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Titel
Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert


Herausgeber
Kraus, Alexander; Winkler, Martina
Reihe
Umwelt und Gesellschaft 10
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Aselmeyer, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Welche Bedeutung haben das Wasser und die Meere für die Menschen und welchen Einfluss auf ihre Geschichte? Ricarda Huch schreibt in ihrem 1893 veröffentlichten Romandebüt „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“, dass das Leben selbst ein Meer sei. „Leben ist nur auf dem bewegten Meere und wo das Meer aufhört, hört auch das Leben auf.“1 Anders als diese Einsicht suggerieren könnte, ist dem Meer in der Geschichtswissenschaft nicht viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden.2 Lange galt das Meer als lebloses und vor allem geschichtsloses Medium, das dem Menschen alleinig als Interaktions- und Transitraum dient. Zudem wurde der Wasserraum seit Beginn der modernen Staatsbildung zumeist terrestrisch gedacht. Die Meere waren demnach maritime Verlängerungen der terrae firmae – ohne eigenes Wesen. Nicht zuletzt Reinhart Koselleck trug zu einer Wende bei. In seinem Schlussreferat auf dem Trierer Historikertag 1986 betonte er die inhärente geschichtliche Qualität der Elemente und wies ihnen damit eine eigene Historizität zu.3 Mit der Pluralisierung der Geschichtswissenschaft und ihrer inhaltlich-methodischen Öffnung hin zu den Kulturwissenschaften ging zugleich ein verstärktes Interesse für die Meere einher. Aufgrund der Vielzahl an Publikationen und Konferenzen lässt sich derzeit gar eine Konjunktur ausmachen.4 Konkreter Nachholbedarf der historischen Meeresforschung besteht jedoch weiterhin für das 19. Jahrhundert.5

Der vorliegende Band, der auf zwei internationale Konferenzen zurückgeht, widmet sich nun den Meeren im „langen“ 19. Jahrhundert und wagt sich damit in noch weitgehend unbekanntes Terrain vor. Die Herausgeber/innen Alexander Kraus und Martina Winkler kritisieren in ihrer konzeptionellen Einleitung eine argumentative Schleifenbildung, in der sich die neuere Meeresforschung verfangen habe. Obgleich die Arbeiten der letzten Jahre nachgewiesen hätten, dass die Meere eine eigene Historizität besitzen, werde weiterhin von der Annahme ausgegangen, dass das Meer ein andersartiger Raum sei. Die andauernde Repetition stehe letztlich neuen Erkenntnissen im Wege. Dieser Engführung möchte sich der Band entziehen und dezidiert eine Pluralisierung der kulturellen Meeresforschung anstreben, die in einer allgemeinen Geschichte aufgeht. Dafür proklamieren sie nicht weniger als einen „oceanic turn“. Dieser beinhaltet neben einer globalen Ausrichtung vor allem eine Neuverortung der bisher allzu singulär gedachten Mensch-Meer-Beziehungen. Insgesamt ist das Plädoyer für eine andere Meeresgeschichte allerdings zu mager, um sich damit auf die viel zu überstrapazierte „turn“-Welle zu begeben. Die elf Beiträge des Bandes verstehen sich jedenfalls als Antworten auf die Forderungen, obgleich dies nicht jedem Aufsatz gleichermaßen gelingt. Das entpuppt sich gleichsam auch als größtes Manko: Obwohl die Herausgeber/innen in ihrem programmatischen Entwurf ein beachtliches Programm entwerfen, hält die einzelnen Texte letztlich wenig zusammen – und das sowohl in konzeptioneller als auch methodischer Hinsicht. Die einzelnen Zugänge zum Thema sind zu divers und entpuppen sich unterm Strich doch wieder als nationalgebundene Geschichten. Bis auf wenige Beiträge entdeckt der Lesende hier kein Neuland, sondern in bekannten Gewässern mäandernde Texte. Allein ein Gedicht von Baudelaire („Der Mensch und das Meer“), dessen einzelne Verse den Beiträgen jeweils vorangestellt sind, hält das lose Stückwerk poetisch zusammen.

Bei näherer Betrachtung folgen die Beiträge durchgehend Narrativen, die für die Geschichte des 19. Jahrhunderts keine unbekannten sind. Sie handeln von Verwissenschaftlichung und Domestizierung, von kultureller Repräsentation und Projektion sowie von technisch-sozialen Fortschrittsgedanken und Kommerzialisierung. Letztlich stechen daraus diejenigen Aufsätze hervor, die die konzeptionellen Forderungen berücksichtigen und inhaltlich neue Akzente setzen. Im Folgenden sollen genau diese hier eingehender dargestellt werden. Es verwundert nicht, dass sich darunter die Texte der beiden Herausgeber/innen wiederfinden. Besonderer Würdigung bedarf dabei der Beitrag von Alexander Kraus, der mit dem Ansatz der „soundscapes“ dem Klang des Nordpolarmeeres nachspürt. Eindrucksvoll und mitreißend geschrieben, offenbart der Text, wie die veränderte Rezeption des Meeres auch die Aufmerksamkeit für dessen Klänge modifizierte. Rief anfangs die Vorstellung des unbezwingbaren und gefahrvollen Meeres noch Schrecken hervor, der sich in der Beschreibung schauerlicher Ruhe und tosender Eispressungen artikulierte, ging mit Ende des 19. Jahrhunderts und der technologischen Zähmung der Naturkräfte die Angst verloren und damit eine akustische Gleichgültigkeit einher. Das Eiskonzert büßte seinen ursprünglichen Klang ein. Als Quellen nutzt Kraus Expeditionsberichte, Tagebuchaufzeichnungen oder sonstige Erfahrungsberichte amerikanischer und europäischer Forscher des 19. Jahrhunderts, in denen sich mit der einsetzenden Kommerzialisierung publizierter Arktiserfahrungen seit Mitte des Jahrhunderts sinnliche Eindrücke vermehrt wiederfinden.

Kommerzialisierung ist auch ein wichtiger Faktor im Aufsatz von Lars Schladitz, der sich mit dem japanischen Walfang in den 1930er-Jahren auseinandersetzt. Dieses ökonomische Argument verbindet sich allerdings mit dem technologischen Fortschrittsdenken zu einem Wettkampf um nationale Größe. Durch die Qualität von öffentlichen Fotografien und Beschreibungen wird ersichtlich, wie die Schiffe im Südpolarmeer zur Selbstdarstellung Japans als moderne technologische Nation inszeniert wurden. Die Schiffe fungieren hier als Symbole der ökonomisch-technologischen Vormachtstellung. Obgleich das Meer damit in nationale Aneignung geriet, was historisch durchaus vor dem Hintergrund der kolonialen Expansionsbestrebungen Japans zu beurteilen ist, wurde auf die Freiheit der Meere und damit auf einen uneingeschränkten Zugriff auf deren Ressourcen beharrt.

Ganz anders dazu verhielt sich die maritime Kultur im „Landimperium“ Russland, wie sie Martina Winkler beschreibt. Die Schriften des seefahrenden Unternehmers Grigorij Šelichov vom Ende des 18. Jahrhunderts zeigen ein Bild des kühlen Blicks. Der Nordpazifik besticht hier nicht durch seine Fremdheit, die heldenhaft bezwungen wird, sondern er fungiert vielmehr als pragmatischer Bewegungsraum. Die Absicht ökonomischen Erfolgs dominierte die rational-wissenschaftliche und technische Konstruktion des Meeres als einheitlicher Raum aus Wasser und Inseln. Winkler präsentiert damit einen gewinnbringenden Kontrast zu den Meeres-Repräsentationen europäischer Nationen. Dass sich die nahezu allgemeingültige Assoziation der Meere mit den „Schrecken des Eisen und der Finsternis“ (so ein Romantitel von Christoph Ransmayr) erhalten hat, ist mit der Zuschreibung europäischer Nationen als klassische „Seeimperien“ zu erklären.

Neben diesen klassischen Analysen tun sich noch die beiden Aufsätze von Werner Tschacher und Pascal Schillings hervor. Tschachers Untersuchungen zu Jules Vernes Roman „20.000 Meilen unter dem Meer“, den er als katholisch-konservative Fortschrittsparabel interpretiert, zeigen das Meer als unbeherrschbaren Raum, der sich einer menschlichen Aneignung konsequent entziehe. Der Entzauberung des Meeres durch die Fortschritte der Technik setze Jule Verne letztlich den Mythos der unkontrollierbar gefahrvollen Natur gegenüber. Moderne und Mythos, Fortschritt und Zerstörung, Utopie und Antiutopie gehen im Roman somit Hand in Hand. Die Relativierung der Fortschrittseuphorie interpretiert Tschacher überzeugend als moralische Belehrung zum Erhalt von Religion und Ordnung. Schilling stellt das Meer in ähnlicher Weise ins Zentrum seiner Abhandlung, indem er es nach Bruno Latour als Aktant konzipiert. Anhand der ersten deutschen Antarktisexpedition (1901–1903) kann Schilling dem Meer in verschiedenen Prozessen eindrucksvoll Handlungsmacht nachweisen: Als imaginierte Landschaft, als Forschungsumwelt und als unberechenbare Natur sehen sich die Zeitgenossen den Herausforderungen und dem Eigenleben des Meeres unterworfen. Wie schon bei Jules Verne setzt das Meer den menschlichen Handlungsmöglichkeiten enge Grenzen. Schließlich aber überzeugt Schillings wissenschaftshistorische Studie deshalb, weil sie nicht nur die Akteursqualität des Meeres allein, sondern das gleichsame Zusammenspiel sowohl menschlicher, technischer als auch natürlicher Akteure für diesen Untersuchungsgegenstand plausibel darlegt.

Die Frage vom Anfang, welche historische Bedeutung den Meeren zuzuschreiben ist, bleibt angesichts der Weitläufigkeit der Beiträge schließlich unbeantwortet. Aber das muss auch nicht die Aufgabe eines Sammelbandes sein, der sich erst einmal als Aufbruch in ein neues Forschungsfeld versteht und dem damit das Verdienst gebührt, diesem zentralen Thema größere Aufmerksamkeit zu verschaffen. Allerdings hätte der Band präziser Aufschluss darüber geben können, wie letztlich die „Lieblingsräume der Globalhistoriker“6, wie Jürgen Osterhammel die Meere einmal nannte, zu einem neuen, anderen oder vielleicht sogar besseren Verständnis des „langen“ 19. Jahrhunderts beitragen. So bleibt am Ende die Lektüre vieler spannender Geschichten ohne festen Rahmen und zugleich die Erkenntnis aus dem eingangs zitierten Satz von Richarda Huch, dass die Meere nicht allein Geschichte haben, sondern vielmehr Geschichte sind.

Anmerkungen:
1 Ricarda Huch, Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren, Stuttgart 1922, S. 5.
2 Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Fernand Braudel, der das Mittelmeer als historischen Akteur ins Zentrum seiner Untersuchungen stellte, jedoch auch die dahinterliegenden Hafenstädte und Landmassen weitflächig einschloss. Vgl. Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II, Paris 1949; ders. / Georges Duby / Maurice Aymard, La Méditerranée. Arts et métiers graphiques, Paris 1977.
3 Reinhart Koselleck, Raum und Geschichte, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 78–96.
4 „Maritime scholarship seems to have burst its bounds; across the discipline, the sea is swinging into view.“ Kären Wigen, Oceans of History. Introduction, in: AHR 111 (2006), S. 717–721, hier S. 717. Zuletzt im deutschsprachigen Raum: die Konferenz „Europa, das Meer und die Welt. Akteure, Agenten, Abenteurer“ (07./08.11.2014) im Deutschen Historischen Museum Berlin, Tagungsbericht unter: <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5784> (25.02.2015).
5 So auch: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 157.
6 Ebd.