichssicherheitshauptamt und als Angehöriger eines Einsatzkommandos in der besetzten Sowjetunion an massenhaften Morden unter der Zivilbevölkerung beteiligt. Aufgeschrieben hat diese Lebensgeschichte nun Thiemanns Schwiegersohn Joachim Potthast. Zurückgreifen kann der Autor dabei auf viele private Dokumente aus Familienbesitz.

Der 1911 als Fabrikantensohn in Gütersloh geborene Thiemann wuchs in konservativ-bürgerlichen Verhältnissen auf: Gymnasium, Rechtsstudium in Münster, Marburg und Berlin, Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung. Bereits Anfang der 1930er-Jahre besuchte er im Ostwestfälischen Wahlveranstaltungen der NSDAP, ehe er schließlich kurz nach der Machtübernahme 1933 Mitglied dieser Partei wurde. Wenig später folgte in Münster der Eintritt in die SA mit anderen Verbindungsmitgliedern. Im Jahr 1934 schloss er sich zudem dem NS-Studentenbund an. Thiemann machte begeistert SA-Dienst und die Ideologie Adolf Hitlers wurde zunehmend bestimmender Teil seines Lebens. Der Vater war nur mäßig erbaut darüber und sah vor allem die Studienleistungen vernachlässigt.

Im Jahr 1935 stellte sich eine entscheidende Weiche auf dem späteren Weg ins Reichssicherheitshauptamt: Thiemann wollte Regierungsreferendar und später Assessor bei der Regierung in Osnabrück werden, doch diese lehnte ab. Möglicherweise wäre der Lebensweg dann anders verlaufen, doch so absolvierte Thiemann das juristische Referendariat an anderer Stelle. Eine Promotion blieb unvollendet und der Plan einer Verwaltungsstelle bei der Wehrmacht ging nicht auf. Der Vater drehte den Geldhahn zu. Der Sohn knüpfte unterdessen Kontakte zu einem alten Schulkameraden, der als Jurist bei der Gestapo in Münster untergekommen war. Wenige Monate später, im Frühjahr 1939, bewarb sich Thiemann ebenfalls bei der Sicherheitspolizei um eine Stelle. Um die Bewerbung zu forcieren, trat Thiemann noch schnell in die SS ein. Bis zu einem gewissen Grad kann all das auch als Trotzreaktion des Heranwachsenden gegenüber dem autoritären Vater angesehen werden.

Mit diesem Werdegang war Thiemann im Reichssicherheitshauptamt nicht allein, im Gegenteil. Die Sicherheitspolizei war eine stark expandierende Behörde, die vor allem junge, gut ausgebildete Akademiker, vornehmlich Juristen, in ihre Reihen holte und ihnen enorme Karrierechancen bot. Viele nahmen diese Angebote an und sahen über die repressive, menschenverachtende Arbeitsmaterie mehr als bereitwillig hinweg. Im Ganzen ist Thiemanns Werdegang nicht ungewöhnlich oder "neu". Derartige Lebenswege und Berufsstationen sind von der NS-Täterforschung bereits mehrfach untersucht worden und können als geradezu typisch bezeichnet werden. Ein Gewinn sind aber die umfangreichen privaten Dokumente und Tagebücher, die den Weg eines jungen Mannes zum Nationalsozialisten und Beamten im Reichssicherheitshauptamt aus einer persönlichen Sicht schildern. Denn gerade derartige Ego-Zeugnisse stehen der Täterforschung nur selten zur Verfügung.

Was Thiemann im Reichssicherheitshauptamt genau gemacht hat, wird in der lebensgeschichtlichen Betrachtung zunächst ausgeblendet. Der Teil endet mit Einblicken ins Privatleben (Ehe, Beförderungen, Briefe). Dies liegt unter anderem daran, dass ausgerechnet die Tagebücher der Jahre 1939 bis 1945 verschollen sind. So knüpft die Lebenserzählung erst wieder in der frühen Nachkriegszeit an. Thiemann versteckte sich im deutsch-österreichischen Grenzgebiet, wurde von den Amerikanern festgenommen und interniert. Doch der ehemalige SS-Sturmbannführer konnte entkommen und tauchte jahrelang in Österreich unter, während der Kontakt zur Familie in Deutschland bestehen blieb; hier galt er offiziell als vermisst.

Anfang der 1950er-Jahre kehrte Thiemann nach Deutschland zurück und bereitete ein bürgerliches Leben vor. Er aktivierte SS- und andere NS-Netzwerke, zu denen auch der ehemalige Justitiar des Reichssicherheitshauptamtes zählte: Werner Best. Lebensläufe und Bewerbungen wurden geschönt und Thiemann erhielt wertvolle Ratschläge, um als alter SS-Führer möglichst lautlos in der Bundesrepublik neu anzufangen. Ein Ehrengerichtsverfahren der Anwaltskammer überstand er unbeschadet, sodass er 1954 wieder als Anwalt in Bielefeld arbeiten konnte. Privat drehte sich das Leben um die Familie. Soziale Kontakte bestanden weiterhin vor allem zu ehemaligen Weggefährten aus SS und Gestapo. Auch in der Bundesrepublik blieb man gerne unter sich.

Doch in Berlin ermittelte die Staatsanwaltschaft um 1960 gegen Angehörige der SS-Einsatzkommandos und in diesem Zuge geriet auch Thiemann in den Zielsucher der bundesdeutschen Justiz. Erst bei der Darlegung der Nachkriegszeit erfährt der Leser mehr über Thiemanns Zeit an der Ostfront, wo er 1941/42 Angehöriger und zeitweiliger Führer des Sonderkommandos 4b gewesen ist. Dieses Sonderkommando hinterließ wie andere SS-Sonderkommandos auch eine Spur des Todes im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. An welchen Verbrechen Thiemann im Osten beteiligt gewesen ist, kann heute nicht mehr einwandfrei belegt werden. Zeugen beschuldigten ihn, er habe teilweise Exekutionen geleitet und sogar selbst mit geschossen. Der Beschuldigte schwieg eisern zu den Vorwürfen bis zu seinem Tode 1966. Ein Urteil konnte deshalb nicht mehr erfolgen.

Dass die Beteiligung an massenhaften Morden erst im letzten Drittel näher ausgeführt wird, lässt eine seltsame Distanz zur Schilderung des privaten und beruflichen Lebens im ersten Drittel des Buches entstehen. Sind die Morde in der Sowjetunion 1941/42 losgelöst vom Privatmann Thiemann? Waren sie Teil eines zweien Lebens? Ist der Sonderkommandoführer doch ein anderer als der geschilderte Familienvater? Fehlt deshalb auch der Name von Jobst Thiemann im Titel?

Auch wenn Joachim Potthast wenig rechtfertigt oder in Schutz nimmt, ist eine gewisse Nähe zum NS-Täter Thiemann unübersehbar, der fast ausnahmslos beim Vornamen genannt wird. Auch dies hinterlässt eine irritierende Wirkung. Das Buch beginnt zudem mit einer romanhaften Schilderung der spektakulären Festnahme des Anwalts Thiemann im Bielefelder Amtsgericht. Dass die Polizei so erniedrigend zuschlagen würde, habe Thiemann sprachlos gemacht. Bei solchen Textstellen muss man sich vor Augen führen, wer da gerade verhaftet wurde. Die nackten Opfer an den Erschießungsgruben sind mehr als nur erniedrigt worden. Diese Verbrechen machen sprachlos, nicht aber die Festnahme eines mutmaßlichen Massenmörders. Die Tochter schrieb zur Verhaftung, die Mutter würde weinen und sogar die Hunde ließen die Köpfe hängen. Aus familiärer Sicht ist das verständlich, aber anderweitig kann Mitleid da nicht entstehen.

Mit Fußnoten, Quellen- und Literaturverzeichnis gibt sich das Buch einen gewissen wissenschaftlichen Anspruch, der aber letztlich nicht eingehalten werden kann. Das Literaturverzeichnis nennt gerade einmal 24 Titel und wichtige jüngere Publikationen zur Gestapo-Forschung fehlen. Die Fußnoten verweisen oft auf die persönlichen Unterlagen Thiemanns in Privatbesitz. Quellen aus öffentlichen Archiven dagegen wurden vor allem bei der Betrachtung der juristischen Aufarbeitung der Massenverbrechen im Osten herangezogen.

Potthast hat mit diesem Buch einen kaum bekannten SS-Täter beleuchtet. Sich einem Massenmörder in der Familie auf diese Weise offen gestellt zu haben, dafür gebührt dem Autor Respekt. Ein besonderer Gewinn liegt dabei in den privaten Dokumenten zum Leben vor und nach 1945. Aber die Schilderung ist unübersehbar auch eine persönliche Aufarbeitung. Erinnerungsgeschichtlich ist das interessant, stellt aber zugleich auch eine Schwäche des Buches dar.

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