Cover
Titel
Die versöhnten Bürger. Der Zweite Weltkrieg in deutsch-niederländischen Begegnungen 1945–2000


Autor(en)
Gundermann, Christine
Reihe
Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart – Deutschland und die Niederlande im Vergleich 13
Erschienen
Münster 2014: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
470 S., mit zahlr. Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hein Hoebink, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf / Lehreinheit Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Wer Christine Gundermanns 470 Seiten starkes Buch (mit 418 Seiten Text) nach der Lektüre beiseitelegt, wird beeindruckt sein von dem detaillierten Überblick zur deutsch-niederländischen Nachkriegsgeschichte, den die Autorin liefert. Er basiert auf einer umfänglichen Ermittlung schriftlicher Quellen in zahlreichen Archiven (nicht zuletzt auch in einer ganzen Reihe von regionalen und kommunalen Archiven), der Sichtung und Auswertung von Zeitschriften und Zeitungen, orientierenden Gesprächen mit insgesamt 15 deutschen und niederländischen Interviewpartnern, der Auswertung von 21 aufgeführten „digitalen Quellen“ sowie einer offensichtlich intensiven Berücksichtigung eigener Fotos oder auch von „bedeutenden niederländischen Fernsehproduktionen und Radiosendungen“ (S. 25). Darüber hinaus wurde der aktuelle Forschungsstand minutiös ermittelt, so dass es erlaubt ist, von einer gründlich und überzeugend recherchierten Pilotstudie zu sprechen.

Auf der anderen Seite mag der Leser aber auch erschlagen sein von dem Einfallsreichtum, der Formulierungslust und dem breit angelegten, facettenreichen Fragehorizont, mit dem die Autorin ihre erhellenden Interpretationen betreibt, ohne dabei Redundanzen aus dem Wege zu gehen und einem durchgängigen roten Faden zu folgen, wie er sich zum Beispiel handlungsorientiert aus der Suche nach einer inneren Befriedung der deutschen wie der niederländischen Gesellschaft 1945–2000 entwickeln ließe.

Gundermann bietet mit ihrer an der Freien Universität Berlin vorgelegten Dissertation themenbezogen eine beachtenswerte wissenschaftliche Information und eine stets diskutable Reflexion, deren Ergebnisse man freilich nicht in allen Punkten teilen muss. War es in den 1950er-Jahren zum Beispiel wirklich zwingend („mussten“), auf Rotterdamer Seite „Kölner“ allgemein als „potentielle deutsche Täter“ zu sehen (S. 81)? Gehörte zur „Idee eines geeinten Europas im Sinne der EWG“ fraglos schon der „Abbau [!] von Grenzen“ (S. 149)? Reichte die in den Gemeinden Ladelund und Putten grenzüberschreitend organisierte „Versöhnung als zivilgesellschaftliches Ethos“ uneingeschränkt zur „Anerkennung der Gleichheit des Anderen“ (S. 325) – oder eher zur Anerkennung der Gleichwertigkeit? Weitere Fragen ähnlicher Art ließen sich beifügen, können aber nicht den Blick auf eine wissenschaftlich wertzuschätzende Darlegung verstellen, deren dichter Duktus die Lektüre indes anspruchsvoll macht – was von der Sache her durchaus gerechtfertigt erscheint.

In den Mittelpunkt ihrer Analyse hat die Autorin vier Fragen gestellt: Da ist zunächst einmal die Frage nach den Kriegserinnerungen deutscher und niederländischer Bürgerinnen und Bürger, die diese bei ihren Begegnungen nach 1945 austauschten. Da ist zum anderen die Frage nach der Bedeutung, die den nationalsozialistischen Verbrechen als einem „historischen Bezugsereignis“ beigemessen wurde. Da steht zum dritten die Frage im Raum, inwieweit „Phasen einer deutsch-niederländischen zivilgesellschaftlichen Erinnerungskultur“ zu identifizieren seien und inwieweit sie gegebenenfalls mit Phasen „nationalstaatlicher Geschichtskulturen“ konform gingen. Schließlich stellt sich für Gundermann die Frage, ob aus der Zivilgesellschaft Antriebe zur „Erinnerungstransformation“ erwuchsen, „die auf außenpolitischer Ebene verschlossen oder tabuisiert waren“ (alle Zitate auf S. 13).

Ihre ins Einzelne gehenden, spannenden und originellen Antworten auf die gestellten Fragen unterbreitet die Autorin im Wesentlichen gut erläutert (vgl. S. 14–29). Sie gibt eine prägnante geschichtswissenschaftliche Einführung in die deutsch-niederländische Zeitgeschichte mit ihren Wandlungen, für die drei Phasen zu unterscheiden seien (1945 bis 1960, 1960 bis ca. 1980, 1980 bis 2000; vgl. S. 30–55). Vertieft wird dies in verschiedenen Detailstudien, die Gundermann „Mikrostudien“ nennt. In ihnen geht es um „Begegnungen auf kommunaler Ebene“ (S. 56–179) in den Partnerstädten Köln und Rotterdam sowie in den „freundnachbarlich“ (S. 131, S. 136) verbundenen Hafenstädten Rotterdam und Duisburg.

Während die „Interessengemeinschaft“ (S. 124) Duisburg – Rotterdam maßgeblich ökonomisch bestimmt wurde und der Zweite Weltkrieg als „Akteur-lose Katastrophe“ (S. 129) im Verhältnis dieser Städte zueinander „oftmals die Funktion eines retardierenden Momentes“ einnahm (S. 125), suchte Köln eine „gemeinsame Geschichte der Zerstörung“ (S. 131) zu schreiben, in der auf beiden Seiten der Opfer zu gedenken sei (S. 71). In den Rotterdamer Erinnerungen spielten das von „nationalen Deutungsmustern“ (S. 64) gekennzeichnete „dodenherdenking“ sowie die „bevrijding“ eine tonangebende Rolle, von 1947 bis mindestens 1966 auch der Stolz auf eine eigene Aufbauleistung (vgl. S. 64). „Die Überwindung des Leids und nicht die Zerstörung an sich bildeten […] das Zentrum der lokalen Kriegserinnerungen.“ (ebd.) Unter diesen Voraussetzungen konnte sich Rotterdam seit den 1980er-Jahren auf ein Bemühen um gemeinsame Gedenkveranstaltungen einlassen. Bei allen solchen Veranstaltungen wurde die „Geschichte der Shoah“ (S. 177) nur marginal berücksichtigt, während ein Einfluss wachsender Europäisierung auch des kommunalen Raumes und der dort gepflegten Kriegserinnerungen zu verzeichnen war.

Einen bemerkenswerten Akzent setzt Gundermann bei ihrer Analyse kommunaler Erinnerungskulturen in der Bundesrepublik und den Niederlanden, indem sie auch einem „anderen Blick“ Beachtung schenkt und „Feminisierungstendenzen“ (S. 76) aufgreift, also offenlegt, dass Erinnerungsphänomene mit geschlechtlichen Attributen belegt wurden, so dass sich etwa auch in (Kölner) „Denkmalen, die spezifischen Opfergruppen gewidmet werden, […] Formen der Feminisierung finden“ lassen (S. 75). Zudem schenkt die Verfasserin im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit deutsch-niederländischen Begegnungen 1945–2000 Tendenzen der Sakralisierung (vgl. S. 75) Aufmerksamkeit, also der „Deutung eines gewaltsamen, unfreiwilligen Todes als Teil einer Heilsgeschichte“ (S. 27).

Unter dem Rubrum „Christliche Begegnungen“ (S. 180–330) schildert Gundermann Kontakte, an denen Pfarrer und Angehörige einer protestantischen Kirche beteiligt waren, nicht zuletzt aber auch die Aktion Sühnezeichen (AS, ab 1968: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, ASF), denen es um eine Versöhnung im christlichen Sinn, um eine Versöhnung nach Maßgabe eines göttlichen Auftrages, zu tun war. Es ging der AS/ASF wie der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde zu Berlin um ein Brückenbauen (S. 206) mit dem Ziel einer Versöhnung, im Laufe der Jahre mehr und mehr auch unter der Voraussetzung kritisch prüfender Auseinandersetzungen mit der deutschen Invasion der Niederlande (S. 248).

Von christlicher Gesinnung getragen waren zudem die Erinnerungen, die die von nationalsozialistischem Unrecht heimgesuchte niederländische Gemeinde Putten und die norddeutsche Gemeinde Ladelund miteinander austauschten. In Ladelund war 1944 ein Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme errichtet worden, und in dieses Lager waren mehrere Hundert Puttener Männer deportiert worden (vgl. S. 251f.). Die Puttener und Ladelunder setzten sich nach 1945 für eine Versöhnung zwischen den Völkern als „Versöhnung mit Gott“ ein (S. 323), seit dem Ende des Kalten Krieges dann mit einer kosmopolitischen Konnotation (vgl. S. 324). Dabei umfasste das Bemühen um eine von „verschiedensten Konzepten“ getragene, „oftmals als normatives Optimum zivilgesellschaftlicher Begegnungen“ herausgestellte Versöhnung (S. 28) die Erinnerung an die Opfer, aber wegen einer nicht untypischen „nur äußerst begrenzten“ Auseinandersetzung „mit der deutschen Tätergeschichte“ (S. 325) auf Seiten der Ladelunder zumindest indirekt auch die Erinnerung an die Täter.

Gundermann beschließt ihr Ensemble von Fallstudien, die immer wieder auch die Aspekte der Feminisierung und Sakralisierung im oben angegebenen Sinn hervorheben, mit Darlegungen über „Deutsch-Niederländische Erinnerungsorte“ (S. 331–413), das heißt im Konkreten: mit Kapiteln über den deutschen Soldatenfriedhof Ysselsteyn bei Venray sowie über „Anne Frank“, vorgeblich einem universellen Erinnerungsort, der erst durch die Veröffentlichung des von Anne Frank verfassten Tagebuchs sowie dessen vielfache mediale Aufbereitungen entstanden ist (vgl. S. 331).1

In ihren „Schlussbetrachtungen“ (S. 414–429) hält die Autorin noch einmal fest, dass die eigenständigen regionalen und lokalen Angebote zu einem gewaltfreien Miteinander und zur Konfliktvermeidung auch neben nationalstaatlichen Bestrebungen ihre eigene Beachtung und Wertschätzung verdienten. Sie seien gekennzeichnet gewesen von einer wachsenden Offenheit für eine differenzierte, schonungslose Auseinandersetzung mit deutschen Besatzern und niederländischen Opfern, mit Tätern und Opfern jeder Nationalität (ohne deshalb die besondere Täterschaft von Deutschen zu leugnen), und sie könnten, neueren Entwicklungen folgend, im europäischen Geist schlussendlich einmünden in eine „zivile Ebenbürtigkeit“– nicht zuletzt auch mit nationalstaatlicher Relevanz (S. 415). Anders gesagt: Die regionalen und lokalen Angebote könnten eine Gleichrangigkeit von Bürgerinnen und Bürgern mit unterschiedlichen Erinnerungskulturen ermöglichen, die sich erst aus einer Versöhnung und aus der Überwindung „einer stereotypen Frontstellung zwischen den ‚hassenden Holländern‘ und den unwissenden und unsensiblen ‚moffen‘“ (S. 415) ergibt.

Die von Christine Gundermann thematisierten „versöhnten Bürger“ haben jeweils für sich die im Buch differenziert beschriebenen unterschiedlichen Erinnerungskulturen beibehalten, aber doch gelernt, nicht zuletzt auch auf der neu ins Licht gerückten kommunalen und regionalen Ebene gut miteinander auszukommen. Dazu beigetragen haben ihr pragmatischer Sinn, ihr wachsender Abstand zum Ende des Zweiten Weltkrieges (ohne deshalb die Besatzungszeit – beschönigend?2 – als „moralischen Anker“3 zu vergessen) und wenigstens streckenweise auch eine Orientierung auf eine gemeinsame europäische Zukunft.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu jüngst Peter Seibert / Jana Piper / Alfonso Meoli (Hrsg.), Anne Frank: Mediengeschichten, Berlin 2014.
2 Vgl. dazu den gesamten Beitrag von Krijn Thijs, Niederlande – Schwarz, Weiß, Grau. Zeithistorische Debatten seit 2000, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.06.2011, <http://docupedia.de/zg/Niederlande-_Schwarz_Weiss_Grau> (19.03.2015).
3 Ebd., zweiter Textabsatz.