A. Malycha: Die SED in der Ära Honecker

Cover
Titel
Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989


Autor(en)
Malycha, Andreas
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 102
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 471 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kleßmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Ära Honecker gilt, abgesehen von ihrem Ende, im Vergleich zur Ära Ulbricht als weniger spannend, ohne große Konflikte und Aufbrüche. Sie brachte zwar eine beträchtliche Verbesserung der Lebenslagen und eine Prise internationaler Normalität, aber eben auch eine Portion Langeweile und hatte einen blassen und zunehmend wirklichkeitsfernen Diktator an der Spitze. Verfall und Untergang haben nachträglich das Bild dieser knapp zwanzigjährigen Ära geprägt. Mit Blick auf diesen Zeitraum nimmt Andreas Malychas Buch mit der SED das Machtzentrum und Kernstück jeder DDR-Geschichte ins Visier. Die Studie ist aus einem von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanzierten Projektverbund hervorgegangen. Worum es in diesem Band primär geht, deutet der Untertitel an: Das Innenleben der „führenden Partei“ wird hier auf der Führungsebene so gründlich wie nie zuvor aufgehellt.

Die Strukturen und das Personal von Politbüro und ZK der späten Ulbricht-Ära werden im ersten Kapitel gewissermaßen als Vorgeschichte charakterisiert, um auf dieser Folie Veränderungen unter Honecker deutlicher werden zu lassen. Ulbricht war noch voller Hoffnung, dass die industriegesellschaftliche Modernisierung der DDR durch die „Produktivkraft Wissenschaft“ gelingen werde und damit auch der Sieg im Systemwettstreit. Sein Scheitern aus systemimmanenten Gründen und aufgrund des Widerstands der Reformgegner im Parteiapparat ist nicht zuletzt durch die Studie von Monika Kaiser im Wesentlichen bekannt geworden.1 Die dramatische Absetzungsposse Ulbrichts durch Honecker im Gästehaus in Dölln im Mai 1971 liest sich wie ein Krimi aus dem Kalten Krieg. Malycha zeichnet sie genau nach, bietet jedoch eine kritische Beurteilung der Story eines Spiegel-Redakteurs. Ulbricht gab jedenfalls nach, dankte ab, und das Scherbengericht Honeckers im ZK über Ulbrichts Politik seit 1967 insgesamt folgte.

Im zweiten Kapitel werden Personal und veränderte Strukturen in der Führung und im Apparat detailliert untersucht. Politbüro, Sekretariat und ZK stehen im Zentrum. Das ausführliche dritte Kapitel ist überschrieben mit „Schlaglichter der Personalpolitik im Politbüro“ und bringt viel Neues. Es gilt drei wichtigen Figuren, die aus verschiedenen Gründen scheiterten. Zunächst: Werner Lamberz, der anfangs für Kulturpolitik zuständig war, später als Honeckers persönlicher Botschafter in der Dritten Welt galt und auch als Hoffnungsträger und möglicher Nachfolger Honeckers eingestuft wurde. Er kam bei einem Hubschrauberabsturz 1978 um. Dann der selbsternannte Berliner Bezirksfürst Konrad Naumann. Er brach sich politisch das Genick, als er im Oktober 1985 in einer Rede vor Professoren und Dozenten der Akademie für Gesellschaftswissenschaften den Wissenschaftlern Inkompetenz und Faulheit vorwarf. Die Ausfälle nahm Honecker zum Anlass, um Naumann abzulösen – nach Schabowskis Erinnerung einer der wenigen Fälle, wo im Politbüro wirklich diskutiert wurde. Schließlich versucht Malycha Licht zu bringen in die immer noch nicht ganz geklärten Gründe für Aufstieg und Fall von Herbert Häber, Honeckers deutschlandpolitischem Berater und Leiter der Westabteilung des ZK. Das Kapitel bietet informative Skizzen über Positionen und Aktivitäten dreier Spitzenfunktionäre. Hinzu kommen ansatzweise Einblicke in das gefährliche Umfeld, in dem sich Politbüromitglieder bewegten und das von einer Mischung aus Konkurrenz, Intrigen, Ehrgeiz, Fähigkeiten und Inkompetenzen geprägt war.

Die Kapitel IV und V verdeutlichen über die engere Organisationsgeschichte und die Personalia in der Partei hinaus das inhaltliche Profil des Konsumsozialismus der Ära Honecker. Sie beschreiben die schleichende Erosion der SED-Herrschaft, bevor abschließend Krise und Zusammenbruch behandelt werden. Der Konsumsozialismus und eine breit entfaltete Sozialpolitik dienten der Herrschaftssicherung, wobei, wie detailliert gezeigt wird diese Form der Herrschaftssicherung intern heftig umstritten war. Zunächst gelang es Honecker, die Versorgungskrise, die mit zum Sturz Ulbrichts geführt hatte, kurzfristig zu überwinden und so auch die Mehrheit des Politbüros von der Richtigkeit der neuen Wirtschaftsstrategie zu überzeugen. Schon im März 1971 begründete Honecker aber diese Grundsatzentscheidung, indem er auf die notwendige Systemstabilität verwies: Man könne „nie gegen die Arbeiter regieren“ (S. 178), es könne sonst zu wachsendem Unmut in der Bevölkerung kommen. Dieses zentrale Handlungs- oder Unterlassungsmotiv taucht auch später immer wieder auf und ist so deutlich bislang nie herausgearbeitet worden.

Ökonomisch begründete Einwände ließ der Parteichef von Anfang an nicht gelten. Die Krise in Polen und der Sturz Gomulkas 1970 spielten für diese Haltung offenkundig eine sehr wichtige Rolle. „Im Unterschied zu bisherigen Annahmen“, stellt Malycha aber auch fest, „gab es bereits während der konkreten Ausgestaltung der Sozial- und Konsumpolitik in den Jahren 1972 und 1973 Konflikte im Politbüro, in deren Zentrum die Belastungs- und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft als Folge ausufernder Sozial- und Konsumpolitik, insbesondere kreditfinanzierten Konsumgüterimporte, standen.“ (S. 183)

Die SED-Führung erhoffte sich von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, dass die Steigerung des Wohlstandes die Arbeitsleistung stimulieren und so ein erhöhtes Wachstum ermöglichen würde. Das war nicht völlig unsinnig, wie in Peter Hübners Darstellungen der Sozialpolitik auch detailliert ausgeführt wird.2 Die Proklamation dieser „Hauptaufgabe“ galt für die ersten beiden Fünfjahrpläne der 1970er-Jahre und wurde auch danach nicht aufgegeben oder einschneidend verändert. Honeckers Schlüsselrolle bei dieser Strategie bildet den roten Faden von Malychas Darstellung. Überraschend ist die geradezu abenteuerlich hartnäckige Abwehr aller Einwände gegen eine langfristig ruinöse Wirtschafts- und Sozialpolitik durch den Chef. Die Kritiker, allen voran Gerhard Schürer als Vorsitzender der Staatlichen Plankommission (SPK), bürstete er regelrecht ab. Ein typisches Muster des Umgangs mit den Problemen war die rüde Schelte der Fachminister nach der Melodie: Das Politbüro fasst die richtigen Beschlüsse, die staatliche Verwaltung ist aber nicht in der Lage, sie umzusetzen. (S. 210)

Um der Krise gegenzusteuern wäre eine Erhöhung der Verbraucherpreise notwendig gewesen. Dieses politisch höchst delikate Problem wurde 1979 im Auftrag von Günter Mittag durch Planungschef Schürer und Walter Halbritter, den Leiter des Amtes für Preise, angegangen; die so genannte Kaffeekrise 1977 mit einer wieder zurückgenommenen Preiserhöhung war ein geplatzter Versuchsballon. Die Diskussionen, Varianten und Entscheidungsprozeduren in Zusammenhang mit diesem Schlüsselproblem zeichnet Malycha genau nach. Es gab relativ radikale Planungen für Preiserhöhungen bei Lebensmitteln und Kraftstoff, die alles übertrafen, was in Polen oder Ungarn praktiziert worden war. Auch Honecker selber sprach sich für höhere Preis aus. Höchst skeptisch dagegen war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), weil mit „negativen Auswirkungen auf die politische Moral und den Leistungswillen breiter Schichten der Werktätigen“ (S. 239) zu rechnen sei. Vermutlich hat Mielke Honecker über besorgniserregende Stimmungsberichte informiert. Dieser nahm seine anfängliche Zustimmung zurück und behauptete obendrein auch noch, er und das Politbüro hätten von den Planungen Schürers nichts gewusst!

Malycha beschreibt ausführlich die nur zum Teil bekannten Versuche der Gegner des Konsumsozialismus, vor allem Willi Stophs und Werner Krolikowskis, aber auch des MfS, die wirtschaftspolitische Linie angesichts ungehemmt wachsender Verschuldung zu ändern. Interessant scheinen mir insbesondere die genauen Nachweise dafür, wie das MfS an relevante Informationen aus der Parteizentrale und den ZK-Abteilungen gelangte. (259 f.) Sogar ZK-Abteilungsleiter wurden zeitweilig per Telefonüberwachung observiert. Das wirft, wie Malycha zu Recht vermerkt, neue Fragen nach dem Verhältnis zwischen MfS und SED auf. Vieles spreche dafür, dass die Rollenverteilung zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger keineswegs immer so eindeutig war, wie es institutionell hätte sein sollen. Aber nicht einmal Mielke mutete dem Generalsekretär die ungeschminkte Wahrheit über die Wirtschaftslage zu. Angesichts erneut drohender Zahlungsunfähigkeit fädelte Schalck-Golodkowski 1983 den bekannten Milliardenkredit im Gespräch mit Strauß ein, über den erstaunlicherweise weder Moskau noch das Politbüro zuvor von Honecker informiert worden waren, wie Malycha feststellt. (S. 285)

Die abschließenden Kapitel gelten der inneren Erosion im Herrschaftsgefüge, der Reformunwilligkeit der Führung und der Resignation in der SED-Mitgliedschaft, dem Schwinden der Handlungsspielräume, der Ratlosigkeit angesichts des wirtschaftlichen Verfalls, internen Bilanzen und Eingeständnissen im Angesicht des Untergangs. Das Buch endet mit dem Sturz Honeckers und der Auflösung der Spitzengremien. In einer resümierenden Schlussbetrachtung betont der Autor noch einmal nachdrücklich, dass die Politik der strikten Reformverweigerung die relative Stabilität und Dauer der SED-Herrschaft nur für einen knappen Zeitraum verlängerte.

Malycha hat eine sehr gründliche, auf breiter, vor allem archivalischer Materialauswertung basierende und kompetente Untersuchung geschrieben. Sie liefert tiefe Einblicke in das politische und organisatorische Innenleben der Parteispitze, weniger in deren Milieu. Als dominierender Eindruck und Resümee bleibt für mich: Es gab von Anfang an heftige Auseinandersetzungen und Konflikte, aber letztlich blieb alles ohne Auswirkungen, weil die Angst vor dem Volk und die gläubige Vorstellung von einer segensreichen sozialistischen Sozialpolitik zwei Jahrzehnte lang bestimmend blieben.

Eine Frage hat sich mir in diesem Fall aufgedrängt, die dem Ganzen noch etwas Farbe gegeben hätte: Wie hat der Autor, der als junger Wissenschaftler im Institut für Marxismus-Leninismus gearbeitet hat, diesen rasanten Untergang einer Partei und einer „Sinnwelt“ wahrgenommen? Historische Analyse und Zeitzeugenschaft kommen hier auf eine besondere Weise zur Deckung. Diese Sicht hätte vermutlich nicht nur mich als Rezensenten dieses Buches interessiert. Was mir ferner fehlt oder zu wenig vorkommt, möglicherweise aber mit der thematischen Abstimmung innerhalb des Projektverbundes und der beteiligten Institute zu tun hat, ist zum einen die explizite Umkehrung des Blickwinkels. Wie sah diese an der Spitze so kompetent beschriebene „führende Partei“ mit immerhin 2,3 Millionen Mitgliedern von unten aus? Zum anderen funktioniert DDR-Geschichte, wie jeder DDR-Forscher weiß, nicht ohne BRD-Geschichte. Dieser Aspekt der deutsch-deutschen Beziehungen, der neben Wirtschaft für die Ära Honecker besonders wichtig ist, taucht natürlich immer wieder auf, bleibt aber systematisch als eigener Gesichtspunkt marginal.

Anmerkungen:

1 Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker: Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997.

2 Peter Hübner, Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution. Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Band 15, hrsg. v. Gerhard A. Ritter, Bonn 2014.

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